Dem Schleier so nah
#4
Eventuell FSK16 - Teils entmenschlichende Darstellung von Toten Körpern



Ein Schauer der Erregung überkommt ihn als seine Rechte tief in den morschen Klumpen leblosen Fleisches zu seinen Füßen stößt.

Die Tage zuvor hatte er geschickt mit seinem Dolch freigelegt was zu erkunden ihm der Körper bot, hatte drangiert, zerlegt, hatte vorsichtig um die Knochen herum geschnitten. Mit unendlicher Ruhe in den sonst oft so zittrigen Händen hatte er Sehnen durchtrennt die Funktionsweise von Gelenken erforscht und Haut abgeschält wo auch immer er vermochte.

Doch als er am heutigen Abend, nach Einbruch der Dämmerung vor die Tore der Stadt hinausgeschlichen war, vorbei am Tumult und Trubel der Lebenden, bis hinein in die kleine, feuchte Höhle in welche er den Korpus unter Aufbietung all seiner Kräfte gezerrt hatte, waren ihm sofort die deutlichen Zeichen aufgefallen. Der unausweichliche Verfall hatte begonnen. Wo gestern die fahle, blutleere Haut noch straff über der erschlafften Muskulatur gespannt hatte, so hing sie heute nur noch schwammig herab. die Augen, in denen noch vor kurzem der Wahnsinn in Grün geschrieben stand waren nun eingetrübt, jegliche Farbe einem milchigem Brei gewichen und die ruhige Totenmaske des Mannes hatte sich zu einer hämisch grinsenden verzerrt. Und dann war da natürlich noch der Geruch. Jener süße, köstliche Geruch der Verwesung den er gierig einsog, nicht des Gestankes wegen, sondern da er in ihm stets ein Gefühl von tiefster Vertrautheit erweckte.

Jetzt, da die Starre aus jedem der Glieder gewichen und der Leichnam schwammig weich ist wie überreifes Obst schneidet er nicht mehr. Er gräbt. Er wühlt mit bloßen Händen in den Innereien. Erst zaghaft, doch binnen kürzester Zeit deutlich mutiger bahnen sich seine dürren Finger ihren Weg durch die grotesk verzerrte und angeschwollene Anatomie des toten Banditen, suchend, jede neue Erkenntnis zärtlich umspielend.

Es hatte ihm einige Überwindung gekostet einen Toten derart zu entehren, und er hätte es wohl nicht übers Herz gebracht, hätte er den Mann der nun mit geöffnetem Brustkorb und halb abgeschälten Gliedmaßen vor ihm lag nicht kennen gelernt.

Er war ihm bei einem seiner Streifzüge außerhalb der Stadtmauern ohne klares Ziel begegnet. Nun, begegnet war vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Vielmehr war er, begleitet von einer wüsten Flut aus Beschimpfungen von einem ihm unbekannten nackten Mann angegriffen worden als er mitten im Wald nach einem Abschneider zu den Höfen gesucht hatte. Ein Stein war ohne Vorwarnung nur eine Hand breit an seinem Ohr vorbeigesegelt und Gellert hatte rein aus Gewohnheit sofort die Flucht ergriffen und war gerannt so schnell ihn seine Beine zu tragen vermochten und dennoch war es ihm einfach nicht gelungen den Irren im dichten Unterholz abzuhängen. Bei den etwas nüchternen Betrachtungen die er im Nachhinein angestellt hatte war er zu dem Entschluss gelangt, dass es wohl dem reinen Instinkt zu überleben zuzuschreiben war, dass er ohne bewusst nachzudenken den Mann vor seinen Augen in Flammen gesehen und eine Formel intoniert hatte.

Er war erschrocken und erstaunt zugleich als der Angreifer binnen eines Wimpernschlages zu Boden gegangen war, der größte Teil des Halses weggerissen und die verbliebenen Überreste des Nackens schwarz verkohlt und dampfend. Verstört und verängstigt hatte er schnell etwas Geäst zusammengesammelt und sein Opfer im Gehölz verborgen. Nicht in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen war er Nordwärts getaumelt, heraus aus dem Wald und hinein in ein freundliches, vertrautes Gesicht, welches ihn vom Rücken eines Pferdes aus angelächelt hatte.
Die Dame war erneut nett zu ihm gewesen, was ihm zwar tief im Inneren gefiel, aber immer noch Misstrauen weckte, kannte er doch solch undistanziertes Verhalten einfach nicht, war es nicht gewohnt mit offener Freundlichkeit empfangen zu werden. Aufgewühlt hatte er ihr ohne zu überlegen erzählt was vorgefallen war und war dafür, sehr zu seinem Erstaunen, auf Akzeptanz und Zustimmung gestoßen anstelle von Zurückweisung und Furcht. Die beinahe beiläufige Art wie sie davon sprach dass es Gang und Gebe wäre jemanden das Leben zu nehmen faszinierte und ängstigte ihn gleichermaßen.
Sie hatten noch so einiges an diesem Tage unternommen, doch als die gnädige Nacht ihren wunderschönen Schatten auf Amhran niederfahren ließ hatte er seinen Entschluss gefasst gehabt.

Jegliches Licht der Sonne war erstorben nur um am nächsten Morgen wieder in neuem Glanz aufzuerstehen und der kühle Wind umspielte zärtlich seine blassen Wangen als er im fahlen Licht des zunehmenden Mondes die Äste beiseitegeschoben und den entblößten Körper des Mannes freilegte. Es war kein sonderlich kräftiger Kerl gewesen und auch nicht ausgefressen wie die meisten Städter es waren, und doch kostete es Gellert den guten Teil der Nacht den schlaffen Leichnam bis hin zu einer kleinen natürlichen Höhle zu schleifen, die dem Geruch nach zu urteilen noch im Winter einem Tier als Unterschlupf gedient hatte. Aber es gelang ihm. Der Meister hatte wohl recht gehabt. Das hier war Knochenarbeit und er war froh in letzter Zeit genug Nahrung zu sich genommen zu hab en um diesen Kraftakt vollbringen zu können.

Jetzt ist Gellert in seinem Element. Der Schein einer ölgetränkten Fackel erhellt die feuchten Steinwände der Felsgrotte und lässt freche Schattenfiguren über sein, in oranges Licht getränktes, Gesicht tanzen als er Mal um Mal Brocken toten Fleisches zur Seite schiebt um tiefer in die Geheimnisse des Todes vorstoßen zu können. Seine feingliedrigen Finger und Hände bis hin zu den Ellenbogen sind schwarz ob des fauligen Blutes daran, doch mit klaren Augen und konzentriertem Blick lässt er nicht von dem Toten ab. Als draußen die ersten Strahlen der Sonne mit zärtlicher Berührung den Morgen erwecken blickt Gellert vor sich hinab in den Pfuhl aus Blut und Gedärm aus welchem noch weiße Rippen wie Mahnmäler alter Götter aufragen und stellt fest das die Überreste kaum noch menschliche Züge aufweisen. Sein Blick ist dabei weder entrückt, noch begeistert. Er ist nicht voller Eifer oder Wahn. Einzig und allein der Funke einer sich anbahnenden Gewissheit liegt darin.

Und dann plötzlich, wie aus dem Nichts zieht ein Sturm in seinem Geiste herauf. Kein sanftes Lüftchen, das stets mit den lauen Sommergewittern einher schwingt, und auch keine tosende Windhose. Nein, dies ist dieser alles verzehrende Eiswind, wie ihn nur jene kennen, die tief im Norden leben. Ein schneidender, bösartiger Wind, der einem, wenn man nicht Acht gibt das Fleisch von den Knochen fetzt. Dieser Wind kommt stets plötzlich, ohne Vorwarnung, und seine Böen reißen die Spindeln von den Dächern und ersticken jedes Leben, so als wollen sie den Trotz der Menschen gegen Schnee und Eis selbst verhöhnen.
Und mit diesem Sturm kommt die wahre Erkenntnis. Unerbittlich wie die See bricht sie über ihn herein, erstickt ihn und wirbelt seinen Geist umher wie ein Stück Holz in den tosenden Fluten eines Sturzbaches nach der Schneeschmelze. Jetzt weiß er, dass was er am heutigen Tag gelernt hat nichts mit dem Tod zu tun hat, sondern mit dem Leben. Seinem Leben.

An diesem Abend trinkt Gellert zum allerersten Mal ein Glas Apfelwein in der Biberschenke und seine Hände zittern dabei wie die eines nervösen Kindes. Sein Blick schweift von den sorgenvollen Zügen der Besitzerin in deren Augen dieser traurige, sehnsüchtige Glanz der Vergangenheit schlummert zu der adretten Dame die mit ihren, wohl nach allgemein gültiger Auffassung, hübschen Lippen stets kokett lächelt doch dabei stets ein wenig verloren an diesem Ort wirkt bis hinüber zum völlig haarlosen Kopf seines Kommilitonen, der mit breitem Grinsen und gefährlich intelligenten Augen seinerseits die Anwesenden beschaut.
Und zum ersten Mal fühlt er sich unter so vielen Fremden nicht wirklich fremd, denn er erkennt, dass jeder von Ihnen auf seine eigene Art und Weise für irgendjemanden ein Außenseiter ist, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat und das jeder von ihnen damit zurechtkommen muss.

Er erkennt, dass er nicht alleine ist in dieser Welt.

Als er sich in dieser Nacht auf dem kalten Steinsarkophagus zusammenrollt und seinem knöchernen Freund offenbart, dass er seine Bestimmung gefunden hat, tut er das mit Ruhe und Frieden im Gesicht.


Er spricht davon den Tod auf jede nur erdenkliche Weise studieren zu wollen und der Schädel schweigt.

Er spricht davon, dass er sich den Lebenden nicht länger verschließen darf wenn er den Tod begreifen wolle und der Schädel sagt kein Wort dazu.

Er spricht weiter bis er einschläft und der Schädel grinst dabei wissend.

Die ganze Nacht wacht er über Gellert der kein einziges Mal im Schlaf schreit oder weint.
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Dem Schleier so nah - von Gellert Seelenbruch - 23.03.2017, 22:55
RE: Dem Schleier so nah - von Gellert Seelenbruch - 15.04.2017, 22:21



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