Schwarzer Vogel
#1
Arm sein schmeckte nach Karotten. Sie kaute geistesabwesend an einem verblassten Exemplar, während sie zum fünften Mal an diesem Abend das Buch in ihrem Schoß zuschlug. Sie konnte sich nicht aufs Lesen konzentrieren. Es knirschte und knackte, das Gemüse wurde von unbarmherzigen Zähnen zerkleinert. Das Licht war fahl im Schlafsaal, ihre Kerze neigte sich dem Ende zu. Sie konnte sich nur minderwertige Kerzen leisten. Draußen die nachtfeuchte Stille eines Frühlingsabends, ab und zu durchbrochen vom Kreischen der monströsen Vogelfrauen am Pass. Georg und Dana unterhielten sich unterdrückt in der Gaststube, ein fernes Murmeln. Die Gaststube versprach Geselligkeit, aber Gwendolyn suchte keine. Hinunterzugehen hätte nur bedeutet, unter Menschen sein zu müssen.

Karotten. Es hatte eine Zeit gegeben, in der da ein Lager gewesen war, das vor Lebensmittel übergequollen war, eine Zeit, in der es einen Koch gegeben hatte, der die Familie versorgte. Es hatte niemandem an etwas gemangelt. Sie schämte sich, seinen Namen vergessen zu haben. Der nächste Bissen. Die Fasern ließen sich schwer zerbeißen. Sie hatten die Angewohnheit, zu einer pelzigen Masse im Mund zu werden. Der letzte Bissen. Erlösender Griff nach einem Wasserbecher. Spätestens in zwei Stunden würde sie wieder Hunger haben. Sie verbot sich, Georg um Hilfe zu bitten. Zu versessen darauf, sich vor sich selber zu beweisen, ertrug sie lieber das Magenknurren. Die Götter hatten sie auf einen Weg geschickt, der nicht nur eben und schön bepflanzt, sondern steinig war, also würde sie alles ertragen, was für sie vorgesehen war. Stolz und arm vertrug sich trotzdem schwer. Der Wunsch, es selbst zu schaffen, war größer als ihr Hunger. Sie behielt den letzten Schluck Wasser lange im Mund. Die vage Hoffnung, er werde die Pelzigkeit lindern, hielt sich nur bis zum Augenblick des Hinunterschluckens. Fast kamen ihr die Bissen wieder hoch. Sie kämpfte das Würgen nieder und dankte Amatheon.

Die Kälte war ihr verstohlen in die Glieder gefahren. Ein Zittern durchfuhr sie. Da half auch die schwarze Robe nichts. Man sah sie anders an, seitdem sie so gekleidet war. Die meisten Menschen schauten ihr nicht mehr zuerst ins Gesicht. Sie sahen das Schwarz und entschlossen sich zu Freundlichkeit oder Misstrauen. Und dann fragten sie nach Viktor.

Kein Schritt war in Servano möglich ohne den Schatten ihres Vetters. Der Waffenstillstand, der geschlossen worden war, war so fragil wie Eis, das sich beim ersten Frost bildet. Es brauchte nur eine unachtsam aufgesetzte Schuhspitze, um es zu brechen. Es war eine selten vertrackte Lage. Bedingungen wurden verhandelt. Natürlich wurden sie das. Wie sollten sie als Veltenbruchkinder das auch anders lösen. Zwei Kaufmannskinder saßen sich gegenüber und feuerten Forderungen über den Tisch, handelten Bedingungen aus. Eins saß in Rot da, das andere in Schwarz. Er hatte diese unangenehme Argumentationsstärke, die sie ständig in Verteidigungshaltungen brachte, in die sie gar nicht zu sein brauchte.

„Vor den Menschen in unserer Gemeinde werden wir kein schlechtes Wort übereinander verlieren. Und wenn es welche zu verlieren gäbe, so verlieren wir sie voreinander.“

Stockfisch. „Ich will, dass du dich in regelmäßigen Abständen mit mir an einen Tisch setzt und ein Mahl teilst.“ Es muss dir ja nicht gefallen.

„Ihr werdet mich begleiten, sollte ich auf eine Feier eingeladen sein und anders herum.“

„Behandle mich nicht wie ein Kind. Schon gar nicht in der Öffentlichkeit.“ Du bist nicht mein Vater. Du bist 13 Tage älter als ich. Das Recht, über mich zu urteilen, hast du nicht. 13 Tage!

Sie hatten nur noch einander. Man dreht seinem einzigen Blutsverwandten nicht den Rücken zu, vor allem dann nicht, wenn ihm das einen Vorteil verschaffen könnte.
[Bild: Gwendolyn-Signatur.png]
Toast can never be bread again.
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Schwarzer Vogel - von Gwendolyn Lucia Veltenbruch - 11.03.2015, 17:50
Untergang - von Gwendolyn Lucia Veltenbruch - 26.09.2015, 16:40



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