FSK-18 Yngvar
#18
Resignation und Fassungslosigkeit hatte die Novizen erfasst, die in dieser schicksalshaften Nacht wieder in den Tempel einkehrten. Stille war das Instrument auf dem sie spielten und sie alle beherrschten es in dieser Nacht meisterlich. Erschöpft, abgekämpft und beinahe schon gebrochen hatte Yngvar seine Brüder und Schwestern in ihre Betten sinken sehen und er musste unwillkürlich an das Bild von versickerndem Wasser denken, dass man versehentlich verschüttet hatte. Dieser Abend hatte einen empfindlichen Makel auf ihrer Existenz hinterlassen und nur mit viel Geduld würde sich dieser dunkle Punkt der Resignation wieder heilen lassen – wenn es denn die Zeit zugelassen hätte.

Und während die Erschöpfung sich ihre Scheibe vom Laib der Zeit abschnitt und von den anderen Novizen und Anwärtern nicht mehr als das übliche Räuspern, Rascheln und Knarzen hörbar war, dass sich eben einstellte, wenn viele Gleichgestellte an einem Ort schliefen – oder zumindest so taten, blickte Yngvar Stein hinauf zur Decke des Schlafsaals. Es war ein leerer, ein verstörter Blick – und vor allem nicht die eiserne Fassade, die er so perfekt zu imitieren gelernt hatte. Nein, dieser Blick war ehrlich. Und er jagte ihm selbst am meisten Angst ein. Eine Angst, die er noch nie so bewusst gefühlt und die ihn in seinen Grundfesten erschüttert und dazu veranlasst hatte, die vielen Risse, die sich abzeichneten, panisch festzuhalten. Er durfte, würde – konnte – nicht brechen. Der Novize schloss die Augen, hoffend, dass sein Schädel, der sich immer wieder um die Ereignisse dieser Nacht drehte, irgendwann zur Ruhe kommen würde. Doch stattdessen verbarg sich hinter seinen Augenlidern nur ein endlos tiefes, schwarzes Loch in das er hineinfiel. Der freie Fall nahm ihm jedes Gefühl der geborgenen, festen Bettkonstruktion, in der er tatsächlich lag. Sie entwand sich seinem erschöpften Gehirn genauso leicht wie die gesamte Restrealität, die dem Streiter noch geblieben war.

Der Raum, seine Mitstreiter, das Bett und schließlich auch das Licht zerflossen in die Unendlichkeit, in die der Novize fiel und in der er nicht mehr als hilflos taumeln konnte. In diesem tiefen, lichtlosen Dunkel intensivierte sich dieses Gefühl blanker Furcht noch weiter und Yngvar konnte spüren, wie er Stück für Stück den Bezug zur realen Welt verlor und sich mehr und mehr die Frage in den Vordergrund drängte, wie es zu dieser Situation hatte kommen können.

Warum, fragte er sich, war kein Mitglied der Kirche mit ihrer Seligkeit gegangen – vielleicht hätte das Leben eines Legionärs die Leben aller anderen aufgewogen, wenn er ihnen den Spalt zur Flucht geöffnet hätte. Nur ein Spalt, eine minimale Bresche… die Gedanken schwommen vor seinem geistigen Auge davon. Er streckte seine Hand aus, versuchte den rettenden Gedanken, der die Geschehnisse hätte neu ordnen können, zu greifen – doch vergeblich. Das Gedankenkarussel drehte sich weiter, bis es sich in einem Regen von Münzen, laut und klimpernd, auflöste. Er sah sich neben tausenden Gulden fallen, zog an ihnen vorbei, immer schneller, immer tiefer, bis er eine der Münzen zu fassen bekam und sie von eigentümlicher Neugier beseelt, in der Hand zu drehen begann. Die Kriegerhand kannte das Gesicht auf der Münze, fuhr die Konturen dieser Person nach, die strenge und weiche Züge so perfekt wie kaum eine andere Person in sich vereinte. Die Silhouette von Lisbeth Winkel war offenbar wie dafür gemacht, eines Tages auf eine Münze geprägt zu werden – in ferner Zukunft, wenn sie gerettet sein würde. Wenn … Das Profil der Erzpriesterin begann sich auf der Münze zu drehen und ihn direkt anzublicken: “Aber das hast du nicht.” Sprach die Prägung zu ihm. “Du standest vor dem Eingang, du hättest mich retten können. Uns alle. Aber ihr habt uns verlassen, seid an die Oberfläche zurückgekehrt, in die warmen Betten.” Vor Schreck ließ der Krieger die Münze aus seiner Hand gleiten und der konsternierte Blick folgte der noch immer zeternden Münze, während ihr Echo in der sich wieder einstellenden Schwärze nachzuhallen begann: ”Wir werden hier unten alle sterben! Und du bist schuld daran!” Feuerte die Münzen-Lisbeth noch nach, bevor auch der letzte Taler von der Dunkelheit aufgesogen wurde und Yngvar erneut im freien Fall alleine und einsam vor sich hertrieb.

Die Einsamkeit jedoch, mochte vielleicht gerade einmal einen Herzschlag angedauert haben, als er aus der Schwärze eine Person mit rotem Haar heraustreten sah. Das graue Kleid mit den roten Applikationen und der ebenso roten Schärpe ließ die Frau adrett und edel wirken, wenngleich ihr Blick verängstigt und furchtsam war. Langsam trat die Frau auf ihn zu. Die Hände vor ihrer Körpermitte ineinandergelegt konnte er sehen, dass eines ihrer Augen offenbar leicht verfärbt war und den Heilungsprozess beinahe noch nicht ganz abgeschlossen hatte. “Eirene ..” kam es etwas erstickt. Die Kehle des Novizen war trocken und er hatte das Erlebnis mit Münzen-Lisbeth sichtbar noch nicht verarbeitet.

“Du hast versprochen, dass mir nichts passieren würde, Yngvar… und nun sieh mich an!” brach es aus der Frau hervor, die plötzlich ihre Haltung verlor und auf den nicht vorhandenen Boden zusammensackte. “Sie foltern uns .. ich sterbe .. hilf mir.. “ presste das Trugbild der Vogtin schluchzend hervor. Erneut versuchte der Novize nach dem Phänomen in seinem Kopf zu greifen, ihr einen Teil der Realität zu geben, indem er sie berührte, vielleicht sogar mit sich ziehen konnte. Als die Hand des Kriegers sich zur Vogtin ausstreckte, schien sie aufzublicken, Hoffnung zu schöpfen. Die zarte Hand hob sich, war nahezu spürbar, als der Krieger unvermittelt schwer aufschlug, sein gesamter Atem mit einem Satz aus seinem Körper gepresst wurde und die Dunkelheit wie ein Hammer auf seinen Schädel einkrachte.

Als steckten tausende Splitter in seinem Kopf, hob der Krieger sichtlich benommen das Haupt, stützte sich auf seine Arme, die spürbar zittrig nach Halt suchten und begann sich mit halb offenen Augen umzublicken. Der Streiter sog schmerzvoll und leidend die Luft ein, als er eine ganze Reihe an Personen um ihn versammelt sah – allesamt andere Formen des Drachentöters, Yngvar Stein. Es mochten zwei Dutzend Manifestationen seiner selbst sein, die um ihn herumstanden und ihn zunächst still betrachteten. Eine ganze Weile taten sie das, während der Krieger sich mühte, auf die Beine zu kommen, obgleich es partout nicht gelingen wollte. “Unwürdig!” schallte es grollend aus der zweiten Reihe seiner selbst und ein Berg von Mann, der alle anderen Trugbilder überragte, drängte sich hervor. “Steh auf, du Wurm! Mithras befiehlt es!” Ein Keuchen war jedoch alles, was der Krieger hervorbrachte, bevor er wieder zusammenbrach und ein unschätzbar schweres Gewicht sich in sein Kreuz drückte, als er gerade dachte, er hätte sich aufrichten können. “Vigdis bei den Hierokraten, du ein Versager vor Mithras' Antlitz – eine Schande für die Familie und das Reich. Du solltest an ihrer Statt sterben, Yngvar.” drang eine weitere Stimme an sein Ohr, weit weniger unbeherrscht, analytischer – und vor allem jünger. Das jüngere Ich des Streiters hatte gesprochen – das Ich, das dereinst Hammerhall verlassen und sich auf den Weg nach Löwenstein gemacht hatte.

Yngvar schloss die Augen. Es war genug, er musste ausbrechen – irgendwie. Zumindest hatte der Krieger beschlossen, dass es Zeit war sich seiner Stärken zu besinnen – und die Kontrolle zu übernehmen war stets eine der seinen gewesen. Noch bevor der Streiter die Augen öffnete, hörte er sein eigenes, kindliches ich um ihn herumtanzen, singend – das einzige Objekt, dass noch in der Dunkelheit um ihn herum existierte.

“Yngvar muss sterben, Yngvar muss sterben .. !” ratterte die kindliche Stimme immer wieder halb singend, halb neckend hervor, ehe der Novize sich schließlich unter fürchterlicher Anstrenung aufzurichten begann und einen Schrei in die Dunkelheit entließ, der sich anfühlte, als hätte er soeben eine eigentümliche Form von Ketten gesprengt.

“GENUG!” herrschte er in die Dunkelheit und wenngleich die Stimme seinen Kontrollanspruch untermauerte, sprach sein Gesicht Verzweiflung.

Doch für den Moment hatte es gewirkt – Stille. Und so wanderte der Streiter, unfähig seiner eigenen Traumwelt zu entkommen, gefühlte Ewigkeiten durch die Lichtlosigkeit, bis er ein Flüstern vernahm, gerade genug, um an sein Ohr zu dringen. “Du musst sie retten.” kam die Stimme und hallte nach: “Alle retten.” Sein Kopf ruckte in Richtung der Stimme, nur um festzustellen dass dort genauso wenig existierte, wie im Rest seiner Traumebene. “Aber sie sind entbehrlich, alle entbehrlich!” raunte eine andere Stimme aus der entgegensetzten Richtung, die vom Streiter sichtbar skeptischer bewertet wurde, als sein Kopf in dessen Richtung ruckte, ehe eine dritte Stimme zu ihm sprach. Ein kaltes, eisernes Gefühl legte sich auf seine Stirn und er reckte ihr seinen Kopf entgegen. “Du musst sie alle töten. So will es der Herr, so ist es recht.” Eine nächste Stimme, nahezu identisch mit der vorigen mischte sich unter die eiserne Sprecherin:”Sie sind Schlachtvieh für den Herrn, bring' ihm seine Lämmer.”

Die Stimmen überschlugen sich zusehends und immer mehr Einflüsterungen stellten sich ein, bis aus dem gesamten Chor nur noch zwei Worte klar vernehmbar waren, die sich in den Schädel des Kriegers fest einbrannten:

“Alle. Umbringen.”

Das Stimmengewirr hub immer weiter an, breitete sich in jeden Winkel seines Schädels aus, wurde zu einem quälenden, fordernden Brummen, dass immer stärker und damit unerträglich wurde. Yngvar spüre, wie sein Kopf sich Wand, unfähig diesem Traumgefängnis zu entfliehen. Der Streiter begann langsam Atemnot zu leiden – die Stimmen schnürten alles ab – das Denken, die Luft, die Kraft. Es wurde unerträglich – er würde am Ende doch sterben. Yngvar Stein – einer von Mithras' treusten, starb im Schlaf, ermordet von seinen eigenen Träumen, würde es heißen, bis der Krieger eine warme Berührung spürte. gleich einer feingliedrigen, sanften Hand, die sich auf den Leib des Streiters legte.

Die Frage danach, ob sie real war, stellte sich dem Streiter darob gar nicht erst, denn das Stimmengewirr ließ ob dieser Bewegung nach, die nun begann ihn spürbar zu schütteln. Die Atemnot ließ nach, als das Stimmengewirr von einer einzigen Stimme verdrängt wurde, die zunächst noch sanft, dann bestimmend den Namen des Kriegers sprach. “Yngvar .. wach auf!” kommandierte die Stimme, bis das Gefühl der Körperlichkeit endlich alle Schatten der lichtlosen Traumebene hinter sich gelassen und sich wieder an seinen Leib geklammert hatte. Erschöpft – erschöpfter sogar als zuvor, öffnete der Krieger die Augen, nur um in das Gesicht von Novizin Askolt zu blicken, die über ihm kniete und sichtbar besorgt aussah. “Ihr habt geträumt, Novize Stein.” stellte sie in ihrer üblichen, distanzierten aber nicht unfreundlichen Art fest.

Es brauchte einige Augenblicke, bis Yngvar sich seines Umfelds wieder gewahr wurde. Er lag neben dem Bett, das Laken halb über ihm. Neben der Novizin stand eine Schale mit Essen – eine dieser Schalen, die sie in den letzten Tagen stets jedem ans Bett gestellt hatte, damit sie gestärkt wieder an ihr Tagewerk gehen konnten. Das Gefühl kalten Stahls in seiner Armbeuge stellte sich rasch als seine eigene Klinge heraus, die er offenbar im Schlaf seinem Gurt entwandt hatte.

Dankbar dafür, dass ihn jemand seinen Traumfesseln entrissen hatte, richtete der Krieger sich auf und erhob sich, wenn auch sichtbar taumelnd und benommen. Die Nacht zumindest, das hatte Yngvar beschlossen, war vorbei und er folgte der Novizin in den Speisebereich, wo sie sich bereitwillig die Sorgen und Klagen des sonst so verschlossenen Streiters anhörte. Und wenngleich es seine Seele leichter zu machen schien, das tiefe Dunkel seiner Träume zu vergessen, saß Yngvar noch lange, nachdem die Novizin selbst zu Bett gegangen war, auf einem der Stühle im Speiseraum, einen Becher Kräutertee zwischen den Händen, den nächsten Tag erwartend. Und mit ihm, die Hoffnung und Stärke, die vielen Schicksale seiner Traumwelt um jeden Preis vermeiden zu können.

[Bild: nightmare.jpg]
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Yngvar - von Gast - 21.12.2015, 22:09
Im rechten Licht - von Gast - 02.01.2016, 13:06
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