Schwarzer Vogel
#5
„Zwei Schlüssel öffnen dir jedes Herz, zwei niedliche, kleine, blanke.
Gib Acht, dass du sie nicht verlierst. Sie heißen Bitte und Danke.“


Mit der bürgerlichen Erziehung ist es so eine Sache. Sind ihre Samen einmal gesät, wuchert sie hinterhältig in einem Kind wie borstiges Unkraut im gepflegten Blumenbeet. Die Eltern wissen allzugut, oft aus eigener Erfahrung, dass im Leben nur aufsteigen kann, wer eine gute Kinderstube genossen hat und auf dem glatten Parkett der Gesellschaft nicht ausrutscht. In jungen Jahren wird dem kindlichen Ohr beständig eingeträufelt, was sich gehört und wie gutes Benehmen aussieht. Im klar umgrenzten Kleinstaat von Stube, Schlafzimmer, Garten will man dem Kind beibringen, brav zu sein, weil es dadurch elterliches Wohlwollen erntet. Der Nachwuchs wird unablässig gedrillt, Bitte und Danke zu sagen, weil er andernfalls Missfallen erregt. Man gibt den Kleinen einen Klaps, wenn sie Erwachsenen die Zunge zeigen. All dies dient als Vorbereitung für später. Die wohlmeinenden Eltern ebnen ihren Sprösslingen so den Weg in die Welt. Im behaglichen Nest wird geübt, was draußen auf weiter Flur beherrscht werden muss. Wer durch die Straßen zieht und Schläge verteilt, erntet selten Liebe. Wer sich durch Unhöflichkeit auszeichnet, macht sich keine Freunde. Wer frech zu Höherstehenden ist, mag sich im Pranger wiederfinden.

Sich später dieses Verhalten wieder auszurupfen, ist eine rechte Plage. Es hat das Beet längst erobert. Und immer ist da eine Stimme, die einem einflüstert: „Es mag dir nicht gefallen, aber es gehört sich so.“ Nicht jeder erkennt das Unkraut als das, was es ist. Es braucht jemanden, der sagt: „Das wuchernde Kraut hier brauchst du nicht. Es verstellt dir nur den Blick auf das Wesentliche.“ Gärtnern will gelernt sein.

***

Ja, sie schätzte den Abstand. Durch die Ferne lief sie nicht Gefahr, sich zu einem weiteren Ausbruch hinreißen zu lassen. Mondelang hatte sie ihn nicht gesprochen und damit gelebt, dass er niemals klar sehen würde. Es war nicht an ihr, ihm die Einsicht einzuprügeln. Das sagte sie sich immer. Es war an ihr, ihn um jeden Preis zu vermeiden. Doch nun waren die Karten neu gemischt worden.

Das nagende Gefühl, sie sollte dem Vetter selbst sagen, was zu tun sie im Begriff war, hatte sich seit Wochen in ihr breitgemacht. Warum? Weil sie seine Reaktion lieber selbst abfing. Aber wie? „Ich werde Koren zum Mann nehmen.“ Zu stumpf. „Dein erklärter Feind wird mich ehelichen.“ Zu formell. „Ich lege den Namen unserer Familie ab.“ Zu hämisch. Jemandem wie Viktor konnte man nicht die absolute Wahrheit sagen, geschweige denn schreiben. Er würde sie nicht verstehen. So viel Erziehung, so viel Gelehrtheit, Schriftwissen, und doch fehlte ihm der Zugang zu einem der machtvollsten Gefühle, das die Menschen umtrieb. Die Wahrheit behielt sie für sich: „Ihn zum Mann zu nehmen ist unausweichlich. Heirat ist ein schwaches Wort, ein viel zu blasses. Es ist viel ursprünglicher. Es ist uns vorbestimmt. Es ist das Unbändige an ihm, nach dem es mich verlangt. Das, was sich nicht zähmen lässt, nicht zivilisieren lässt, nicht niederkämpfen lässt. Es ist seine Bereitschaft, alles auf eine Karte zu setzen. Es ist das Feuer in ihm, das ihn alleine in Feindesland marschieren lässt. Er offenbarte sich mir, als er gar nicht hoffen konnte, dass seine Worte Gehör finden würden. Wenn er bei mir liegt, vergesse ich, wo er aufhört und ich anfange. Ich will seine Frau werden, weil es seine Bestimmung ist, mein Mann zu werden. Es ist der Wille der Götter. Es ist unser beider Schicksal.“ Es würde immer bei Worthülsen bleiben müssen.

So hatte sie abgewartet, war starr und untätig wie das Häschen im sicheren Bau geblieben. Unklug. Und dann war der Bote gekommen. Er hatte sie oben am Schrein gefunden, wo er sich offenbar erst nach einem halben Stundenlauf hin getraut hatte. Zweiundvierzig Augen sehen mehr als zwei, aber Ravinsthaler Augen sind schärfer als alle vierundvierzig zusammen, wenn jemand aus der Hauptstadt mit einem Brief anmarschiert kommt. Das verdutzte Gesicht des Boten sprach Bände. Es kam nicht jeden Tag vor, dass die Adressatin eines Briefes aus dem Tempel sich als ein spindeldürres Geschöpf mit Bärenfell um die Schultern entpuppte, das zwei halbverhungerte Hasen vor sich sitzen hatte, die es nur durch die Kraft seiner machtvollen Worte dazu brachte, aufzuquieken. Aber jeder fängt einmal klein an und Übung macht immerhin den Meister. Sie nahm dem Burschen den Brief aus der Hand und schickte ihn in die Küche.

Freundlich waren Viktors Worte nicht zu nennen. Die Spitzen waren allzu offensichtlich, die Stacheln an der verkümmerten Gratulationsrose klar zu sehen. Er kam ungelegen, dieser Brief. Zu sehr hatte sie sich eingerichtet in der sicheren Distanz zwischen sich und dem Tempel, der sie eher als ein Mausoleum erinnerte als an eine Stätte des Glaubens. Dort war der letzte, kümmerliche Rest ihrer Familie verblieben. In den Kellern lag der letzte, kümmerliche Rest Hoffnung begraben, der vor ein paar Monden noch vital und greifbar gewesen sein mochte. Manche Leichen lässt man besser, wo sie sind. Gwendolyn hatte sich im Schweigen eingerichtet. Ignorierte sie diesen Brief, konnte ihr das allerdings leicht als weiterer Affront ausgelegt werden. Er hatte ein Talent darin, ihr einen Strick aus derlei zu drehen.

War es nur das? Nicht, wenn sie ehrlich war. Das schlechte Gewissen, Viktor die Höflichkeit schuldig zu sein, fraß sich in ihren Gedanken fest. Wenn man einen Brief bekam, der einem freundliche Wünsche übermittelte, so bedankte man sich, gleich von wem er kam. „Schuldest du denn einem Mann Höflichkeit, der dich ruchlos über Kohlen geschickt hat?! Du kannst es einfach nicht lassen, törichtes Gör.“ Die Stimme der Vernunft hatte frappante Ähnlichkeit mit Shaes gutturalem Inselgalatisch. „Ich bin besser als er.“ Darauf lief es immer hinaus. Der Impuls, nach Löwenstein zu wandern und für klare Verhältnisse zu sorgen, pochte ihr in den Schläfen wie eine Melodie, die sich in den Gedanken festgenagt. Blieb sie in Ravinsthal, wirkte es, als hätte sie sich versteckt.

„Wollt ihr Kinder?“
„Wer wünscht sich keine Nachkommen?“
„Drei.“

Vishayas Prophezeiung, die schwer wie ein Stein ins Wasser gefallen war, rauschte ihr noch in den Ohren. Für ihre Lehrmeisterin war die Verbindung zwischen der Druidenschülerin und dem Wächter keine bloße Romanze. Die Vatin offenbarte ihnen in klaren Worten, was sie erwartete. Die Gabe war ihnen beiden durch die Gnade des Pantheons geschenkt worden. Kinder, die aus diesem Bund erwachsen würden, wären mit recht großer Wahrscheinlichkeit ebenso damit gesegnet. Vishayas Blick war sengend und durchdringend gewesen, als sie eröffnete, dass sie nichts zwischen das Paar geraten lassen würde, weder Uneinigkeit untereinander noch Gefahr von außen. „Ich werde jeden zerstören, der diese Zukunft gefährdet.“ Gwendolyn glaubte ihr jedes Wort. Nie war Vishaya mehr als die berechnende Schamanin eines wilden, ungezügelten Volkes erschienen, das sich nicht um Konventionen oder Lehensgesetze scherte. So sehr die Jurin zuweilen als Ratsjüngste im Zirkel salbungsvolle Mittlerin sein musste, weil ihre Position ihr das aufzwang, so unverkennbar lauerte hinter der Maske an Diplomatie die gnadenlose, göttergesegnete Seherin, die rücksichtslos hinwegfegte, was ihr und ihren Plänen im Wege stand. Ihre Worte waren ein Versprechen und eine Drohgebärde gleichzeitig, daran gab es nichts zu deuteln.

Vielleicht war es Zeit, die Angriffsfläche zu verringern. Ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen, bevor der Kessel ein weiteres Mal überkochte. Er hatte bewiesen, welches Unheil er unter dem Deckmantel der Läuterung imstande war, über sie zu bringen. Oh, er würde jederzeit versichern, es wäre nur zu ihrem Besten gewesen. Es war gesünder, ihn in der Distanz zu wissen, aber das reichte nicht. Sie wollte ihn beschwichtigt in der Distanz wissen. Eingelullt und weit entfernt. Die Zukunft war zu kostbar geworden und sie durch Untätigkeit zu gefährden keine Option.

Sie würde gehen.
[Bild: Gwendolyn-Signatur.png]
Toast can never be bread again.
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Untergang - von Gwendolyn Lucia Veltenbruch - 26.09.2015, 16:40
Was Hänschen nicht lernt, ... - von Gwendolyn Lucia Veltenbruch - 07.02.2016, 18:08



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