FSK-18 Yngvar
#2
Im rechten Licht

Löwenstein spielte auf der Klaviatur des Lebens seiner Einwohner – und es spielte meisterlich. Jeder neue Tag brachte auch ein neues Stück auf diesem altehrwürdigen, gottgeschmiedeten Flügel. Der Tag begann mit der Harmonie des heraufziehenden Morgens, der Sonne, ja Mithras höchstselbst, wie er sein wachend' Auge über Stadt und Land ausbreitete. Und während die Feuchte der Nacht noch vom Antlitz der Welt unter seinem wachenden Auge weggebrannt wurde, begann die Stadt einen weiteren Akt aufzuspielen.

Voll von Dissonanzen und ungleich weniger harmonisch krochen die Menschen aus ihren Behausungen und begannen ihr Tagewerk. Das hässliche Gesicht von Löwenstein, es begann sich in diesem emsigen Treiben zu manifestieren, bis auch der letzte Mensch sich auf die Straßen getrollt hatte und damit den harmonischen Gleichklang mit Fehltönen zu besetzen begann. Man konnte nun betrübt darüber sein, dass die Schönheit dieses Zentrums aller Lehen in all' dem Grienen und Poltern unterging – oder man konnte seine Ohren noch etwas weiter spitzen. Was nämlich anfänglich wie eine Aneinanderreihung einzelner, unzusammenhänger Störgeräusche im großen Instrumentarium dieser Stadt anmutete, erhielt den Klang mithrasgefälliger Harmonie und Ordnung, wenn man nur genau zuhörte. Den Schmied aus fernen Baronien zog es täglich erneut auf dem gleichen Weg zur Markthalle, wo er seine Waren feil bot, genau wie Bauern Servanos ihren Posten auf dem Marktplatz bezogen und anpreisend, schreiend und grölend ihre besten Erträge feilboten, nur um später auf den gleichen Wegen wieder auf ihre Äcker zu gehen, damit sie am kommenden Morgen erneut auf dem Marktplatz stehen konnten. Es waren immer die gleichen Wege, die gleichen Lebenslinien, die sich durch das Aderngeflecht dieser Stadt zogen, die, je länger man sie betrachtete, aus natürlichem Antrieb, ohne dass sie es bemerkten, sich der Ordnung Mithras' fügten. Gleich ob Mondwächter oder im richtigen Glauben stehend, gleich ob tiefgläubig oder nur alltagsverehrend, die meisten von ihnen hielten sich an das Geflecht der Ordnung, dass unser einziger Herr über die Welt gebracht hat, als die lange Nacht von Sklaverei und Blutzoll endete. Das mochte die Andersgläubigen nicht weniger falsch in ihrem Denken machen, wohl aber zeigte es die umfassende Allmacht des einzig wahren Gottes, dessen wundervolle Herrlichkeit selbst dort schien, wo sich die Menschen von ihm abgewandt hatten.

Als der goldene Ball über den Dächern Löwensteins stand und den Tempel des Mithras in ebensolches Licht tauchte, wirkte es auf den einstigen Sünder, der sich mittlerweile in der Anwartschaft der Sonnenlegion befand, als wäre es die Hand des Herrn höchstselbst, die in wundervollem Licht über die Häuser seiner Stadt strich. Ja, es war seine, Mithras' Stadt. Und er konnte über Fall oder Glorie dieser Stadt, in der Licht und Schatten täglich miteinander rangen, besser urteilen als jeder andere, wurden doch die Grundsteine auf die Initiative seiner Herrlichkeit und Größe hin gelegt.

Das Morgengebet bereits hinter sich, drückte Yngvar seinen auf Füße und Hände gestützten und gerüsteten Körper mittlerweile immer wieder aus der Bodenlage hinauf, in eine gerade, horizontale Haltung. Die Atemwolken, die sich dabei von seinem Mund absetzten, wurden kontinuierlich größer und wenngleich er Übungen dieser Art nicht mit vielen Wiederholungen bedenken konnte, hatten sie ihm bereits viel dabei geholfen, die kühle Klarheit und Einsicht, die von den Gebeten an den Herrn zurückblieb, länger greifbar zu halten. Und solange er Methoden gefunden hatte, seinen Geist vollständig von allem zu reinigen, was nicht dem Kontext Mithras' entsprach, würde er diese anwenden – immer und immer wieder.

Er hatte bereits selber angefangen sich zu fragen, wie er so schnell nach dem Rettungsanker der Kirche nicht nur gegriffen hatte, sondern die Kette mittlerweile zum großen Schiff der Gefolgschaft des Einen und Wahren mit ausladenden Bewegungen emporkletterte. Wenngleich die Frage sich aufdrängte, fiel die Antwort gleichwohl simpel aus: All' das Laster und die Sünde, die ihn aus seiner Heimat weg und in die Arme der Kirche getrieben hatte, waren ihm zutiefst zuwider gewesen. Sein bisheriges Leben war von der Furcht geprägt, niederen, hässlichen und gänzlich unkeuschen Trieben nachzugeben, während er nach außen die Fassade des stolzen und ehernen Sohnes eines guten Hauses aus Nortgard vorgeben musste, gleichwohl er und seine Schwester das innerste seiner Familie mit Verwesung durchhöhlt hatten. Kontemplationen dieser Art hatten stets zur Folge, dass die Splitter des Lasters, dass in seinem Kern bereits zerbrochen war, sich in kurzen, aber hässlichen Schüben durch seinen Leib bohrten – und so auch jetzt. Die reine Erinnerung an seine Schwester führte dazu, dass sein Geist automatisch das Bild ihres nackten, vollkommenen Körpers aus den Tiefen seiner Seele zurückholte, wo er es bereits ver-, nein, begraben glaubte und sein Körper folgte der Verknüpfung, die er mit diesem Bild hatte, indem das männlichste seiner Körperteile in freudloser Erwartung anzuschwellen begann.

„Mehr Wiederholungen“ empfahl sich der Anwärter Stein, als eine weitere, nun gequältere Wolke heißen Atems sich dem Körper entsagte und einen letzten Kuss von Wärme und Vergänglichkeit auf die zermarterten Züge seines Gesichts zeichnete. Die Schweißbildung unter Kleidung und Rüstzeug begann mittlerweile Juckreiz auszulösen, der glücklicherweise in Kooperation mit der Anstrengung dafür sorgte, dass das Bild des lastervollen Geschwisterchens schnell verschwand – schneller als sonst. Ein Erfolg.

Als er sich, die Glieder müde und weich, aus der Selbstmarterung und gleichermaßen Ertüchtigung erhob, betrachtete der Anwärter einmal mehr das Lied, dass die Stadt nun spielte und die Dissonanzen blieben fort, waren Momenten der Klarheit gewichen, die sich ihm vom Dach des Tempels in ihrer vollen, majestätischen Schönheit, ausbreiteten.

Es galt nun, mit frischem Wasser die Schwäche aus dem Leib zu spülen und damit neuer Kraft Platz zu schaffen. Es war nur noch eine Nacht bis zur Lichtwacht und es würde sicher noch viel zu tun geben, auch und insbesondere für einen Anwärter der Sonnenlegion.

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Yngvar - von Gast - 21.12.2015, 22:09
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