Die Nacht zieht auf
#1
Part I - Aufstieg

Der finsterste, der abgelegenste, der menschenverlassenste und gottbeseelteste Schrein musste es sein. Und wo wäre man Galates näher als am einsamsten Flecken Ravinsthals, dem Lehen, das eben erst wieder im Namen der Götter geweiht worden war, wo der Glaube an die 21 stärker denn je erblühte? Nicht einmal einen Mondlauf war es her, als Mondwächter aller Lehen zusammenkamen und den Göttern huldigten, dort unten, im Herzen Ravinsthals. Der Ort, den sie aufzusuchen gedachte, hatte mit einem Herz wenig gemein. Er war die äußerste Fingerspitze des Lehens, isoliert und exponiert.

Schon der Weg zum Schrein war ein Opfer für sich, jeder mühselige Schritt hinauf über den Hügel ein verbissener Beweis dafür, wie ernst es Gwendolyn Veltenbruch wirklich war. Die Schneedecke war unten auf der Straße noch leidlich zertrampelt gewesen, aber hier oben, auf diesem Hügel, dieser Halbinsel, die ins Winkelmeer hinausragte, suchte man diese Zeichen von Zivilisation, diese Spuren von Menschen aus Fleisch und Blut, vergebens. Es war ein menschenfeindlicher Ort, den Elementen völlig ausgeliefert, und darum geeignet. Der Weg wand sich über Trampelpfade langgezogen den Hügel hinauf – Trampelpfade, die schon im Sommer gerade schmal genug für Rehe waren. Jetzt im Winter war es das Gedächtnis der Kräuterkundigen, das sich mit der Zeit die auffälligsten Bäume und Steine einprägt, das ihr half, überhaupt bis an die Spitze zu finden.

Längst waren ihre Füße durchweicht, da halfen auch keine dicken Wollwickel und Stiefel. Die Schneedecke war einen Schritt tief und sie schob sich eher vorwärts wie eine unbeirrbare, dick eingepackte, schwarze Walze, als dass man guten Gewissens sagen hätte können, sie ging den Weg hinauf. Aus der Ferne betrachtet ähnelte sie einem buckligen Kräuterweiblein, das auf der Suche nach abfallendem Geäst im Wald herumkreucht und schon von sich aus einen gebückten Gang eingenommen hat, weil es die Last im Rücken so gewohnt ist. Die Hände, verborgen in Lammfell, hielten die ledernen Gurte fest, die ihrerseits an einem Korb mit schwerem Weidengeflecht befestigt waren. Geduckt arbeitete die Vatin sich voran, die schwere Last auf ihrem Rücken tragend, sich dem Wind und den Naturgewalten entgegenstemmend.

Die Sonne senkte sich langsam ab. Und mit den letzten fahlen Strahlen erreichte Gwendolyn Veltenbruch die Spitze. Die Nacht begann, und mit ihr Galates‘ Reich. Das vertraute Gefühl, das sie jedesmal an Schreinen ereilte, stellte sich fast sofort ein. Der Schleier zwischen den Göttern und den Druiden war hier so dünn, man vermochte fast hindurchzublicken. Es ergriff sie hier schneller als an anderen Schreinen, so als hätte etwas oder jemand nur darauf gewartet, endlich ein Werkzeug in die Hand nehmen zu dürfen. Sie war gerne das Werkzeug.

Der Schnee fing mit einem dumpfen Geräusch ihren Buckelkorb auf. Das einzige Geräusch, das von außerhalb verursacht wurde. Hier oben war sonst nichts als Wind, grollendes Meer, nachtschwarzer Himmel – und, nun – sie. Eine Fackel erhellte die Finsternis. Mit den behandschuhten Händen fegte die Wanderin den pudrigen Schnee zur Seite, bis ein Kreis von etwa drei Schritt entstanden war.

Ihre Handgriffe waren bewusst gesetzt, ruhig und kontrolliert. Sie zögerte nicht und dachte nicht nach. Zu oft war sie in Gedanken durchgegangen, wie es zu machen sei. Der Schein der Fackel leuchtete den Kreis aus Schnee aus. Dem Weidenkorb entnahm sie Holzscheit um Holzscheit, bis ein veritabler Holzstoß entstanden war, den die Fackel nun entfachte.

Galates schätzte Riten, so hatte sie es von Vishaya einst gelernt. Er, der verschwiegenste aller Götter, der Herr über Nacht und Geheimnis, verstand auch das Unausgesprochene und das nur Gedachte. Ja, Gwendolyn war sicher, dass alles zu laut Geäußerte, gar Gekreischte, Galates sogar abstieß. Er verbarg sich im Unerklärlichen, im Ungesagten. Der Herr der Nacht sieht alles und verrät nichts, weil kein Mund in seinem Antlitz wohnt. Sein Wohlwollen war für die Pläne der Druidin unabdingbar.

Der Aufstieg hatte wohl eine Stunde gedauert und sie war gleichermaßen durchfroren und durchnässt. Nichts, was Überraschung brachte. Das Feuer loderte in den Himmel und spendete willkommene Wärme. Wer den Göttern nah sein will, sollte abstreifen, was nur Tand und Hüllen sind. Schicht um Schicht entledigte die Vatin sich der feuchten Kleider, bis sie vor den Göttern stand, wie sie geschaffen worden war. Dürr, über und über mit hellen Malen besetzt, stur und entschlossen. In einer bronzenen Ritualschüssel, deren Inneres den Sichelmond zeigte, schmolz sie etwas Schnee und begann, sich zu waschen. Lautlos glitten Tropfen in den Schnee, bis die Vatin endlich zufrieden war und etwas aus dem Korb zog, das sie in ein schwarzes Leinentuch eingeschlagen hatte. Mit beiden Händen schlug sie es zurück und ein Fell, hell und strahlend weiß wie der Schnee, bildete einen Kontrast zu seinem rabenschwarzen Umschlag, der in den Augen schmerzte. Ein tiefes Einatmen störte die Stille. Es war so weit.

Als sie sich erhob, trug sie das Fell um die Schultern. Der Schädel des Wolfs thronte über ihrem eigenen, roten Schopf. Der Wolf sah seltsam zufrieden aus, selbst im Tod. Er schien gar zu grinsen, wenn man sich aus dem Fenster lehnen wollte mit der Spekulation. Sie schob das flammendrote Haar nach hinten, verbarg es im Nacken und wand das Fell mit einem Strick weiter um sich. Langsam wanderte sie um das Feuer und blickte den Hügel hinab.

Weiß und abweisend lag die Schneedecke da, verbarg alles Hässliche unter sich und verdeckte, was knorrig und verwachsen war, das alte Wurzelwerk, die faulen Herbstäpfel, die toten Kadaver von Tieren, die dem rasch hereinbrechenden Winter nicht rechtzeitig entkommen konnten. So viel Unberührtheit, so viel Reinheit. Sie würde sie schmelzen.

Es war Zeit, den Spieß umzudrehen. Es war Zeit, jemandem aufzulauern, der sich nicht schützen konnte, nicht im Traum, nicht des Nachts. Es war Zeit, die pure Angst an die Oberfläche zu zerren. Es war Zeit für die Jagd. Es war Zeit, ihren Worten Taten folgen zu lassen. Yngvar Steins Zeit war gekommen.
[Bild: Gwendolyn-Signatur.png]
Toast can never be bread again.
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Die Nacht zieht auf - von Gwendolyn Lucia Veltenbruch - 26.01.2017, 07:18
RE: Die Nacht zieht auf - von Schattenfell - 26.01.2017, 13:12
Part II: Ohne Scheu und Zweifel - von Gast - 27.01.2017, 11:42
Part IV – Das Tor zur anderen Seite - von Gast - 30.01.2017, 14:01
Part VI - Der Kern - von Gast - 06.02.2017, 12:21



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