FSK-18 Tagebuch einer Kurtisane - die zwei Schwestern
#5
Mondtag, 2. Lenzing im Jahr 1402

Das zuvor liebevoll geführte Tagebuch wirkt auf diesen Seiten stark verwittert. Regen, Kälte und Schnee haben ihr Werk sichtbar daran getan.

Ich kann es nicht glauben, dass ich schon vier Monate auf Wanderschaft bin und dich in all dieser Zeit nicht bemerkt habe, mein Tagebuch. Du bist eine leichte Last im Vergleich zu jener, die auf meiner Seele liegt wie ein Leichentuch.

Ich habe Wälder, Wiesen und Weiler durchquert auf der Suche nach der anderen Hälfte meines Herzens, aber ich war bisher erfolglos. Keine Wärme eines Mannes noch eines Herdfeuers vermochten mir seit deinem Verschwinden Sicherheit und Freude zu spenden. Wo bist du nur?

Ich lese deinen letzten Eintrag und weigere mich nach wie vor, die Worte, die dort stehen, zu glauben. Ich war schon oft versucht, diese Seite einfach herauszureißen und daran zu glauben, wenn ich mich schlafen lege, wache ich wieder auf und alles ist ungeschehen. Doch seit deinem Verschwinden - ich scheine wohl verrückt zu werden - höre ich so oft im Dunkeln eine Stimme. Sie scheint mich zu verspotten doch sobald ich versuche wegzuhören, klingt sie warm, weich und sanft. Und sie wohnt überall. In finsteren Ecken, in nebelverhangenen Wäldern und Auen und selbst in den tanzenden Schatten des Feuers.

Ich darf niemandem davon erzählen, sonst werde ich weggesperrt und sehe das Tageslicht niemals wieder. Doch war und ist es diese Stimme, die mich immer weiter getrieben hat, dich zu suchen. Und sie war es auch, die mir immer wieder Hoffnung gab, dass du nicht fort bist. Denn du wärst niemals so dumm. Mittlerweile weiss ich eines gewiss: Ich würde alles tun, wirklich alles, um dich wieder bei mir zu haben.

Ich vermisse dich, Schwesterherz. Dein unbeschwertes Lachen und sorgenfreies Sein, welches mir so oft half, die Vergangenheit zu bewältigen. Vermutlich würde es mir selbst jetzt helfen, meine durchgelaufenen Schuhe zu vergessen, doch die stechenden Schmerzen meiner wund gelaufenen Füße erinnern mich grausam an die Wirklichkeit.

Die Wirklichkeit... weshalb hast du mir nur nichts gesagt? Hast du wirklich geglaubt, ich würde jemand anderen dir vorziehen? Menschen, die ich erst seit einigen Wochen kenne? Wir haben fast unser gesamtes Leben miteinander verbracht, Schwesterherz. Alleine diese unfassbar lange Zeit sollte Antwort genug sein. Doch nein... ich verstehe deine letzten Worte bis heute nicht völlig.

Ein quer gezogener Tintenstreifen zeugt von einer Ablenkung der Schreiberin und hektisch wirkende Schrift folgt von hier an, die sich nur langsam wieder normalisiert.

Dort war sie wieder. Ich höre sie klar und deutlich. Der Hund des Jägers hat sie auch gehört.

Ich raste heute Nacht in einer kleinen Jagdhütte am Rande von Servanos Wäldern. Es war eine eigenartige Fügung, wie alles andere, seit ich beschlossen habe, mich dieser Stimme hinzugeben und ihr zu folgen.

Als ich heute nachmittag den Wald betrat, habe ich nicht damit gerechnet, dass die Dämmerung mich derartig schnell einholt. Ich hatte mich verschätzt und sah mich schon den bitteren Preis dafür bezahlen, als wie aus dem Nichts ein Hund aus dem aufkommenden Nebel auf mich zulief, zweimal bellte und artig an meiner Seite wartete.

Es sollte sich herausstellen, dass dieser Hund, sein Name ist Freiherr von Filz, zu einem Jäger gehört, der die prächtigen Wildbestände in dieser Gegend für den Thron überwachte und pflegte. Doch seit dem Feldzug Seiner Majestät kamen immer weniger Leute hierher. Die illustren Jagdgesellschaften blieben aus, die Bestandslisten stapelten sich und die königlichen Handwerker kauften keine Hornwaren mehr. Doch der liebenswerte ältere Jäger, sein Name ist Michel Riebenthal, nahm seinen Auftrag stets ernst und legt noch heute Listen an und überwacht die Wildbestände mit großem Respekt für das Leben.

Wenn ich in das wärmende Feuer der Jagdhütte sehe kommen mir Gedanken an die Kundinnen und Kunden aus Löwenstein. Wie oft wurden wir behandelt, als litten wir an einer Krankheit, die man heilen könnte. Und doch nahmen sie unsere Dienste gerne in Anspruch und verliessen uns zufrieden.

Ich frage mich, ob sich in den letzten Wochen etwas an meinem Aussehen geändert hat. Denn als ich mich Herrn Riebenthal als Gegenleistung für Kost und Logis anbot, lehnte dieser ab und sagte, dass es völlig normal sei, einer eleganten jungen Dame zu helfen. Danach lud er mich ein, sich an seinen Vorräten zu bedienen, bis ich satt bin und liess den Freiherrn von Filz hier, um auf mich aufzupassen. Seit langer Zeit fühle ich mich wieder zufrieden, ja fast sicher.

Die Wärme des bulligen Hundes vermischt mit dem sterbenden Feuer der Herdstatt wirkt einschläfernd. Und mein voller Bauch tut sein übriges dazu. Ich werde noch ein paar Scheite nachlegen und dann schlafen. Ich bin so müde.

Die folgenden Worte scheinen später im Halbdunkel hinzugefügt worden zu sein.

Ich bin aufgewacht, denn ich habe die Stimme wieder gehört. Und ich hörte sie einen Namen sagen.

Löwenstein.

Sollte ich dort wirklich etwas übersehen haben? Ich muss es herausfinden. Gleich zu Sonnenaufgang werde ich mich in Richtung Löwenstein aufmachen und meine Suche dort fortsetzen.

Herr Riebenthal sagte, dass man zu Sonnenaufgang von einem Hügel aus bis nach Silendir sehen kann. Ich freue mich schon, meine Heimat wieder zu sehen. Wenn auch nur aus der Entfernung. Ich werde daraus die Kraft für den langen Weg schöpfen.
o°˜"ª¤.¸ღ¸.¤ª"˜Une fois n’est pas coutume ˜"ª¤.¸ღ¸.¤ª"˜°o
Je ne veux pas dire que je te l'ai dit, mais je te l'avais dit que tu m'aimeras -
alors goute le péché de ma peau.
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RE: Tagebuch einer Kurtisane - die zwei Schwestern - von Jael Wolkenstein - 03.03.2015, 00:04



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