FSK-18 Yngvar
#10
Der Mantel

Will jemand etwas über einen in Erfahrung bringen, so kommt man nicht umhin, die damit einhergehenden, zwangsläufigen Fragen zu beantworten. Die Frage nach dem "woher" genauso wie die Frage nach dem "warum" es "wohin" ging. Es sind einfache, oberflächliche und in den meisten Fällen auch unverfängliche Annäherungsversuche an das Unbekannte in menschlicher Gestalt, denn jeder der eine Reise tut, wird mit ihnen zwangsläufig rechnen, wo sie doch so offensichtlich sind.

Das "woher" gibt einem einen Grundstock an weiteren Informationen, auf deren Basis man ein Gespräch weiterführen kann, wenngleich derlei selten weiter in die Tiefe führt, sondern sich nur eine weitere, schlichte Information an die nächste hängt. Viel seltener jedoch fragt jemand nach dem Weg, das "dazwischen" und das ist das wahrhaft verwunderliche. So ist es doch erstaunlich, dass ein Mann sich auf den Weg von seiner Heimat macht, seinem Elternhaus entrückt und die einzigen Fragen, die man ihm stellt, diejenigen nach dem "woher" und dem "warum" sind.

Das "dazwischen" oder "davor" findet hingegen allenfalls rudimentäre Beachtung, wenngleich beides den Charakter des stählernen Bronzekoloss' der Mithras-Kirche viel stärker geformt und geprägt hat. Fragte man diesen Novizen, der mit dem Feuer des Herrn am Morgen dem Bette entsteigt und seinem Licht in der Nacht zur Ruhe kommt, würde er diese Zeit vermutlich als ferne Erinnerung beschreiben, ganz so als sei diese Zeit, die Zeit vor der Sonnenlegion, die lange Reise gewesen und nicht mehr als die blasse Erinnerung einer anderen Person. Die Gefühle dahinter, die Empfindungen, die Talente und verborgenen Ansichten des Kriegers haften ihm weiter an, wie der Schatten dem Licht. Es war nun noch nie so, dass ein waschechter Nortgarder mit seiner Gefühlswelt hausieren ging. Und so tat es auch Yngvar beileibe nicht. Es war nicht etwa so, dass er eine Abneigung dahingehend empfand, sondern vielmehr hatte er schlicht und ergreifend nicht den Drang über derartige Dinge zu sprechen, wenn die Etikette einer vornehmen Gesellschaft es nicht vorschrieb. Und gerade dort war eher der Platz für vorgeschobene, pauschale Nettigkeiten, denn tiefgründige Erforschung eines vergangenen Lebens.

Dass diese andere, diese alte Welt im Novizen nicht vollends verblassen konnte, zeigten die stummen Hilferufe seiner Geschichten, nicht dem Vergessen anheim zu fallen, indem sie sich vollkommen unwillkürlich und plötzlich in seine Gedanken schoben, zumeist wenn er für sich war. In vielerlei Hinsicht betrachtete Yngvar nämlich den Weg nach Löwenstein als ungleich beschwerlich im Gegensatz zu seinem Leben in der Legion und dabei war es nicht etwa so, dass das Leben in der Kirche nicht von Widrigkeiten geprägt war. Doch gab es diese seltenen Situationen im Leben, in denen man erst seinen Sinn und seine Zweckbestimmung erkannte, wenn man das erste mal durch eine unbekannte Tür getreten und den Duft einer neuen Sache erschnüffelt hatte. Jeder Handgriff, jeder Schritt, den er als Novize der Legion bislang getan hatte, fühlte sich an, als würde er in einen maßangefertigten Handschuh greifen. Unerheblich wie hoch die Hürde, gleich wie schwer die Aufgabe, und einerlei wie beiderlei ausging: Er hatte seinen Platz gefunden. Es war perfekt und von Mithras bestimmt.

Vermutlich war es das einfache Leben einer menschlichen Passform des Glaubens, einem Gefäß dass man zur rechten Zeit an den rechten Ort gestellt hatte, um es bis zur Oberflächenspannung mit Gebeten und Kampfeswillen zu befüllen, dass den Weg von Nortgard nach Löwenstein so beschwerlich hatte wirken lassen. Denn er war von vielem geprägt, was im Kontrast zu seinem jetzigen Leben stand. Die Welt als Alleinreisender, wenn auch im Willen dass die Statuten des Befreiers einen schon ans Ziel führten, war vor allem vom Chaos des einfachen Mannes geprägt, einer Strukturlosigkeit, Furcht und Führungslosigkeit, die es einem abverlangte, konstant gegen den Sog der Ordnungslosigkeit anzukämpfen. Es war leichter, die überreizte Disziplin und die Prinzipien eines Mannes zu belächeln, als ihnen Anerkennung entgegenzubringen, zumal sie vielen ein Spiegel für eigenes Versagen waren.

Yngvar würde niemals erfahren, ob diese eine Nacht auf seiner langen Reise anders verlaufen wäre, wenn er sich etwas weniger treu im Glauben und mehr wie ein versoffener Söldner verhalten hätte. Vielleicht provozierte er mit seinem schon damals bestehenden Drang, seine Ausrüstung sauber und gepflegt zu halten, der Einhaltung der vier Standardgebete und der weitgehenden Enthaltsamkeit was die berauschenden Getränke anging, zu sehr, so dass der fahrende Händler, der neben ihm noch eine junge Frau auf dem Karren mitfahren ließ, derart von der Tugend geblendet war, dass ihm nur die Flucht in sein eigenes Moloch von Sünde und Bösartigkeit blieb. Am Ende verschüchten wir jene, die wir durch gutes Beispiel zu retten uns anschicken so sehr, dass die Überwältigung ihnen allen Besserungswillen raubt. Solche Seelen sind selten noch zu retten und es erfordert immense Kraft, sie zurück in das Licht der Ordnung zu ziehen. Weder die Kraft, noch das Wissen darum, waren in dieser Nacht im Nortgarder vereint.

Im Grunde aber, gab es keine Antwort auf die Geschehnisse dieser Nacht. Es gab nur das leise Wimmern eines hilflosen Mädchens, als ein Mann im Bestreben, sich den Ausgleich für eine Mitnahme auf dem Karren auch mit Gewalt am Frauenleibe nehmen zu dürfen, nicht damit rechnete, dass gerade der Mann, dem er warme Mahlzeiten und einen Platz zum Schlafen auf dem Karren versprach, ihm zum Verhängnis werden würde. Tatsächlich war es die grausame Seite der Medallie der Ordnung, die ihn das hilflose Gewimmer länger als für einen Menschen zuträglich ertragen ließ. Es gab klare Regeln in diesem Tross und eine davon war, dass der Nortgarder dem Mann zugesagt hatte, ihm kein Leid anzutun, solange sie den Weg miteinander teilten. Und sein Wort, seine Integrität, waren schon immer auszeichnend für Yngvar Stein, ja für die ganze verfluchte Familie, gewesen. Gleichwohl aber brach der Mann nicht nur des Reiches Gesetz, indem er auf greuliche Weise tat, was er eben tat, sondern auch jede Regel von Anstand und Respekt. Und wenn sich drei Freie begegneten, waren Anstand und Respekt Dinge, die das Zusammenleben maßgeblich regelten. Sie trennten die Barbaren von den Zivilisierten – und soweit es Yngvar betraf, verlor der Händler jedes Recht darauf indem er das Weibsbild gegen ihren Willen bestiegen hatte.

Also tat der Nortgarder das, was er tatsächlich recht talentiert konnte. Als die Plane des Karrens sich auseinanderschob und das fahle Mondlicht des einsamen Vollmondes die breite Gestalt des Kriegers schattenhaft in Szene setzte, gleich einer dunklen Monstrosität, dessen rechter Arm am Ende durch Kette und Keule eines Flegels verlängert wurde, brauchte es keine Worte, der Erklärung. Es gab keine Belehrung, keine Moralpredigt und keinen Versuch, noch einmal an die Werte der Zivilisation zu appellieren, die von roten Roben im Land aufrecht erhalten wurden. Nein, in dieser einen Nacht war die schwarze Tugend das stumme Gericht und der Vollmond, ein zum stillen Aufschrei verzerrter Mund im Mantel des Firmanents, sang sein ungehörtes Klagelied, als die Geschundene die Gunst der Stunde nutzte und das Weite suchte. Sie rann so schnell sie konnte, bar jedes Vertrauens für andere Menschen, verletzt, beschämt und beschmutzt. Und während sie rannte, und sich ihre Tränen hell an die junge Haut pressten, durchlebte der Mann eine wundersame Transformation, von einem lebenden, denkenden und fühlenden Organismus hin zu einem Klumpen aus Fleisch und Stofffetzen. Dumpfe Schläge und das gelegentliche Krachen brechender und berstender Knochen waren die Protokollanten des dunklen Richters, dessen inneres sich zum Karren gekehrt hatte und es zu einer grotesken Alptraumwelt wandelte, die ihn später würgen ließ.

Sein Rücken indes, wurde hell erleuchtet vom fahlen Licht des Mondes und es wäre kaum gelogen zu sagen, dass die andere, die nach außen gewandte Seite des Mannes wahrhaft aussah und die Etikette, den Anstand und die Tugend dort ließ, wo sie keinen Schaden nehmen konnte, fernab von Blut und Gewalt.

Am Morgen jedoch, als die ersten Sonnenstrahlen den Karren aus der gespenstischen Einsamkeit der Nacht freiten, hatte der Krieger, in heutiger Zeit Novize der Sonnenlegion, seine Rüstung so penibel gereinigt wie nie zuvor. Und als er den Weg weiter gen Süden, gen Servano marschierte, hatte er sich wieder einen Mantel aus Schweigen und Tugend über die Schultern gelegt, in der Hoffnung, dass die Zeit diese Nacht dem Verblassen und Vergessen übergeben würde.

[Bild: Alice-Madness-Returns-Review-Intro-007.jpg]
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Yngvar - von Gast - 21.12.2015, 22:09
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