Dem Schleier so nah
#1
„Wir kommen aus dem Schleier…“

Gellerts Stimme war brüchig, sein Atem ging stoßweise. Immer noch gegen die Säule im Keller der Akademie gestützt wollte es ihm einfach nicht gelingen sich zu beruhigen. Obwohl bereits ein voller Stundengang verstrichen war ehe alle anderen den Raum verlassen hatten zitterte er immer noch am ganzen Leib und kalter Schweiß rann in einem steten Rinnsal seine Wirbelsäule hinab.
Zu seiner Linken deuteten lediglich noch einige vereinzelte Wachstropfen auf dem kalten Steinboden von der vorangegangenen Versammlung. Immer noch konnte er die knisternde Anspannung die in der stickig schwülen Luft hing körperlich spüren. Sie war wie eine unsichtbare Wolke die ihm die Haare zu Berge stehen ließ und ihm die Luft zum Atmen nahm.

Sein getrübter Blick wanderte rastlos herum ehe er schließlich an einem der hölzernen Regale an der Westseite hängen blieb. Die Fächer quollen vor in uralte Wälzer gebundenem Wissen, welches nur darauf zu warten schien den brüchigen Seiten entrissen zu werden über. Und doch schienen ihn die kunstvollen Einbände auszulachen, wirkten beinahe höhnisch ob der von ihnen gehüteten Geheimnisse.

„… in den Schleier gehen wir.“

Er konnte es fühlen, bereits bevor die Situation zu entgleisen drohte. Es waren stets dieselben Anzeichen. Alles begann mit diesem trockenen, kupfernen Geschmack der sich wie Honig um seine Zunge legte. Es war als sondere der menschliche Körper irgendetwas ab wenn er kurz davor stand die Fassung zu verlieren. Gellert konnte das schmecken. Jahre der Ächtung und der Angst hatten ihn sensibilisiert. Zu oft war er bereits darauf angewiesen gewesen solchen Situationen zu entfliehen noch ehe es wirklich brenzlig geworden war. Darauf folgte ein starkes Gefühl des Unwohlseins, eine dumpfe Leere in der Leibesmitte die seine Eingeweide umklammerte wie die Kralle eine Harpyie.
Als schlussendlich die Emotionen hochkochten und das Stimmengewirr zu einem schrillen Dröhnen in seinem Kopf anschwoll hatte er getan was er immer tat wenn es zu spät war. Er war verstummt und hatte sich auf Prügel eingestellt. Das erwartungsvolle Jucken seiner zahllosen vernarbten Striemen und Brandzeichen das ihn wie ein alter aber grausamer Freund überkam verdeutlichte ihm einmal mehr wie sehr andauernde Demütigung und Schmerz sein bisheriges Leben geprägt hatten.

Aber das hier war nicht Mutter Agnes Haus in Lilienbruch wo jeder noch so kleine Fehltritt und jeder Zweifel mit Gürtel und glühendem Schürhaken geahndet wurde. Hier hatte man ihn sogar so lange außen vor gelassen, dass er sich überwunden und höchst erfolglos versucht hatte zu schlichten.
Alles war dieser Orts schwarz oder es war weiß. Gellert, der seit den Tagen seiner wenig unbeschwerten Kindheit versucht hatte das Denken in solchen Mustern hinter sich zu lassen würde diese Umstellung schwer fallen.
Und da waren natürlich auch noch die vielen Menschen. Er war mit den Lebenden nie besonders gut klar gekommen, hatte stets die Abgeschiedenheit oder lieber noch, die Nähe der Toten gesucht. Jene die tot waren verurteilten nicht, sie verstanden. In ihrer Nähe hatte Gellert stets die Gelassenheit gefunden die ihm im weltlichen Treiben verwehrt blieb.

Er wusste was er tun musste. Als die Tore der Akademie hinter ihm in die Angeln fielen hatte sich tiefschwarze Nacht über Amhran gelegt. Obschon es Gellert immer besser gelang seine Persönlichkeit hinter eine Maske aus Höflichkeit und guten Manieren zu verbergen hatte ihm der emotionale Stress der heutigen Konfrontation zu sehr zugesetzt als dass er sie noch hätte viel länger aufrechterhalten können.

Immer schneller trugen ihn seine Beine ostwärts, weg vom Marktplatz, vorbei an den Fenstern des stürmenden Löwen aus denen immer noch Lärm und Licht hinaus auf die Straße drangen und die wundervolle Stille der Nacht grässlich jäh unterbrachen. Je weiter er sich vom Trubel des Stadtzentrums entfernte, desto rarer wurden die von Menschen verursachten Geräusche. Als er am Armenviertel vorübereilte zerriss lediglich das wütende Fauchen einer aufgeschreckten Straßenkatze den tonlosen Frieden und jenseits des ersten Stadttores war außer dem sanften Widerhall seiner Schritte auf dem Kopfsteinpflaster rein gar nichts mehr zu hören.
Erst als das gewaltige Steintor des Beinhofes zu seiner Linken erkennbar wurde drosselte er seinen Schritt.

„Mithras Licht wacht über die Verstorbenen“ sagte er leise, mehr zu sich selbst.
Er verharrte und sog die kühle Nachtluft gierig ein, erlaubte ihr seine Lungen fluten, ließ sich von ihr davontragen. Erde. Moos. Ein sanfter Hauch von Weihrauch und Ölen und natürlich Zedernharz. Sanfte Vorfreude ließ seinen Köper bis ins Mark erbeben ehe er den Steinbogen durchschritt und schnurstracks tiefer in den Friedhof eindrang. Wie in Trance hastete er bis ans nördliche Ende des Totenackers und schlüpfte durch die Pforte einer kleinen Kapelle.

Die Räucherschale benebelte seine Sinne und der Schein der Kerzenständer ließ flackernde Schatten über die Wände tanzen während gestrenge Männer und Frauen aus grauer Vorzeit von den Bleiglasfenstern mahnend herabblickten.
Sein Weg führte ihn die Treppe hinab in eine Kleine Krypta. Sie war nicht wie die anderen gesäumt von Stellagen und Wandsärgen, in ihr trotzten lediglich vier steinerne Sarkophage dem Zerfall. Auf dem ersten prangte martialisch ein Schwert, zwei weitere waren übereinander am hinteren Ende an die Wand geschlichtet. Es war vom ersten Tag an der Zweite gewesen der sein Interesse geweckt hatte. Auf ihm befanden sich bloß eine undeutbare steinerne Ornamentik und ein menschlicher Schädel. Kein Name zeichnete das Grab.

Gellert setzte sich erst vorsichtig auf die Kante des Steinsarges ehe er die Beine hochzog und sich seitlich darauflegte, sein Haupt nur einen Fuß von der grinsenden Grimasse des Totenkopfes entfernt.
Als er begann dem Schädel zu erzählen was am heutigen Tag geschehen war fiel nach und nach die stumpfe Anspannung von ihm ab und begann langsam wieder seinen Körper zu fühlen. Er spürte den nagenden Hunger, jede Faser seines Körpers schien nach Nahrung zu schreien, doch er verweigerte sie ihr. Noch. Schon früh hatte er bemerkt dass der tagelange Entzug von Essen, diese ultimative Askese ihn nah an die Schwelle des Todes brachte, manchmal sogar gefährlich nah. Doch das Risiko lohnte. Halb verhungert und ausgezehrt war er dem Schleier so nah, dass er beinahe das Gefühl hatte hindurchblicken zu können. Er hatte seinem Schädelfreund davon erzählt. Dieser hatte geschwiegen. Zugehört. Nicht geurteilt. Niemals.

Gellert wusste nicht wie viel Zeit verstrichen war, den die Zeit war ein obskures Konstrukt und an Orten des Todes schien sie sich anders zu verhalten zumindest für ihn. Augenblicke konnten sich zu einem vollen Stundenlauf ziehen, ein halber Tag wie Wimpernschlag vergehen. Wichtig war nur, dass er endlich den Ort seiner inneren Ruhe wiedergefunden hatte und Gelassenheit wieder seinen Geist erfüllte. Er war sich heute wie ein Saatkorn unter einem Stein vorgekommen, unwissend. Unfähig sein ganzes Potential zu entfalten. Erdrückt von dem Gewicht der Last über ihm. Ohne das Eingreifen und die Pflege eines Behüters würde er welken ohne jemals geblüht zu haben. Er musste jemanden finden der ihn unter seine Fittiche nahm, jemanden dem er vertrauen, dem gegenüber er sich öffnen konnte. Jemanden der verstand.
Im Schein der Kerzen verschwammen die bemüht schön gehaltenen Lettern zu einer Masse aus dunklen Schatten auf dem Stück Pergament das er sich vom Munde abgespart hatte. Es war kein großer Bogen, nichts Auffälliges aber von guter Qualität. Immer noch hing der Duft von Waldbeeren die er in derselben Tasche aufbewahrt hatte daran. Mit fiebriger Mine schrieb Gellert an seinem Aushang den er bei nächster Gelegenheit an die Wand im Speisesaal der Akademie anbringen würde. Als er zum Ende gekommen war versuchte noch ein letztes Mal die Worte die sich in der letzten Stunde in seinem Geist geformt hatten zu lesen, doch blieb er stets beim selben Wortlaut hängen. „Unter Aufbietung all der mir zur Verfügung stehenden Kraft und Mittel, sei es in weltlichen oder jedweden anderen Belangen… Mentor gesucht!“



Er hatte den Schädel gefragt ob das eine gute Idee wäre.
Der Schädel hatte geschwiegen.
Er sprach nicht.
Nicht ein einziges Wort.
Niemals.
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Dem Schleier so nah - von Gellert Seelenbruch - 23.03.2017, 22:55



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