FSK-18 Vogelflug
#3
„Töte sie.“

Wie versteinert stand Isabelle in der verfallenen Kirche, vor dem Meister, vor seinen Lakaien und vor der Frau, deren Lebensende soeben entschieden wurde. Sie war mittleren Alters und doch in ihrer Schönheit noch nicht verwelkt. Isabelle schluckte die aufkeimende Panik hinunter, die drohte ihr die Kehle zuzuschnüren und ihre Ohren klingeln ließ, so dass es unglaublich schwer fiel, die folgenden Worte überhaupt zu hören, geschweige denn zu verstehen.

"Isabelle."

Starr ruhten die dunkelgrünen Augen auf der Frau, die mit stolz erhobenem Haupt von zwei Kultisten festgehalten wurde, jedoch keine Gegenwehr zeigte und Isabelle keines Blickes würdigte. Isabelle kannte die Frau, wusste sie war einer seiner höherrangigen Diener und doch hatte sie nie Worte mit ihr gewechselt. Natürlich nicht, dafür war Isabelle zu unwichtig, zu weit unten im Gefüge um überhaupt wahrgenommen zu werden.
Warum also sprach der Meister nun zu ihr? Erwartete er, dass sie jemandes Leben beenden würde? War es eine Prüfung? Was wenn sie sich weigerte?
Ein tiefes Ausatmen machte Isabelle erst bewusst, dass sie ihre Luft angehalten hatte.

„Elster!“

Der Name drang Isabelle durch Mark und Bein und ließ sie unwillkürlich schaudern. Aus ihren Gedanken gerissen sah sie langsam zum Meister. Oder zumindest dorthin, wo sie den Meister zuletzt sah. Dort stand jedoch niemand mehr, stattdessen spürte sie wie Finger sich in ihre Schultern gruben und eine Präsenz in ihrem Rücken, die ihr Blut zu Eis gefrieren ließ.

„Töte sie, Isabelle.“

Flüsterte eine grausame Stimme nahe an ihrem Ohr und Isabelles Körper versteifte sich, als Grauen und Angst ihr erneut den Atem nahmen. ‚Nein‘ – flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. ‚Ich will nicht‘.
Und doch verließ kein Wort ihre Lippen. Sich weigern bedeutet den Tod oder schlimmer, sich weigern bedeutet Schmerz, der so viel schlimmer war als der Tod.
Wie um den Beweis anzutreten, begann sich ein stechender Schmerz von ihrem Mal auszubreiten, während Finger mit spitzen Nägeln sich hart in ihre Schulter gruben.

„Sie hat uns verraten. Sie muss sterben. Wie faules Fleisch, muss sie herausgeschnitten werden. Töte sie, Isabelle. Beweise ihm deine Loyalität.“

Der Schmerz war noch erträglich und erlaubte ihr einen Blick auf Kyron zu werfen, der ihr zunickte, als würde er die Worte für gut und richtig befinden. Dann sah sie weiter zu Belshira, deren Gesicht zu einer gehässigen Grinsen verzogen war. Und da waren weitere gesichtslose Fratzen, die ihre Zustimmung gaben. Die nach Blut und Tod lechzten. Es gab kein Entrinnen, keinen Ausweg. Nur das hier und jetzt und gehorchen, gehorchen, gehorchen.
Wie von einem unsichtbaren Faden gezogen hob sie den Arm an, der unklar ob aus Angst oder Schmerz, zitterte. Die Zeit schien für einen Moment still zu stehen, genauso wie Isabelles Herz, als sie ihre Klinge durch den Brustkorb der Frau trieb, um das Herz der Frau zu durchstoßen.
Sorgsam darauf bedacht, nicht in das Gesicht der Frau zu blicken, sah Isabelle auf die Klinge hinab, die bis zum Heft in der sterbenden Hülle steckte. Sie musste nicht in das Gesicht der Frau blicken, denn sie wusste bereits, dass dort nur Hass und Abscheu auf sie warteten.
Als die Frau auf die Knie herab sackte, folgte Isabelle treu der Bewegung, so dass einzig das Schwert, dass in der Brust der Verräterin steckte, deren Oberkörper aufrecht hielt. Die spitzen Fingernägel lösten sich von Isabelles Schultern, der Schmerz verebbte abrupt und doch wagte Isabelle nicht aufzublicken. Ein Röcheln und letztes Ausatmen verriet ihr, dass die Frau ihren letzten Atemzug getan hatte. Sie war tot. Isabelle hatte sie umgebracht. Getötet. Ermordet. Ein Leben genommen.
Mit einem hässlichen, feuchten Geräusch glitt der tote Körper langsam von ihrer Klinge und nun konnte Isabelle einen Blick in die toten Augen der Verräterin werfen. Sie starb nicht friedlich und ihre Seele hatte im Abyss keine Gnade zu erwarten. Und doch wirkte ihr toter Blick, wie der einer Schlafenden, entspannt und irgendwie erleichtert.
Erst als sich zwei warme Hände (nicht kalt, nicht der Meister) an ihre Wangen legten und Daumen Flüssigkeit wegstrichen, merkte Isabelle, dass Tränen ihre Wangen benetzten.

„Warum weinst du, Isabelle?“

Als sie aufblickte, kniete Kyron vor ihr und lächelte, als sei er der glücklichste Mann auf Erden. So, als hätte sie soeben etwas Großartiges vollbracht. Und in dem Moment, indem seine Lippen, die ihren berührt sollten, zerfloss Kyrons Gestalt, wie ein Stück Butter, das zu lange in der Sonne lag. Blut, Schleim und andere Körperflüssigkeiten sickerten in Isabelle, als wolle die Flüssigkeit sich mit ihr vereinen.
Nicht mit einem Schrei, aber mit einer Panikattackte, die Isabelle die Luft zum Atmen raubte, erwachte sie.

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Spät Nachts im kleinen Zimmer über der Taverne, mit tiefen Ringen unter den Augen, saß Isabelle und studierte einen Brief, der lediglich mit den Initialen Y.K. unterzeichnet war.
Auch wenn der Traum nicht der Realität entsprach, war er doch zu ähnlich, um kalten Schweiß auf Isabelles Stirn aufbrechen zu lassen.

„Warum jetzt? Was willst du?“

"Hmmm?"

"Nichts, Lawin. Schlaf weiter. Es war nur ein Traum."
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Vogelflug - von Isabelle McElister - 23.08.2015, 00:18
RE: Vogelflug - von Isabelle McElister - 23.08.2015, 00:25
RE: Vogelflug - von Isabelle McElister - 05.09.2015, 22:47
RE: Vogelflug - von Lawin Herbstlaub - 06.09.2015, 04:54



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