Von Leuchtfeuern und Seemannsgarn
#14
Episode 14 - Spiegel deiner selbst

Im Frühjahr1404
Flüsterwald, Servano und Drechslerspitze, Candaria




Die freien Männer hatten sich als derbe, kampfeslustige und sowohl Nodons wie Gwynn würdige Krieger erwiesen. Im noch jungen Jahr 1404 hatte die Stadtwache eine Strafexpedition in den Flüsterwald durchgeführt, um die marodierenden Strauchdiebe, die sich freie Männer nannten, auszuräuchern. Unter dem Kommando des Edlen Ser Savaen hatte sich jedoch nach viel Schweiß und noch mehr vergossenem Blut im Verlauf der Mission gezeigt, dass es keineswegs Strauchdiebe waren, mit denen sie zu tun gehabt hatten. Vielmehr waren es ehemalige Soldaten unter dem Befehl eines Nordgarder Ritters, der kein Ritter mehr sein wollte. Lysander verstand die Amhraner nach all den Jahren immer noch bisweilen nicht - das war einer dieser Fälle. Man konnte doch nicht von heute auf morgen entscheiden, dass ein vor den Göttern gegebener Eid nicht mehr gültig sei? Wie dem auch sei... der Kampf war hart und der servanoer Verband an dessen Ende beinahe aufgerieben. Dank des Verhandlungsgeschicks Ser Savaens kamen sie heil aus der Sache heraus - und Lysander um den Kopf eines der Offiziere des Nortgarders reicher.

Zwei Tage später hatte der Stadtknecht einen dienstfreien Tag dazu genutzt, um den Kopf nach Candaria zu bringen. Genauer gesagt auf die Drechslerspitze, mit eine der höchsten Erhebungen in diesem Fürstentum der Bauern und Holzfäller.
"Steige auf die Drechslerspitze hinauf und finde heraus, welchen Takt dieser Ort deinem Herzen gibt."
Diesen Auftrag der Raben gedachte er, beflissentlich zu erfüllen. Auf welche Weise, war freilich ihm überlassen.
Also hatte er sich ein Lagerfeuerchen in windgeschützter Position angelegt, den Kopf des Offiziers vor sich auf einer Decke aufgestellt und sich in seine roten Opferkleider geworfen.
Die ersten Stunden des Tages - denn er war in den frühesten Morgenstunden angereist - verbrachte der Galatier damit, zyklisch um das Feuer zu gehen, Schnaps zu trinken und dem Toten anzubieten, Met und Tabak im Lagerfeuer zu verbrennen. So ging es Stunde um Stunde, bis er endlich den Zustand milder Betrunkenheit und seliger Selbstzufriedenheit erreicht hatte, für den ein Alkoholiker Stunden, ein Gesunder vielleicht eine Viertelstunde gebraucht hätte.
Er ließ sich mit untergeschlagenen Beinen vor dem Kopf des Toten nieder, zündete sich eine Pfeife an und  blies den Rauch über den Kopf hinweg.
Drei Stöße Rauch zur Linken.

Drei  mitten ins Gesicht.
Drei zur Rechten.
Sodann, immer noch kniend, blickte er über die linke Schulter, dann die rechte und zuletzt erneut die linke.

Hvað er þetta líf? Goðin vita allt
Það er skammvinnur kvöl, Þar til dauðinn kemur


Nach diesen langsam und klar gesprochenen Worten nahm Lysander einen tefen Schluck vom Met, den er bis dahin nur für das Feuer vorgesehen hatte. Ohne auch nur einen Finger zu rühren, blieb er regungslos für die nächste Stunde so sitzen und blickte - nein, starrte - dem Kopf in seine toten, leeren Augen. Dann wiederholte er den Ritus mit dem Rauch und den Schulterblicken.

Hvað kemur þegar lífið laumar í burtu?
Þráðurinn ákveður mannleg örlög

Zu diesen Worten zerbrach er seine Tabakspfeife auf eine Art, die darauf abzielte, dass er sich dabei in die Hand schnitt. Den vom Blut getränkten Ton warf er so dann ins Feuer, während er diese Worte sieben Mal wiederholte. Beim siebenten Mal beugte er sich über das Feuer, sog den Rauch tief ein und blies ihn dem Toten in sorgsamen, kleinen Mengen in den offen stehenden Mund hinein. So harrte er nun aus, eine weitere Stunde des Mettrinkens und stillen Meditierens mit dem abgeschlagenen Kopf als einzigen fleischlichen Gefährten.

Göngufólk í myrkri næturinnar, föst í heiminum, sérðu þessa fórnarlamb, blíður og veikburða.
Ég kalla á hinum fornu guðum!

Als er schließlich zur Anrufung kam, hob er die Arme in Adorantenhaltung, die mit dem geronnenen Blut bedeckten Handinnenflächen nach oben gedreht, und legte den Kopf in den Nacken.

Ég kalla á hinum fornu guðum!
Hver er ég?

Ég kalla á hinum fornu guðum!
Hver er ég?


Diese letzte Frage wiederholte er, jedes Mal leiser, bis es nur noch ein Flüstern und irgendwann bloße Stille war.
Schließlich waren es nur noch er, das herabbrennende Feuer und der Kopf des toten Nortgarders, die über diese Fragen aller Fragen sinnierten.
Die Antwort war denkbar einfach: Ein Gefäß.

In diesem Wissen fand er Ruhe und Zufriedenheit, so dass er letztlich den Kopf des Toten in das Tuch, auf dem er gebettet lag, einwickelte und in der Grube des heruntergebrannten Feuers deponierte. Darüber errichtete er einen kleinen Scheiterhaufen und ließ ihn die Nacht über brennen, ohne dass er auch nur ein einziges Mal ausging. Lysander gestattete dem Feuer erst beim ersten Sonnenlicht des nächsten Tages, herunterzubrennen.
Dann wischte er die Asche und das zu Holzkohle vebannte Brennmaterial . ausnahmslos nach rechts - fort. Die verkohlten Reste des Schädels sammelte er dabei sorgfältig ein.
Sie fanden, zu feinem Staub zermahlen, ihren Weg in einen Amulettbeutel, den Lysander künftig zu den übrigen Amuletten tragen solte.
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Episode 6 - Alltag - von Lysander O'Domhnaill - 08.01.2015, 16:47
RE: Von Leuchtfeuern und Seemannsgarn - von Lysander O'Domhnaill - 03.05.2017, 12:44



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste