FSK-18 Yngvar
#9
Zwischen den Welten

Die Mannwerdung war, so man in einem Haus von Etikette und Anstand aufwuchs, zunächst vor allem eine Zeit die irritierend und furchterregend war. Ein Leib, vormals mit starker Hand, solider Tradition und ergebenem Glauben, gehegt und gepflegt, begann plötzlich, aufzubegehren und gar Gelüste zu entwickeln, die verlockend und unbeschreibbar waren. Was dort in einem aufblühte, war offenbarend und einschüchternd zugleich, wenn auch niemals mit grundsätzlicher Negativität behaftet und es war am Ende die elterliche Führung, die dafür Sorge tragen sollte, dass ihm der neu entdeckte Trieb nur zu Diensten sein sollte, wenn die Umstände wohlwollend innerhalb der Ordnung des Herrn lagen. Nun konnte man in Yngvars Fall mit Fug' und Recht behaupten, dass dieses Vorhaben problembehaftet und in besonderer Weise von Fehlschlägen begleitet war.

Dass sich sein Verhalten wieder in rechte Bahnen hatte rücken lassen, war letztlich das Ergebnis einer sehr radikalen Maßnahme und seinem Dienst in der Sonnenlegion zu verdanken und fortan kam er recht gut damit aus, das Werkzeug des Mannes dort zu lassen, wo es hingehörte. Denn für die Aufgaben in der Sonnenlegion war es nur bedingt dienstbar. Tatsächlich verschwendete der Novize keinerlei wachen Gedanken mehr an die beglückende Wärme des Frauenleibes, wenngleich man auch nicht von Abneigung sprechen konnte. Die Vollziehung des Triebes, das konnte man mittlerweile erwiesenermaßen behaupten, war ihm vollständig gleichgültig.

Die Vertrautheit indes, dass was man im Volksmund lapidar als "seelenverwandt" titulierte, dies war etwas, dem er sich weiterhin öffnen konnte, ohne unter der Last ihres Fehlens zu leiden. Nun wäre zu argumentieren gewesen, dass der Novize in der Legion und auch beim Klerus eine Menge Brüder und Schwestern im Glauben hatte und dies war auch unbestritten. Doch gab es feine, andere Unterschiede. So wie man eine Mutter auf eine andere Art liebte, wie man es mit seiner ordentlich vermählten Ehefrau tat. Randnotizen. Abschweifung.

Der Novize hatte die Erinnerung an das Aufblühen seiner Männlichkeit in dieser Zeit bewusst gewählt. Er hatte Parallelen gesehen, wenngleich ein Priester ihn für den Vergleich vielleicht zu recht verprügelt hätte. Doch lag in seiner unsäglichen Geschichte eine Lehre, die er sich nun zunutze machen konnte.

Die Augen öffneten sich und der Nachthimmel offenbarte sich an der oberen Hälfte des Blickfeldes, voll der Klarheit und der Sterne, während die untere Hälfte ihm Löwenstein mit seinen Dächern, Gassen und Einwohnern offenbarte. Der milde Regen in dieser Nacht hatte das Dach des Tempels in eine spiegelnde, fluide Fläche verwandelt, in der das Firmament sein Ebenbild spiegelte und, den vom Umhang und der Kapuze seiner Novizentracht herabfallender, schwerer Tropfen zum Trotz, auch Yngvars Antlitz in schwimmenden Linien zeichnete. Sein Abbild schwamm vor ihm in der fließenden Oberfläche der steinernen Decke des Glaubenszentrums, eine gar nicht so falsche Analogie zum Original, wenn man die letzten Tage betrachtete, in denen er zu erklären versuchte, was sich seit der Reinigung verändert hatte. Im Innern hingegen, herrschte eine Klarheit, die er sich eines gedanklichen Mantras gleich, abzurufen gelernt hatte. Es war nicht so, dass auch dies mit der Reinigung zusammenhing, wohl aber hilfreich gewesen war, um nicht vollständig wahnsinnig zu werden.

Ein kurzer Gedanke folgte, in dem der Novize sich fragte, wie es all' die Menschen fertigbrachten, die nicht seine Ausbildung in Treu und Glauben genossen, wurde jedoch einem Fingerstreich gleich in die hinteren Ränge seines Kopfes mit der Antwort verbannt, dass ihnen schlicht die Einsicht fehlte, zu begreifen was sie gesehen hatten. Sie verdrängten, während er begriff, wenn auch nicht vollständig. Ein Splitter des Wahnsinns, den man gesehen hatte, reichte um ihn Tage, vielleicht Wochen zu beschäftigen. Er war dankbar, dass Mithras ihn nicht hatte mehr sehen und spüren lassen.

"Klarheit." rief er sich nun noch einmal in die Gedanken zurück. Er brauchte diese Kontrolle, für das, was er sich vorgenommen hatte, für eine Beweisführung, die das Fragen und das Nachdenken überflüssig machen würde, um Platz zu schaffen. Für neue Fragen und neues Nachdenken.

Als sich die schwer gerüstete Gestalt langsam erhob, gleich eines stählernen Automaten, der in vollem, aufrechten Stand, den Blick nach vorne gerichtet, auf die Welt vor sich herabblickte, zuckten Lisbeths Worte durch seinen Verstand. "Bescheidenheit." Erneut das Wegwischen, verbunden mit einer abgepressten Atemwolke, die seinen Odem gen Firmament zerstäubte. Bescheidenheit hatte in diesem Augenblick, in diesem Moment, in seinem Moment, keinen Platz. Zurückhaltung trat in den Hintergrund, Bescheidenheit trat in den Hintergrund, Sanftmut trat in den Hintergrund, als der Novize seine Klinge zog und ihren, durch den einfallenden Regen verklärten, silbernen Glanz betrachtete. Das Schwert war sein verlängerte Arm geworden, ein seelenloser Bruder in einem Meer von Dingen, die hinter ihm als unwichtig zurücktraten. Die Spitze der Klinge blickte nach vorne, als wollte sie voller Tatendrang verkünden, dass der vor ihnen liegende Weg ein gemeinsames, andauerndes Wunder sein würde. Im heiligen Feuer des Mithras vergraben, hatte sich auch das Wesen der Klinge verändert, als die Schattenkreatur an ihr erstarb. Es waren Feinheiten, die nur ihr Träger wahrnehmen oder sich einbilden konnte und Yngvar war es gleich, was von beidem zutraf.

"Klarheit." Wieder dieses Wort, dass so viel bedeutete, so kraftvoll wahr. Ein Moment folgte, in dem die Augen des Novizen sich für die Unendlichkeit eines Lidschlags schlossen, in dem seine Hand die Waffe fester umgriff und sie seinem Körper beiordnete. Das mit dieser Handlung gleichgeschaltete Einatmen führte dazu, dass die Hand jedoch nicht nur den Griff der Klinge zu umschließen schien, sondern, als läge dahinter ein weiteres, ein in die Klinge eingefaltetes Mordwerkzeug, dass sich, in diesem Moment noch sträubte dem sich nun formenden Willen des Novizen zu unterwerfen, hervorzutreten, sich um das Dingliche zu weben. Ein Rucken durch Hand und Klinge folgt. Dann Stille - bis auf das ewig gleiche, beruhigende Fallen der Regentropfen auf den Jahrhunderte alten Stein des Tempels.

Ein Betrachter hätte nun sehen können, wie die Figur für einen Moment die Haltung verliert, gleich einer milden Kraftlosigkeit, die im Schattenspiel der Nacht einsetzt, bis der Krieger sich offenbar seiner Beharrlichkeit besinnt und von neuem beginnt. Und so verstrich die Zeit einer Nacht in welcher der Krieger beharrlich nach einer Form für das suchte, was ihm neu war.

Zeit – sie verfloss, wie der Regen in den Fugen des Tempeldaches, wie eine schwer greifbare Masse. Sie rann dahin, Stunden zerflossen zu Minuten, die widerum in Sekunden ausschwemmten und machten jede Möglichkeit, sie als feste Größe im Gefüge der Welt wahrzunehmen, unmöglich. Die Zeit war eins. Die Welt, die, in der er wirkte wie ein Kind, dass verzweifelt dem Krabbeln entwachsen wollte und die, in der er Yngvar Stein war, Novize der Sonnenlegion, auch sie waren plötzlich eins. Beides wob sich um den Mann und sein Schwert wie ein zerbrechlicher Faden, der beides mit der Präzision eines Schneiders zusammenführte und sich aus Leib und dieser anderen, formbaren Fremdartigkeit speiste.

Die Irrealität begann vollständig voranzutreten, gleich einem Windhauch im Sommer durch den Mann hindurchzuwogen und sich auf dessen Hand und dessen Klinge zu setzen, bis letztendlich beides so wandelbar erschien, wie die das Wetter eines Frühlingsmonats. Die Form jedoch, folgte nun dem Willen des Kriegers, dessen Hand zu einem erneuten Ruck anhob als die Vielschichtigkeit von Realität und Unwirklichkeit ineinanderfloss und die Klinge mit einem Vibrieren und Wabern erfüllte und ihr sämtliche, physischen Attribute nahm. Sie war für den Hauch eines Augenblicks, nicht länger als es einen Hieb damit gebraucht hätte, erhoben und erfüllt mit einer Göttlichkeit, die zu begreifen den Wahnsinn bedeutet hätte – fähig Fleisch und Stahl gleichermaßen zu durchtrennen, als sei es Butter an einem viel zu warmen Sommertag.

Das Verblassen der Wirkung indes, hinterließ einen Novizen, der dort noch Minuten stand, seine sich mit Regen benetzende Klinge besah und sich erneut damit konfrontiert fand, einzuordnen, was er vollbracht hatte. Die Erinnerung verblieb als eingebrannter Fixpunkt einer Nacht, die sich mit der Lehre aus seiner Jugendzeit verband: Was ihn seit der Reinigung der Mühle aus dem Unbewussten, aus dem Diffusen, nun mit Klarheit strafte, erforderte Führung, Anleitung und eine wache Hand.

Anderenfalls würde auch das nicht mehr als ein Trieb sein, der irgendwann den Menschen zum Tier machte.

[Bild: walking_on_the_roof_by_wulfman65-d4rtq7c.jpg]
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