FSK-18 Familiengeheimnisse
#1
[Bild: jr2o-2v-779f.jpg]

~.~ Servano 1385 ~.~

Das kleine achtjährige Mädchen stand an der offenen Türe und hielt den hellen, wachen Blick der großen, runden Augen auf den Weg gerichtet, der zum Hause hinaufführte. Ihr Vater Herron stand neben ihr und hielt ihre kleine Hand, die beinahe vollends in der seinen verschwand. Auch sein Blick ging hinaus auf die Straße. Er wirkte angespannt und unruhig und verlagerte immer wieder das Gewicht vom rechten Bein auf das Linke, zupfte mit der freien Hand sein Wams zurecht oder tupfte sich mit einem Tuch die Stirn ab. In der rechten Hand, hielt das Kind einen kleinen, aber dafür recht opulenten Strauß mit Wildblumen fest, um dessen Stängel dekorativ ein weißes, weiches Band gebunden war.

Es war einer jener heißen Sommertage, an denen sie eigentlich viel lieber mit ihren Freunden am Weiher gespielt und Kröten gesammelt hätte. Sie hätte schwimmen können, lachend und kreischend Wasserschlachten ausführen und danach die Sonne die Wassertropfen auf der Haut trocknen lassen können. Stattdessen stand sie hier und wartete.

Die Luft zitterte und vibrierte in der Hitze und verzerrte die Sicht auf die Straße, begleitet von dem leuchtenden Flimmern des Staubs, der in diesen trockenen Tagen stetig über den Wegen flirrte.

Sie war zurecht gemacht worden wie ein lebendiges Püppchen. Sie trug ein hübsches, weißes Kleidchen, das eigens für diesen Tag von ihrem Vater selbst genäht wurde und sich perfekt an den jungen Mädchenkörper schmiegte. Nur der Rockteil fiel in weichen Stufen und in unzähligen Lagen bis hinunter über ihre Knie und war mit einer welligen Rüschenborte am Saum abgesetzt. Der obere Teil des Kleides war mit zahlreichen Stickereien versehen, die sich mit dem rot und grün deutlich vom Stoff abhoben. Die Ärmchen der Kleinen steckten in großen, weit ausladenden Puffärmeln, die sie so leidenschaftlich hasste, wie der Schnee die Sonne. Doch dies jemals zu äußern, würde sie nie wagen…zu groß der Respekt vor dem Vater, der hin und wieder sogar der Angst wich. Ihre lichtblonden Haare waren kunstvoll hochgesteckt, wie es die großen Damen manchmal trugen, die im Geschäft ihres Vaters hin und wieder ein und aus gingen. Kleine Strähnen waren bewusst aus dem Flechtwerk gezogen worden und kunstvoll eingedreht worden. Dafür musste sie stundenlang unter dem strengen Blick ihres Vaters still sitzen, durfte nicht einmal das Haupte bewegen oder reden, nur um hier jetzt zu stehen und zu warten.

In der Ferne hörte sie es leise trommeln. Jetzt wurde auch sie nervös und mit einem weichen, warmen Schwall, stieß sie den Atem aus. Ertappt sah sie daraufhin gleich zu ihrem Vater auf. Doch er war ihr nicht böse darum, er lächelte ihr zu und streichelte mit dem Daumen beruhigend über ihren Handrücken. Dann löste sich wieder der Blick der warmen, braunen Augen und richtete sich wieder auf die Straße, in deren Ferne sich die Staubwolke verdichtete und immer näher kam.

Das Klopfen der Hufe wurde lauter und wurde begleitet von dem Knarren der Räder, die über Steine und den trockenen, unebenen Boden ratterten. Die Kutsche kam…sie kam.

Den Körper des Mädchen durchfuhr ein zittern und es schien als wolle sie sich jeden Moment losreißen. Diesmal sah ihr Vater streng zu ihr herab. Leise lösten sich die Worte von seinen Lippen: „Sei stolz mein Kind und sei stark. Ich weiß das du es schaffst!“ Regelrecht trotzig schob sie das Kinn vor und nickte fest. Heute würde das Spiel endgültig beginnen…das Spiel, auf das ihr Vater sie vorbereitet hatte.

Die Kutsche kam vor dem Haus zum stehen und die Pferde schnaubten, vom Adrenalin gepeitscht.

Das Mädchen lächelte. Sie lächelte, wie nur ein fröhliches Mädchen lächeln konnte. Mit strahlendenem Blick und Grübchen, die sich tief in ihre Wangen gruben.

Sie war da…!
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Familiengeheimnisse - von Carmelina Tartsonis - 09.07.2015, 18:43



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