FSK-18 Bevor ich sterbe
#13
Triggerwarnung bei unerfülltem Kinderwunsch.
Achtung, kontradiktorische Gewaltschilderung.


Intro

18. Lenzing 1403

Ein Baumstumpf diente als Rückenstütze in finsterer, nebeliger Nacht. In der Ferne rief ein Käuzchen sein verwirrtes ‘Huuu, huuu’, und irgendwo flüchtete eine Maus vor dem drohenden Tod. Das Laub war feucht und myzeldurchwachsen und jede Bewegung, jedes Winden und Sträuben, ließ den scharfen Geruch nach Verfall und Erde aufsteigen. Kahle Bäume wiegten ihre knospenbesetzten Äste im Frühlingswind, gebeutelt von dem kurzen, heftigen Sturm, der Schneeregen auf die Landschaft hinab erbrochen hatte wie ein besonders boshafter Geist. Hier und da sammelten sich sogar noch ein paar fragile Klumpen tropfender Pracht auf den Astgabeln, bereit, sich spöttisch auf die geplagte Frau hinab zu ergießen, wann immer sie zu fest gegen die Stämme stieß.
Es war nicht richtig. Sie sollte nicht allein sein, nicht in so einem Moment. Nicht hier draußen in der Wildnis, blutend und wehrlos, ein gefundenes Fressen für Wölfe oder besonders ausgehungerte Bären.
Nicht richtig, aber die Realität.
Wochenlang war sie ins Unterholz Ravinsthals uns Servanos gewandert, sorglos und auf der Flucht vor all den Bemutterungen, die sie in Gesellschaft über sich ergehen lassen musste. Natürlich war jedes Kind ein Segen, natürlich benötigte jede Mutter Hilfe, aber die ständige Bevormundung hatte es ihr unmöglich gemacht, sie anzunehmen. Es war nicht ihr erstes Kind, nicht einmal ihre erste Geburt; als Heilerin hatte sie mehr als genügend kleinen, schreienden Wesen auf die Welt geholfen, manchmal den besonders starrsinnigen mit einem kleinen Klaps auf den Hintern und ordentlichem Reiben deutlich gemacht, dass sie dem Leben nicht so einfach entkommen konnten. Sie wusste was sie tat. Sie hatte es selbst schon einmal getan. Sie hatte dutzenden anderen Frauen geholfen, es zu tun, und doch war sie entmündigt worden. Verständlich, alles war verständlich. Als Mutter benötigte man dreimal soviel Geduld mit Anderen, wie diese mit der Mutter benötigten.
Dennoch, Shae hatte es zu weit getrieben. Der Beweis dafür hatte sich vor keiner halben Stunde über ihre Schenkelinnenseiten ergossen, und tränkte nun ihren Rock. Sie hatte es versucht. Sie hatte versucht, nach Hause zu kommen, bevor die Schmerzen zu schlimm wurden, aber das kleine Wesen in ihr war wie sein Vater: Es wusste was es wollte, und da konnten selbst die Götter nicht im Wege stehen.
Die Entscheidung war schwierig gewesen, aber ein besonders steiler Erdhang hatte sie ihr abgenommen. Mit dem Kopf schon fühlbar hatte sie keinesfalls einen Sturz riskieren wollen, egal ob nach vorne oder nach hinten, und selbst wenn sie den Hang hinab gerutscht wäre, das Kind hätte dennoch nicht bis nach Rabenstein gewartet. Statt also weiter wimmernd durch den Thalwald zu torkeln, und am Ende wirklich ein Raubtier anzulocken, hatte sie sich an die trockenste Stelle gesetzt die sie finden hatte können. Und nun nahmen die Dinge ihren Lauf.
Das Stoßgebet - oder der Stoßfluch? - an die Götter kam ihr erst über die Lippen, als die winzigen Füße des Säuglings sie verließen, und sie mit klamm-kalten Fingern nach dem dreckigen, fröhlich schreienden Knäuel frischen Lebens griff. Es in ihren Schoß zerrte, hastig in ihren Überwurf wickelte.
Ein Blick auf die Hände, auf die Füße, um zu sichern dass alles so war wie es sein sollte. Kurze Erleichterung, dann ein Blick ins Gesicht.
Shae’s Herz stockte für drei Schläge, als habe der Muskel plötzlich vergessen, wie er sich zu gehaben hatte. Zu den Tränen des Schmerzes und jenen der Erleichterung gesellten sich stille Tränen des Kummers.
Keine Zeit, keine Zeit lange darüber nachzudenken. Mit ungeschickten Fingern zupfte Shae einen Faden aus ihrer Tasche, schnürte die Nabelschnur, und schnitt sie mit einem hastig abgeleckten Kräutermesser. Mechanisch nahm sie sich der Nachgeburt an, wickelte sie in ein Stück Tuch und legte sie in den Korb, dann wurde der Säugling auf dem Boden abgelegt und betrachtet.
Sie wusste, was sie zutun hatte. Wusste, wie ihre Familie solcherlei ‘Probleme’ behob. Es war eine Pflicht, eine, die sie bei anderen beobachtet hatte. Natürlich hatten sie geweint, natürlich hatten sie gelitten. Aber die Alternative war um so Vieles schlimmer, oder nicht?
Shae’s Finger fanden den faustgroßen Stein fast wie von selbst, als triebe sie ein anderer Geist, ein hasserfüllter Geist an, der mit ihren Gedanken nichts zutun haben wollte. Das Kind war ein Zeichen von Schwäche. Das Zeichen eines Fluchs, eines bösen Geists, einer finsteren Macht, die sich ihres Leibes bedient hatte. Schlechte Sterne, schlechte Zeichen, schlechte Zukunft. Nicht für sie, oh nein, nicht für sie. Für das Kind, das die Götter gestraft hatten, bevor es sie überhaupt kennenlernen durfte. Bevor es Schicksalsgötter hatte, bevor es einen Namen hatte, bevor es Milch gekostet hatte, oder ein warmes Bad erlebt hatte. Die Spreu hatte aus dem Weizen gefegt zu werden, und umso länger sie wartete, umso schwerer würde es werden.
Es ist deine Pflicht. Tu es.
Die Finger krampften sich härter um den Stein.
Tu es. Es hat noch keine Seele, die Götter haben ihm noch keine Teile von sich gegeben.
Shae hob den Arm mit dem Stein, kaum fähig, durch die Tränen zu sehen.
Tu es.

Der Stein fiel zur Seite und rollte den Hang hinab. Die Stimme in ihrem Kopf erklang das erste Mal seit Stunden.
‘Erinnere dich an diesen Moment, wenn sie dich fortjagen, Sturmkrähe.’
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Bevor ich sterbe - von Shae MacLoscann - 06.06.2015, 00:15
RE: Bevor ich sterbe - von Shae MacLoscann - 06.06.2015, 22:22
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