Die Saat des Irrtums
#5
Noch einmal, eh' die Nacht
Erdrückend mich umfängt,
Hat eines Auges Sonnenpracht
Mir einen Blick geschenkt.

Es traf ein lichter Funkenstrahl
Mein Dornendiadem,
Ich möchte gern ein letztesmal
Noch beten! – doch zu wem?


Noch einmal - Felix Dörmann (1870 - 1928)

Salz, Salz, Salz. Es brannte in den Schürfungen der Fingerspitzen, aber wenn er weniger Druck ausübte und vorsichtiger beim Zusammenhäufen der dämonischen Körner vorging, linderten die Krusten den Schmerz ein wenig. Vorsichtigeres Wischen bedeutete allerdings auch, dass er mehr Zeit verbrauchte, und Zeit war etwas, das Kyron nicht einschätzen konnte.
Die Manschette um seinen Hals war zu Anfang äußerst unangenehm gewesen, und er hatte seine eigene Schlamperei verflucht, ganz in der Annahme, dass er die Kanten nicht gut genug geglättet hatte. Nach einer gewissen Zeit hatte er das Gewicht der Halsschelle und der daran befestigten, massiven Eisenkette allerdings nicht mehr gesondert wahrgenommen, auch wenn der stetige Druck an seinem Hals seinen Atem hörbar pfeifen ließ. Nicht, dass er angekettet war, das nicht. Das Gebilde diente lediglich einem Vorführeffekt, der Verdeutlichung eines Zustands den Kyron nicht vergessen durfte. Wäre er mutiger gewesen, er hätte samt Manschette und der Kette, die er sich inzwischen wie eine Toga um den Oberkörper geschlungen hatte, zur Türe hinaus marschieren können. Das schwere Metallgebilde war es allerdings nicht, das ihn hier festhielt; es war die Angst.
"Wenn du keinen gesonderten Auftrag hast, wir nicht angegriffen werden und ich es nicht anders verlange, dann ist das der Abstand den du zu jeder Zeit zu mir haben wirst. Nicht näher, nicht weiter als das." Kyrthon's Wunsch war eine erleichternde Anweisung gewesen. Kyron mochte Anweisungen. Anweisungen waren einfach, leicht zu merken, leicht zu befolgen, und erforderten keine weitere Diskussion. Es war diese Vorliebe für das geordnete, strukturierte Leben, die ihn zu einem so guten Soldaten gemacht hatte - teilte man ihm eine Regel einmal mit, hielt er sich ganz von selbst daran und musste nur noch in den seltensten Ausnahmefällen daran erinnert werden. Andere Anweisungen waren nicht so leicht zu befolgen, weniger weil er nicht wollte, als eher weil er - seiner Meinung nach - nicht konnte.
Seine Finger begannen zu zittern, selbst als er den Gedanken zu verdrängen versuchte bevor er sich ganz formen konnte, und das Zittern malte feine Wellenlinien in die Salzspur unter seiner Hand. Wenn er die Hand zurückzog, würde die Erinnerung seinen Verstand stürmen, aber wenn er sie nicht zurück zog, würde der nächste Tag eine weitere Strafe, eine weitere Erinnerung einbringen, die er wahrlich nicht erleben wollte. Es war die Wahl zwischen Pestilenz und Keuche, und am Ende gewann die Pestilenz.
"Wenn du nicht still hältst, wird die Strafe nur länger," raunte des Meisters ungnädige Stimme. Quiek, quiek, quiek machten die Ratten im kleinen Topf, während sie über seinen Bauch trippelten und scharrten.
Mit einem rauhen Krächzen krabbelte Kyron aus dem Salzmuster, stützte sich auf alle Viere und hustete und würgte bis ihm die Tränen in die Augen stiegen. Nicht dass da etwas war das noch hochkommen konnte, bis auf etwas rötlich verfärbte, zähe Speichelfäden gab sich nichts die Ehre. Zumindest hatte er dank dieser wiederkehrenden Panikattacken gelernt, wie er mit einem Minimum an Schaden am zu behütenden Muster in eine Ecke flüchten, sein erbärmliches Wimmern erledigen und dann wieder an seinen Platz zurückkehren konnte, denn egal was geschah, am Ende würde nur seine Aufgabe zählen.
Aufgabe, Aufgabe. Ein widerliches Wort war es, zweideutig und einspurig zugleich. Die Aufgabe aufzugeben würde bedeuten, dass die Ratten wiederkamen. Er konnte sie jetzt noch hören, wie sie mit ihren widerlichen kleinen, nackten Pfoten über die Steinplatten des Hauptraums liefen, wie sie nagten und quiekten und krabbelten und kletterten. Keine zehn Dämonen würden ihn freiwillig aus seinem kleinen Raum bekommen, ganz zu schweigen von dem schieren Gedanken, noch weiter zu gehen und zur Türe zu flüchten. Und wohin sollte er auch gehen? Dureth fand ihn überall, und er brauchte keine physikalische Nähe um ihm weh zu tun. Wenn Kyron flüchtete und Dureth ihn fand, dann würde er etwas noch Schlimmeres tun als... das.
Aber aufgeben, und die Aufgabe erfüllen? Aufgabe in ihrer anderen Form?
Die Müdigkeit war verschwunden, schon vor einiger Zeit, schon als die ersten Tropfen des Blutes seinen Magen erreicht hatten, aber sie hatte die Bühne für entrückte Wirrnis, Erschöpfung und Verstörung geräumt, für Durst und für Hunger und für all die kleinen Schmerzen, die ihn immer und immer wieder von seinem Ziel abbrachten.
Ein weiterer Schluck von des Meisters Blut würde ihn vielleicht erfrischen, aufpäppeln, so wie es der letzte getan hatte, ihm die Kraft geben die er für die Aufgabe benötigte, aber die Aussicht darauf war gering. Kyron hatte wahrlich schon widerlichere Dinge geschluckt als Blut, und wahrlich widerlicheres Blut gekostet als das des Meisters. Wenn er das Salz ein zweites Mal zurück in seine korrekte Form brachte, dann war der Meister vielleicht zufrieden genug. Ein zufriedener Meister war eine um Werst bessere, erstrebenswertere Aussicht als ein unzufriedener Meister.
War da nicht noch etwas anderes, an das Kyron denken sollte?
Stirnrunzelnd hielt er im Salzfegen inne, starrte angestrengt auf das kleine Häufchen weißer Kristalle hinab. Etwas nagte an seinem Verstand, ganz weit hinten, hinter den Bildern von Ratten und Spiralen und Blut, lenkte ihn ab. Mit einem leisen Brummen schloss er die Augen, versuchte dem Nagen an den Ursprung zu folgen-
Dureths Gesicht blitzte vor ihm auf. "Das ist die Strafe für den zerstörten Kreis," sprach er, und sein Schatten drückte Kyron auf den Tisch. Im Hintergrund quiekten Ratten in einem Behältnis.
Mit einem panischen Japsen riss Kyron die Augen wieder auf und fuhr fort, zerstreute Salzhäufchen in gebogene Linien zu fegen. Was auch immer dieses Nagen an seinem Verstand war, es war unwichtig. Nebensächlich. Etwas für einen späteren Zeitpunkt, wenn er keine Aufgabe hatte.
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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