FSK-18 Yngvar
#24
Die tiefen Kellergewölbe unter dem Mithrastempel waren etwas, zu dem nur die wenigsten Menschen jemals Zugang erhielten. Und selbst diejenigen, die unter Begleitung von Kirchendienern in die tiefen Gewölbe hinabgelassen wurden, sahen nicht mehr als die Spitze des schattenhaften Spiegels, der sich wie eine schwarze Urwurzel unter die Reichshauptstadt bohrte und für die dunklen Seiten stand, die mit dem ewigen Glanz und der Helligkeit des Lichtes einhergingen, mit denen die Kirche nahezu vollständig assoziiert wurde. Dort unten gab es nur das Licht der Fackeln, blanken, unverzierten Stein und noch viel tiefer unten den Geruch von feuchtem Erdreich, den Zellentrakt und den Bereich, der das geheimste Wissen der Kirche beinhaltete.

Die Zellen, der eine Ort, der bisweilen von Würdenträgern der Stadt besucht werden durfte, war noch die prominenteste Räumlichkeit im Schattengarten des Lichts, eine trostlose Kammer, in der es keine Hoffnung und keine Freude gab, sondern nur das Gewicht der Schuld derer, die dort interniert wurden. Was die heilige Kirche dort mit ihren Gefangenen zu tun pflegte, wurde von Außenstehenden nur in seltenen Fällen dokumentiert und man konnte davon ausgehen, dass die wirklich relevanten Dinge, die dort stattfanden, überhaupt nie eine Erwähnung in Schriftform gefunden hatten und auch nie finden würden. Für all' jene, die dort ihr Ende finden würden, gab es das Gebot der Angemessenheit oder der Milde nicht – dort gab es nur die Flamme, die sich durch das Fleisch und den Knochen bis auf den Kern des Frevels und des Übels durch den Körper fraß, um jede Form von Häresie freizulegen und sich von den Dienern der Kirche sezieren zu lassen. Yngvar Stein kannte niemanden, der diesen Ort jemals verlassen hatte und nicht von seinem Aufenthalt gezeichnet worden war. Denn Mithras war groß und seine Flamme brannte unsichtbar zwischen den Gitterstäben des Kerkers und formte das Wesen der Frevler stets neu – ob sie es zuließen oder nicht.

Der Sonnenlegionär hatte, als er noch ein Novize gewesen war, einem ausladenden Vortrag von dem verstorbenen Erzpriester Greiffenwaldt zu den Methoden der Folter gelauscht und sich bisweilen gefragt, ob diese Methoden überhaupt eine Wirkung entfalten konnten und ob sie vor allem nicht zu grausam für eine so noble Institution wie die Kirche waren. Viele Monde, ja sogar Jahresläufe später, hatte sich die Ansicht geändert. Nicht was die Geeignetheit der Methoden anging – denn noch immer hielt Yngvar Stein die brutale Folter und die Malträtierung eines Leibes zur Wahrheitsfindung für sehr ungenau. Allerdings hatte er festgestellt, dass die Frage danach, wie weit man gehen durfte, nur auf eine Weise beantwortet werden konnte:”Weiter als die Vorstellung es erlaubt.”

Die heilige Kirche war dem Bewahrer auf seinem Kurs des Ausgleichs und der Friedfertigkeit gefolgt und das Ergebnis, erst wenige Monate nach dem Blutkonklave war, dass der Respekt gegenüber der Institution, die maßgeblich zum Sieg über die Vampire beigetragen hatte, mit dem Erbrochenen der jeweils vergangenen Nacht im Rinnstein Löwensteins verflossen war. Es galt, Exempel zu statuieren, wenngleich klar war, dass man damit nur Symptome bekämpfen konnte. Die Krankheit, das lange Siechtum, mit welchem die Menschen nach dem Blutkonklave infiziert worden waren und welches ihre treuen Seelen ins Wanken brachte, musste an der Wurzel bekämpft werden. Der Ursprung musste gefunden werden, der Kern, der zu verrotten begonnen hatte und die Menschen von Innen zu verderben drohte. Und diesen Klumpen, der sich in die frommen Gläubigen eingenistet hatte, konnte nur auf eine Art entfernt werden: Durch einen Schnitt, so präzise - wie es rohe Gewalt unter Folter niemals sein konnte – und das Ausbrennen der Krankheit, die in den Untiefen des menschlichen Verstandes lag.

Von den Zellen, in denen noch eine Hexe einsaß, die bald den Weg der Flammen beschreiten würde, einer Frau, die sich trotz ihrem Bekenntnis zu Mithras in den Fängen einer Schwärze sah, die den Körper irreversibel korrumpiert hatte, schlugen sich die Gedanken an die Reinigung des Volkes unter Mithras' Wacht ihren stetigen Weg durch das lichtscheue Gewölbe, durch die Feuchtigkeit, durch die Einsamkeit, vorbei an dem einsamen Torwächter Bogart, durch das schwere und unverwüstliche Holz in die hintersten Kammern des Tempels, wo alte Schriften und okkulte Sammlungen schon jahrhundertelang gehortet wurden. Der Duft alter Papiere und abgegriffener Einbände war in dieser Kammer, die selbst nur Vorraum für einen viel tieferen Kern der Kirche war, allgegenwärtig. Und inmitten dieses Raumes fand sich der Sonnenlegionär. Der Krieger hatte auf einem Stuhl Platz genommen, den er schon vor vielen Wochenläufen dort hinabgebracht hatte und auf dem er Stunden um Stunden die Zeit verstreichen ließ und dort in die Dunkelheit starrte, darüber sinnierend, forschend, wie man den Ursprung der stillen Keuche finden konnte, die sich in den Menschen festsetzte. Der zunehmende Verfall hatte den Krieger spiritueller werden lassen, hatte seinen Drang, die Pforte zum Elysium weiter aufzustoßen nur verstärkt und ihn bisweilen sogar so beflügelt, dass er geglaubt hatte, den Blick auf die Welt gänzlich zu verlieren. Ohne zu wissen, welch' großen Dienst sie ihm dabei erwiesen hatte, hatte die Bindung an einen weltlichen Menschen allein, ihn davor bewahrt, sich von der überwältigenden Macht der Überwelt entrücken zu lassen, in der Mithras herrschte. Und am Ende war sie es auch gewesen, die der Grund dafür gewesen war, dass er das Gewölbe bisweilen verließ – die wirkliche Welt, außerhalb des schattenhaften Brunnens, in den er dort unten eintauchte, wahrnehmen wollte, um dieser einen Person willen nicht zu verlieren, was ihn wieder auf den Pfad zurückführte, auf dem auch sie zu wandeln pflegte.

Der Sonnenlegionär hatte gesehen, wie sehr solcherlei Gedanken schon so manchen verändert hatten. Yngvar hatte beinahe schon eine paranoide Sensibilität begleitet, nicht in die Pflichtlosigkeit zu entgleiten. Es war ihm, so befand er, geglückt, wenngleich der Weg der Offenheit in den eigenen Reihen ein Paukenschlag auf dem See der Einigkeit gewesen war und Wellen aufgepeitscht hatte, die man nur durch harte Arbeit wieder glätten können würde. Im Gesamtbild allerdings, waren diese Gedanken nur eine selbstbestätigende Randerscheinung der Sezession, mit welcher der Sonnenlegionär das Übel aus der Welt zu lösen suchte. Es war mittlerweile offensichtlich geworden, dass es nicht mehr ausreichen würde, auf dem Thron der Makellosigkeit zu sitzen und auf die sich im Dreck suhlenden Schweine des Sündenfalls zu blicken, sondern jedes Tier musste einzeln zur Schlachtbank geführt und seiner Lebenssäfte beraubt werden, um im Anschluss genau den Punkt zu finden, an dem die Kreatur von Innen zu verderben begonnen hatte. Sie alle mussten geopfert, geprüft und bis auf ihren Seelengrund betrachtet werden, um herauszufinden, wie man den Rest der Herde retten konnte. Und es war an der Zeit den Schafspelz abzulegen und den Wolf zu offenbaren, der den Makel in den Menschen zu riechen begonnen hatte.

Er hatte nicht erst mit Morana Schinder begonnen, wenngleich sie jedoch eines der Subjekte war, mit denen die Zusammenarbeit am Ertragreichsten gewesen war. Sie war eine Frau von Format, das musste man ihr zugestehen und der Glaube brannte, trotz der furchtbaren Dunkelheit in ihrem Leib, hell in ihr. Die Art und Weise, wie er sie befragt hatte, war eine abstruse Mischung aus Vergnügen und einem sezierenden Eingriff in ihr Leben gewesen, einer gefügigen Offenlegung dessen, was sie so lange verborgen hatte. Wo die einfachen Menschen der Drang nach Geld, Anerkennung und Status trieb, fühlte Yngvar Stein die verbotene, schwarze Frucht in ihrem Körper, eine Frucht, die er pflücken und in Scheibchen schneiden würde, bis er jeden Kern gefunden, jeden Samen geprüft und das Fleisch entfernt hatte, nur um zu verstehen, was die vielen Frauen, die Morana Schinder waren, ausgemacht hatte.

Es war, auf diese Art und Weise, beinahe schon betrüblich, dass eine baldige Verbrennung die Ernte nicht so ertragreich ausfallen ließ, wie es wünschenswert war, doch war ihr bei aller Dunkelheit nicht zu verweigern, die Läuterung in den Flammen länger als erforderlich erwarten zu müssen. Der Wahnsinn hatte bereits Besitz von ihr ergriffen und in der Dunkelheit des Kerkers würde er weitere Nahrung finden, selbst hier. Selbst im Tempel.

Die letzten Gedanken des Sonnenlegionärs, der durch die Nachforschungen hinsichtlich der Übergriffe auf Kirchenmitglieder, der durch die Attacken von Hexern und zuletzt durch die Gefangenschaft von Morana Schinder so tief wie noch nie zuvor in eine Welt eingetaucht war, in der es nur darum ging, noch eine weitere Schicht der Schuldigen und Angeklagten von dieser Welt zu schälen, trieben sich mit der Frage um, ob er für diesen Weg bereits gewappnet war. Ob die Schneiderin, ohne es wirklich zu begreifen, der Schild war, den er zu brauchen glaubte – der Ausgleich, das Fenster in eine Welt, die der Krieger sich ohne die Dunkelheit ersann, in der er zu wandeln begonnen hatte. Was er empfand, war eindeutig und bedurfte keiner tieferen Interpretation und alleine die Tatsache, dass er derlei zulassen konnte, ohne den Blick von seinen Pflichten zu nehmen, war ein Zeichen für den Sonnenlegionär, dass er hier völlig vorbehaltlos sein konnte.

Als der Krieger niederschrieb, was er aus Morana Schinder extrahieren konnte, begleitete ihn das tonlose Gebet, dass die Seele, die er an seine Seite gelassen hatte, durch ihr Wesen den Wahnsinn von ihm abzuleiten wusste, der rechts und links von dem schmalen Grat nach ihm gierte, auf dem er zu wandeln begonnen hatte.

“Je größer wir sind, umso schmaler ist der Weg, auf dem wir wandeln. Und wenn dort in der Ferne nicht mehr als die Dunkelheit auf uns wartet, ist es das Licht, wenn auch nur ein Funke im Widerhall der kalten, ewigen Nacht, das uns vor dem Absturz bewahrt. Nur das eine Licht, dessen Leuchten nachzueilen, wir uns entschieden haben. Ich sehe Dich.”

[Bild: 3yoBPCW.png]
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Yngvar - von Gast - 21.12.2015, 22:09
Im rechten Licht - von Gast - 02.01.2016, 13:06
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