Die Nacht zieht auf
#8
Wäre alles mit rechten Dingen zugegangen, hätte der Streitkolben des Mithrasdieners sie mühelos wegfegen sollen. Wäre alles mit rechten Dingen zugegangen, hätte man dieses Aufeinandertreffen nicht als Kampf bezeichnen dürfen. Wäre alles mit rechten Dingen zugegangen, hätte die spindeldürre Vatin nicht anders enden sollen als die zahllosen anderen Mondwächter, die weitere namenlose, gleichförmige Striche auf der unsichtbaren Liste der bereits von dem Sonnenkrieger Besiegten bildeten. Von ihnen blieb nichts als ein letzter Aufschrei übrig, vielleicht ein verdutztes Blinzeln vor dem Ende.

Es ging nicht mit rechten Dingen zu.

Zorn erfüllt das Herz der Vatin, entfesselt von Morrigú, eine unkontrollierbare Springflut, ein aufgepeitschtes Wogen, ein wildes, grollendes Meer, das mit Haut und Haar zu verschlingen droht, was sich nicht in Sicherheit bringt. Kaum wäre sie überrascht gewesen, wenn die eigene Haut, diese schlichte, empfindliche Hülle, die sie umfing, geplatzt wäre unter dem unerbittlichen Ansturm der göttlichen Macht, die jeden Winkel des schmalen Körpers für sich beansprucht und keinen Platz mehr lässt für schwache Gefühle, für Zaudern oder Zagen. Diesen brausenden höheren Mächten ausgesetzt zu sein, ist ein schmaler, tückischer Ritt in einer zerbrechlichen Nussschale, bei dem man nur ein einziges, nutzloses Paddel zur Verfügung hat, und sie spürt es wohl. Was ist ein Menschenkörper schon, wenn die Macht der Götter durch ihn tobt? Erwischt das Boot die nächste Welle nicht, erwartet das Tosen den Ruderer, der gierige Abyss, der in die Tiefe reißen will und sich nicht schert, wen er hinabreißt in das ewige Dunkel – den Feind oder den, der ihn zu bezwingen sucht. Was tut der kluge Ruderer? Er lässt den vergeblichen Versuch, das Meer bezwingen zu wollen, sein, und legt sich gleichmütig auf den Boden seines Schiffchens. Er klammert sich mit allem was er hat an die Planken und lässt das Meer ungehemmt wüten, ganz wie es will. Der weise Seefahrer begrüßt das Chaos, lässt es walten, lässt sich von ihm in den Strudel ziehen und wehrt es nicht ab. Das Paddel lässt er in die aufgewühlte See gleiten, denn Navigation ist zur lächerlichen Illusion geworden. Wer will noch lenken, wenn nicht mehr zu sagen ist, wo oben anfängt und unten aufhört? Es kommt der Zeitpunkt, an dem man sich dem Willen der Götter unterwirft, weil die Alternative so gänzlich schal ist.

Was kann ein Menschenkörper schon leisten, alleingelassen im Maelstrom? Ohne die lenkenden Kräfte der Götter wäre sie nur ein unbedeutendes, krabbelndes Insekt gewesen auf diesem Totenacker, auf diesem Schlachtfeld.Mit ihnen ist sie etwas gänzlich anderes. Eine mitleidlose Richterin, die gekommen ist, das Urteil über diesen alptraumhaft riesigen Streiter, diese wandelnde Beleidigung, zu fällen, ihn zu verurteilen für seinen lachhaften Glauben an Asche, Sonne und Jugend. Und richten würde sie, für das Gleichgewicht auf der Welt, für das Pantheon. Der Riese ist eine schiere Schandschöpfung, ein Affront gegen die Götter selbst in seiner krankhaften Hingabe an den aschefressenden Gott, diesen frechen Emporkömmling, diesen kraftlosen Jungspund.

Im letzten Sprung streckt sie, ohne es recht gewahr zu sein, die Arme weit vor sich, richtet abwehrend die Handflächen gegen den goldenen Golem Mithras' und schleudert klare, strafende Worte hinaus, die auch Pfeile hätten sein können. Die vernichtenden Worte, die die Mächte der Götter rufen und seinen Urteilsspruch darstellen, kommen ihr leicht über die Lippen, rollen rund von der Zunge, als wären sie viel zu lange im Mund behalten worden als hätten sich danach gesehnt, endlich artikuliert zu werden. In der greifbaren, der traumlosen Welt gelingt es ihr mithilfe dieser Aneinanderreihungen von Lettern, angreifende Feinde zurückzudrängen, ihre Körper gegen die nächste Steinwand, den nächsten Baum zu schleudern. Der Wille, dieses irritierend kräftige Instrument des Sonnengottes in seine Schranken zu weisen, an seinen Platz zu verweisen und es zu bezwingen, wird übermächtig. Das Gold seiner Rüstung soll mit Schmutz beschmiert werden, das Strahlen des Panzers verblassen im Morast, das Gesicht demütig der Erde zugewandt sein, aufdass er die Sonne, Symbol seines Frevels, nicht mehr erblicken kann. All ihr Wollen liegt in dem überbordenden Wunsch, dem glänzenden Ungetüm den Boden unter den Füßen wegzuziehen und seine Schergen noch unter ihm zu begraben.
[Bild: Gwendolyn-Signatur.png]
Toast can never be bread again.
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