Die Saat des Irrtums
#13
Nach dem Rausche dieser Stunden,
Dieser seligen Sekunden,
Dem Verflackern meiner Glut:

Sänftigt sich des Herzens Klopfen,
Und es fällt ein dunkler Tropfen
Reue in mein rotes Blut…


Reue - Hugo Salus (1866 - 1929)

Die Schmiede war ein guter Ort um nachzudenken, ohne nach zu denken, und der einzige Ort, an dem Kyrons Hände niemals ruhen mussten. Isabelles Rüstung hatte genug Dellen, Scharten und Knicke, um einen hauptberuflichen Schmied für einen ganzen Tag zu beschäftigen. Kyron hingegen war nur Reparaturschmied, und nicht wirklich interessiert daran, die Rüstung "wie neu" aussehen zu lassen; solange sie ihren Dienst wieder tun konnte, war die Arbeit gut genug. Natürlich war es wohl wahr, dass auch er hätte schneller arbeiten können, aber noch gab es zuviele Gedanken einzufangen.
Es war dumm. Dümmer als dumm. Ich hätte es nicht tun sollen. Mich nicht setzen sollen. Nichts vom Essen nehmen sollen. Ich hätte auf das Brandmal verweisen sollen, auf das Verbot, mir Unterkunft oder Verpflegung zu bieten, ich hätte nichts sagen sollen. Nun sind sie alles des Todes, und ich muss ihre Kehlen durchtrennen, bevor sie zur Kirche rennen.
Schlichthammer und Flachhammer sangen ihr atonales, scharfes Klagelied, dem bis auf einen mehr oder weniger gleichmäßigen Rythmus jegliches Musikgefühl fehlte. Die Eissturmaugen starrten durch die Arbeit hindurch, ins Nichts, zu beschäftigt mit sich selbst, dem eigenen, üblichen, immer wiederkehrenden Elend. Es war schwer, sich noch daran zu erinnern wie sich Panik, Hoffnungslosigkeit, Angst eigentlich anfühlen sollten. Für ihn waren diese Gefühle ähnlich einer Türschwelle, über die tausende von Füßen gegangen waren, bis die Kanten vertreten, die Trittfläche gebogen, das Holz grau geworden war. Mehr Mühe, sich daran zu erinnern, wie sie sich früher angefühlt hatten, als sie noch echt gewesen waren, als einfach in der geistigen Stille zu verbleiben, die ihn nun erfüllte.
Kordian. Beim ersten Anblick hatte Kyron nicht gewusst, ob er dem Mann die Faust zur Begrüßung ins Gesicht schieben sollte, oder ob es ein guter Zeitpunkt war, in unmännliche Tränen auszubrechen. Wussten die Götter woher der Drang gekommen war, denn aus der Grabesstille in Kyrons Brust kroch in den letzten Wochen nur selten etwas, abseits von milder Unzufriedenheit, oder ebenso milder Zufriedenheit. Am Ende hatte weder das Eine, noch das Andere seinen Weg an die Oberfläche gefunden. Der Anblick des Meisters' linker Hand hinter Kordian hatte wie stets den Effekt eines Eimers kalten Wassers gehabt, und Kyron hatte weitere Fragen herunter geschluckt, zusammen mit jeglichem Ausbruch von Schutzinstinkten.
Habe ich ihm wirklich das Leben gerettet? Alles was ich tat, war ihn aufzufordern, seine Rüstung wieder anzuziehen. Löwenstein ist gefährlich, auch ohne den Meister, auch ohne seine Handlanger. Es hatte sicher nichts mit jenen zutun. Oder doch?
Kyrons Hände arbeiteten mit schlafwandlerischer Sicherheit, wanderten von Rüstungsteil zu Rüstungsteil, fanden Scharten, die ausgeschliffen wurden, Dellen, die er ausbog, Scharniernieten, die er ersetzte, und doch waren Herz und Kopf an anderen Orten. Kordian. Immer wieder Kordian. Beinahe war Blut geflossen, dort am Stall, beinahe hatte Kyron in seinem Dienst versagt. Als Kordian so dicht zum Meister getreten war, da hatte Kyron für einen Moment nicht gewusst, wen er nun rettete, als er seinen Hauptmann mit einem eingeübten Schulterstoß zur Seite beförderte. Sich selbst? Den Meister? Den Hauptmann?
Es war alles zu verwirrend. All die Gedanken rissen an seinem Herzen, als gelte es, den verhärmten Muskel in Stücke zu teilen, und ganz ehrlich wusste er nicht mehr, wen er tot sehen wollte. Einer von ihnen würde sterben müssen, aber jeder Tod würde ein Loch in das Gefüge reißen, das niemals wieder gestopft werden könnte. Für einen Moment am gestrigen Abend, da hatte er wirklich geglaubt, wirklich gehofft, dass Kordians Tod alles lösen würde. Er hatte gehandelt, schnell und ohne zu überlegen, bevor sein Wille ihn verlassen konnte, und doch versagt.
Für Momente danach, da hatte er geglaubt, der Meister könne sterben um diese Schrecken endgültig beizulegen. Wenn jemand in der Lage war, den schwarzen Diener des bleichen Lords zur Strecke zu bringen, dann war es Kordian, und für einige schreckliche Minuten, da hatte er sich dieser Vision hingegeben. Dem Gedanken hingegeben, was wohl sein würde, wenn der Meister tot war.
Die Erinnerung daran, wie der Tod eines Präzentors in der Vergangenheit dazu geführt hatte, dass ein neuer, schlimmerer Präzentor aufstieg, hatte seinen Kopf für einen Moment in Schwärze getaucht, und mit dieser Schwärze war auch die Idee verloren.
Und sein eigener Tod? Das würde den Streit beilegen. Die Klinge würde weiter existieren, der Meister würde weiter existieren, und es würde keinen Grund mehr geben, Krieg gegeneinander zu führen. Ja.. sein eigener Tod. Das war eine Lösung. Eine ärgerliche Lösung, nun wo der Meister ihm verboten hatte, sich selbst das Leben zu nehmen. Er konnte nicht einmal loslaufen und sich mit einem Geständnis den Tod erkaufen, denn auch dagegen hatte er Schwüre abgelegt. Er konnte niemanden um den Tod bitten, denn auch das war verboten. Was tun? Was tun?
Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, teils vom Schmiedefeuer, teils von der Anstrengung der Arbeit, und teils von den widerlichen, kriechenden Gedanken, die sein Rückgrat hinauf schlängelten. Es fühlte sich schmutzig an, so zu denken, ähnlich so, wie es sich anfühlen musste, die Augen in heißen Teer zu tunken.
Mit fahrigen Bewegungen sammelte er die reparierten Rüstungsteile ein, schob sie ineinander bis sie ein kompaktes Paket bildeten, und warf sich dieses schnaufend über die Schulter. Mit jeder Geste zitterten die Finger etwas mehr.
Nein, dies war kein Zustand, den er länger ertragen wollte. Die Unruhe, die Aufgewühltheit, die Verwirrung, all diese Gefühle brachten ihn vom Pfad ab, lenkten ihn zurück in die Einöde der Wildnis, in der kein Ziel greifbar war. Das letzte Mal hatte die Wildnis ihn beinahe verschluckt, und nur der Meister war in der Lage gewesen, ihn zurück zu holen, auf den Weg zu bringen, ihm Ruhe zu schenken.
Ruhe. Das ist es doch was du willst? Ruhe von dem Sturm, der dich wie ein Blatt herum reisst. Ruhe von deinen Gedanken, Ruhe von der Selbstzerstörung, Ruhe von all den Entscheidungen, die du nie treffen wolltest. Du warst glücklich, bevor Kordian wieder kam, warst du es nicht? Erinnerst du dich daran, wie es sich anfühlte? Du kannst es wieder haben. Du weißt, wie du die Ruhe finden kannst. Du weißt, was er tun wird, wenn du nicht handelst. Du hast es Kordian gesagt, erinnerst du dich?
Er würde Haut verlieren, das wusste er. Zuviele Fehltritte, zuviel bewusste Verstöße, der Meister würde keine Nachsicht zeigen können. Das Flattern in seiner Brust erinnerte ihn ein wenig daran, wie Schuldgefühle sich früher angefühlt hatten. Vielleicht waren es auch echte Schuldgefühle, derer er sich nur bewusst werden musste. Es gab eine Lösung für Schuldgefühle, der Meister hatte sie ihm gezeigt.
Ein kurzes, leeres Schmunzeln huschte über Kyrons verkrampfte Miene.
Die Spirale. Ich kann sie selbst ziehen.
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 23.07.2015, 16:45
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RE: Die Saat des Irrtums - von Cahira Mendoza - 23.03.2020, 20:56



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