FSK-18 Yngvar
#6
Drachentöter

Der Novize flog. Die Wucht eines schlangenförmigen Schemen hatte ihn vollständig getroffen und nun flog er, den Schmerz im Blick tragend, an den anderen Streitern vorbei und seine unrühmliche Begegnung mit der Welt, die sich oberhalb des festen Bodens abspielte endete erst abrupt, als er gegen eine der Begrenzungsmauern der Mühle krachte und die vom Aufprall zugefügten Prellungen und Schmerzen mehrstimmig in seinem Kopf explodierten.

Die Überraschung war hingegen das erste was er spürte, als er vom Boden abgehoben war. Nicht die Überraschung, von der Kreatur getroffen worden zu sein, denn er spürte wie er dem wachsenden Drängen der Kreatur nicht mehr allzu lange standhalten konnte, die anderen Streiter im Chaos aber alle ähnliche Probleme hatten. Nein, die Überraschung war vielmehr, dass er wusste, dass dies nicht das Ende sein würde. Egal wie viele Verletzungen diese Schreckgestalt aus Schatten und Dunkelheit reißen würde, egal wieviel Kraft es kosten würde, sie waren zu weit gekommen um es hier enden zu lassen. Und so war das unvermeidliche schließlich geschehen und die Kreatur schleuderte den tapferen Novizen quer über den Innenhof des tobenden Kampfes und erlaubte ihm damit aus einer einzigartigen Perspektive zu sehen, was vor sich ging: Die vielen Kämpfer, allesamt mit der Waffe und dem Schild voran, die verbissen und verzweifelt Schatten um Schatten bekämpften und dabei jeden Schmerz in Verzweiflung um ihrer Leben willen erduldeten, die Priesterschaft des Mithras, die den Feuern in ihrer Mitte mit innigen Gebeten zubrüllten, sie mögen höher brennen und dabei selbst die Schutzheiligen von Land und Kirche anriefen und auch die Heiler und Fernkämpfer, die dem Geschehen aus zweiter Reihe doch vermutlich viel zu nah waren als sie es gerne gewesen wären.

Und obschon die Schatten sich alle Mühe gaben, die Formationen zu durchbrechen, indem sie verschwanden und wieder neu auftauchten, nur um kurz darauf wieder durch die Nichtwelt zu wandern, dem was dem Auge jedes anderen verborgen war, so war es auch der Ordnung und Disziplin all dieser Kämpfer zu verdanken, die weitgehend ihre Formationen einhielten, dass sie dem Chaos nicht nachgaben. Die Ordnung – unser höchstes Gut. In diesen wenigen Lidschlägen, in denen sich dem Novizen das gesamte Schlachtfeld auf einen Schlag offenbarte, schoben sich die Tage aus jüngster Vergangenheit vor sein geistiges Auge und zeigten ihm diese göttliche Linie all' dessen was geschehen war, auf. Sie waren vorbereitet worden, ohne es zu wissen und ohne es zu sehen. Selbst in diesem Zustand völligen Wahns, in dem Justan sich vor der Kirche versündigt hatte und für so viel Chaos sorgte, dass man meinen konnte, er versuche absichtlich Zwietracht zu sähen, war es, als hätte Mithras seine Hand führend über seine Kinder gehalten und sie durch die Dunkelheit geführt, die der ehemalige Legionär hinterlassen hatte. Für wenige Tage nur war ein chaotischer Zustand eingetreten, der durch seine Exzellenz letztlich gerade gerückt wurde und in der Nachbetrachtung ergab selbst diese Randnotiz einer viel größeren Geschichte einen Sinn.

Die vielen Prüfungen denen sich die Mitglieder der Kirche in den letzten Tagen hatten stellen müssen und die sie bisweilen an den Rand der Erschöpfung und in Teilen sicher auch der Verzweiflung brachten, sie kulminierten in diesem einen, perfekten Moment, in dem auf die Novizenerhebung auch die Erhebung von der Legionärin Eylis zur Novizenmeisterin Eylis erfolgte. Es war als sei dieser heilige Augenblick die Spitze all' dessen, was in den letzten Tagen, Wochen, Monaten an ihren Kräften gezehrt hatte und sich nun in einem einzigen, wundervollen Moment entlud. Perfekte Ordnung, gerade Linien, klare Strukturen. Dieser Moment war ein Fixpunkt im Zeitgeschehen, ein unverrückbarer Augenblick, an dem das Licht des Befreiers so klar leuchtete, dass es in alle Sphären strömte und zeigte:“Wir werden nicht wanken, wir werden nicht fallen. Wir sind aufrecht, wir sind das Licht.“

Beflügelt, beseelt von dieser Erkenntnis, die ihm in jeden Muskel, in jeden Knochen floss, erhob sich der Krieger aus dem metallenen Bündel, dass er bei dem Aufprall war erneut und schritt mit erhobenem Haupt zurück in diese Welt, in der zur Zeit das Chaos regierte. Flammen, Blut und Schweiß mischten sich weiter in einer Welt, die von brüllend über das Schlachtfeld getragenen Kommandos und Schmerzschreien erfüllt war. Diese Schlacht kontrastierte in so vielen Dingen mit dem perfekten Augenblick, den sie keinen ganzen Tag zuvor noch erlebt hatten.

Und das Zentrum dieser Geschehnisse war: Der große, schwarze Verheerer, die echsenartige Kreatur, die mit jedem Flügelschlag den Wahnsinn die Seele hinaufkriechen ließ. War es tatsächlich der Drechslerfluch oder ein abyssaler Schatten, der mit den Ängsten der Menschen spielte? Konnte es beides zugleich sein? Alles in seinem Körper trieb ihn in Richtung der Kreatur, dieses vollkommen Dunkels, dass er aus tiefstem Herzen hasste und verachtete, diese wandelnde Verderbnis, die ihre Schatten wie Puppen auf dem Feld dirigierte. Der Novize klammerte sich an den Augenblick seiner Erhebung und an die Worte der Priester, an das reinigende Feuer, dass die Kreatur immer weiter zu schwächen schien. Und während noch die letzten Schatten zurück auf die Ebene geschickt wurden, von der sie kamen, war eine Transformation zu beobachten, die des Novizen Aufmerksamkeit immer wieder auf sich zog.

Die Feuer, die heilige Präsenz des Herrn vermochten es tatsächlich mit Hilfe der Priester diese unglaublich verderbte Kreatur zu schwächen und sie schrumpfen zu lassen bis sie, nur noch ein kleiner Wurm ihrer einstigen Gestalt, sich in den nächstgelegenen Busch flüchtete, wo tapfere Krieger und bemühte Priester versuchten, nach dem Schattenwurm zu stochern, wie Speerjäger im Fluss nach einem Lachs. Irgendwer würde ihn treffen, ihm den Kopf abschlagen – es war ein Sieg.

Der Novize wollte sich soeben einen neuen Überblick verschaffen, das was noch soeben Chaos war, in eine ihm eigene Ordnung bringen, als er den Schatten sah, der schnurgerade aus dem Busch schoss. Ein kurzer Blick, was wohl am Ende des Weges sein mochte, den der mit weit aufgesperrtem Maul sich windende Wurm mit beachtlicher Geschwindigkeit zurücklegte: Die Erzpriesterin.

Es brauchte nicht einmal den Bruchteil eines Gedanken, als der Krieger, die Muskeln müde, die Glieder ermattet, in einem letzten Anflug von Kraft seinen Schild beiseite warf, seine Klinge fest umgriff und nach der Kreatur auf halbem Wege schlug. Ein Moment verging, als bräuchten seine Augen erst mehrere Lidschläge um zu begreifen was nun passierte. Denn anstatt entzweit vor ihm zu liegen, schlängelte sich das Wesen seine Klinge hinauf. Dem Krieger wurde schlagartig schlecht und als er dieser Kreatur so nah in die schattenhafte, schemenhafte Form blickte, spürte er erneut die Berührung des Wahnsinns und der Verderbtheit, die nach ihm leckte und ihn verlockte.

Aus der Ferne hörte er Ehrwürden Bernau brüllen, die Kreatur sei dem Feuer zu übergeben und nicht weniger würde der Novize tun, wenngleich all' das Geschehen um ihn herum zurücktrat als er seine eigene Stimme in seinem Kopf wahrnahm, die ihn bestärkte, antrieb, nicht nachzugebenmag auch mein Leib vergehennicht zu wankenmag die Erde daselbst in ihren Grundfesten bebennicht den Einflüsterungen nachzugebender göttliche Glanz erfüllt michsich dem Feuer zuzuwendenund macht meine Seele gesund. So sei es.

Dann wurde sein Geist schlagartig leer. Klar. Und alles was er hörte, war stille und er beobachtete sich selbst dabei, wie er auf die Knie fiel, vor diesem Feuer, dass so heiß und wundervoll brannte, als er seine Klinge hineinstemmte, mit diesem Wurm, dem letzten Relikt des Wahnsinns, dass diesen Ort verdorben hatte. Der Krieger überantwortete sich vollständig dem Willen dieser einzigartigen Glorie, folgte dem Feuer und fühlte sich, als sei er aus einem tiefen Schlummer erwacht, der nicht erholsam sondern unendlich kräftezehrend war, als die Kreatur einen tiefen Schrei ausstieß und letztendlich verging.

Was in einer Überwältigung blieb die er noch nie zuvor gespürt hatte, waren nicht nur die Eindrücke dieses Kampfes, sondern auch dieses Gefühl sakraler Vollkommenheit und Heiligkeit, die ihn inmitten des Salzkreises und am Feuer umfing. Ein Gefühl, dass ihn gleichermaßen erfasste, wenn er den Tempel betrat. Ein Hochgefühl, als müsste er in jedem Augenblick, in dem ihm die Gnade dieses Gefühls zuteil wurde, die Waffe aufnehmen und weiterkämpfen, unablässig, pausenlos, bis entweder sein Leib sich auflöse oder er im Kampf fallen würde. Micael, wie auch Phoebe hatten die Veränderung bemerkt, ohne vielleicht ihre Tragweite begriffen zu haben, sich vielleicht sogar gesorgt, dass seine Seele schaden genommen haben könnte, wenngleich das, was die Klerus-Anwärterin später sagte, kaum näher an der Wahrheit hätte sein können:“Ihr seid wie eine Flamme, der man zu viel Nährboden gegeben hat und mit all den Neuen Eindrücken Zeit braucht, sie zu verstehen, Novize Stein.“

Und als der Novize die Gänge des Tempels rastlos abschritt, Ruhe in seinem Bett suchte, später von Micael zur Ablöse geweckt wurde und genauso rastlos vor dem Tempel stand und dabei mehr als sonst vor den Toren auf und abschritt, diesem unbändigen Bewegungsdrang nachgeben müssend, erinnerte er sich immer dieser Worte, die es ihm ermöglichten, diese neue Sicht auf die Welt in strukturierte Bahnen zu lenken. Die Analogie mit dem Nährboden traf zu, denn sein Hunger, stärker zu brennen, sich selber gar zu entflammen an der Gabe des Herrn, verwandelte sich nur langsam in ein Glimmen, ein Schwelen, dass nur darauf wartete, dass man erneut eine Fackel daran hielt.

Für die meisten mochte es vor allem eine Schlacht der Befreiung, das Tilgen eines Übels gewesen sein – für Yngvar Stein hatte diese Nacht die Sicht auf die Welt vollständig verändert.

[Bild: zhaitan__the_elder_dragon_of_death_by_la...6t9o66.jpg]
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Yngvar - von Gast - 21.12.2015, 22:09
Im rechten Licht - von Gast - 02.01.2016, 13:06
Yngvar Pt. 3 - von Gast - 05.01.2016, 12:58
Yngvar Pt. 4 - von Gast - 09.01.2016, 03:12
Yngvar Pt. 5 - von Gast - 11.01.2016, 01:35
Yngvar Pt. 6 - von Gast - 17.01.2016, 12:02
Yngvar Pt. 7 - von Gast - 19.01.2016, 23:28
Yngvar Pt. 8 - von Gast - 22.01.2016, 11:58
Yngvar Pt. 9 - von Gast - 22.01.2016, 22:48
Yngvar Pt. 10 - von Gast - 26.01.2016, 22:17
Yngvar Pt. 11 - von Gast - 03.02.2016, 17:33
Yngvar Pt. 12 - von Gast - 11.06.2016, 12:36
Yngvar Pt. 13 - von Gast - 07.07.2016, 18:31
In Schutt und Asche. - von Gast - 22.12.2016, 01:31
In Schutt und Asche (Fortsetzung) - von Gast - 22.12.2016, 15:22
Die Inspiration des Priesters - von Gast - 27.12.2016, 15:09
Familie. - von Gast - 28.12.2016, 11:36
Splitterwelt. - von Gast - 03.01.2017, 17:31
Der Königsberg - von Gast - 09.01.2017, 23:00
Unverlöschbar & Unerstickbar. - von Gast - 19.01.2017, 14:06
Eine Myriade an Leuchtfeuern. - von Gast - 11.02.2017, 21:04
Die Rekrutin - von Gast - 13.02.2017, 18:02
Ausgesperrt. - von Gast - 07.03.2017, 19:13
Skalpell. - von Gast - 20.03.2017, 16:38
"In tiefster Nacht." - von Gast - 08.04.2017, 10:02



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste