Die Saat des Irrtums
#21
Aus Träumen in Ängsten bin ich erwacht;
Was singt doch die Lerche so tief in der Nacht!

Der Tag ist gegangen, der Morgen ist fern,
Aufs Kissen hernieder scheinen die Stern'.

Und immer hör ich den Lerchengesang;
O Stimme des Tages, mein Herz ist bang.

~ Theodor Storm (1817 - 1888)

"Du weißt, ich könnte dich zwingen."

Kyron blinzelte angestrengt gegen die Trockenheit in seinen Augen. Der Geschmack des Wermuths klammerte sich selbst nach dem Erbrechen und dem Spülen mit Schnaps noch an seine Zunge, an die Kehle, hing im Rachen und der Nase und kratzte an seinem Gaumen. Honigbrand schien das Einzige, das den teuflischen Schleim noch irgendwie zu bändigen vermochte, aber das Stechen des Alkohols gegen seine gereizte Kehle hatte ihn gelehrt, etwas abzuwarten bevor er den Gallegeschmack fortzuspülen versuchte. Dennoch, der Wermuth hatte geholfen. Zugegeben, die für die ermunternde Wirkung notwendigen konsumierten Mengen zwangen ihn regelmäßig dazu, den grünlichbraunen Schleim wieder zu erbrechen und Magenkrämpfe auszureiten, aber solange er dabei wach blieb und ihm nicht die Zähne ausfielen, war das ein Preis den er bereitwillig zahlte.
Sechsunddreißig Stunden ohne Schlaf. Zumindest hatte seine letzte träge Kopfrechnung das ergeben. Wann war er so alt und gebrechlich geworden, dass er nach anderthalb Tagen bereits schwächelte? Trügte ihn etwa die Erinnerung an frühere Jahre, in denen er bis zu drei Tage Widerstand geleistet hatte, bevor er unter dem Druck des Meisters zusammengebrochen war?
Nein. Aber damals war er Pegelsäufer gewesen und hatte einen vertrauenswürdigen Giftmischer zur Seite gehabt. Schnaps und Sandast, die ihn vergessen ließen, wie Erschöpfung sich wirklich anfühlte. Die Kombination hatte ihn zwar mehrmals beinahe getötet, aber sie hatte ihn auch härter sein lassen, robuster, widerstandsfähiger. So nüchtern, aufgeräumt, wohlgenährt und bequem wie sein Leben geworden war, war es kein Wunder dass nicht nur Cahira etwas von ihrer Soldatenhärte verloren hatte. Wer rastete, der rostete eben, und Kyron hatte zwei Jahre der Rast verstreichen und sich gehen lassen.
Im Nachhinein war man eben immer klüger. 

"Du sollst sehen, was die Zukunft bringt, was ich sehe. Was unvermeidlich geschehen wird."

Am Horizont ging die Sonne auf, streckte ihre rosa und rot gefärbten Klauen über die weißgekrönten Wellen und zog ihre unerbittlichen Scharten durch die Herbstnebelbänke an der Küste. Mit den Lichtstrahlen kam ein mäßiger, matter Schub von Energie, kaum mehr als die instinktive Reaktion eines tagaktiven Tiers auf den Anbruch des Morgens. In wenigen Stunden würde auch diese Reserve aufgebraucht sein, und dann würde die Müdigkeit ihn wieder packen. Wie die Klauenfinger des Meisters, die seinen Schädel gepackt hatten, ihm den einzigen Ausweg aus dem was folgen würde genommen hatten. Die Augen des Meisters, die violetten, zuckenden Schatten darin, hatten die Müdigkeit zum Feind gemacht. Seine Lippen hatten prophezeit, was passieren würde wenn Kyron den Kampf verlor und die Träume zuließ. Und Kyron selbst wusste was passieren würde, wenn er verlor. Mehr noch, er wusste dass er nicht gewinnen konnte. Wie gewann man schließlich gegen ein Grundbedürftnis, das für das Überleben essenziell war? Niemand konnte ohne Schlaf überleben, nicht mehr als ein paar Tage, und umso mehr er es hinaus zögerte, umso länger würde er träumen, umso länger würde er gefangen sein in dieser Vision einer Zukunft, die er mit Zähnen und Klauen zu verhindern versuchte. Der Gedanke allein krampfte sein Herz furchtsam zusammen.
Kyron schloss die Augen, atmete tief ein und versuchte seinen Kopf zu leeren. Den Sonnenaufgang zu genießen. Die Wärme der ersten Strahlen auf seinem Gesicht zu fühlen, statt sich auf die Finsternis in seiner Brust zu konzentrieren. Für einen Moment, nur einen kleinen, sank er in die milde, frische Stille, die trügerische Wärme des ersten Lichts, den schmeichelnden Wind der jeden Küstenmorgen begleitete...

Der Kessel blubbert fröhlich, der Geruch nach Kürbis, gerösteten Zwiebeln, Braten, mischt sich mit dem Geruch nach Blutwurst, frittierter Leber. Ein Festtagsessen für den Julmond.
Cahiras Schürze ist blutig, befleckt mit den typischen Küchenspuren, ein paar getrocknete Kräuter haben sich an ihrer Wange verfangen und bröseln herab als sie ihm entgegen lächelt.
Ihre Augen sind glasig, zu hell, in die Ferne fixiert, das Lächeln zu breit, zu befreit. Der Anblick lässt etwas in seiner Brust enger werden, sein Herz beginnt zu rasen-

Selbst die Rüstung konnte Kyron nicht ewig aufrecht halten. Das Einknicken seines rechten Knies riss ihn gerade rechtzeitig aus dem Sekundenschlaf, um sich krachend mit beiden Händen an der Böschung hinter sich abzufangen bevor er ungelenk zur Seite kippen konnte. Der diffuse Entsetzenslaut hallte die Erdhänge entlang und wurde vom Nebel gefressen, ebenso wie der harte Galopp seines Herzschlags gegen die Rippen. Das Geträumte verflog wie der Morgentau, langsam und stückweise aber unwiederbringlich, die Müdigkeit schien jedoch fürs erste gebannt.
Was zum Abyss war das gewesen? Wichtiger noch, was hatte ihn daran so verängstigt? Und wollte er wirklich noch einmal Schlaf riskieren um es heraus zu finden?
Mit einem Ruck drückte Kyron sich von der Böschung ab und setzte seinen Marsch fort, zurück gen' Rabenstein. Der Traum würde zurückkehren, sich fortsetzen, früher oder später, unweigerlich wie Ebbe und Flut. Das einzige was er dagegen tun konnte war dafür zu sorgen, dass die Stücke klein blieben, kurz blieben, und er zu betäubt und weggetreten war um sich ihnen wirklich stellen zu müssen. Sandast wäre besser gewesen, aber Honigbrand und Wermuth taten es auch. Soviel zur hart verteidigten Nüchternheit.

"DU WIRST SEHEN."
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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