Von Drecksspatzen und Elsterköniginnen
#2
"Von der Kante, du Holzkopf, von der Kante! Nicht früher. Und dann richtig - Zisch! Verstehste?!" Verdeutlichend wippte er dazu auf den Zehen. Die Worte kamen ihm ein wenig verwaschen aus dem Mund, doch er war sicher, Lix würde es nicht bemerken. Er hatte sich unter Kontrolle, konnte sogar mit seiner Mimik gut lügen. Dabei belog er sich gerade damit sehr wohl selbst.
Die Haare fettig, die Augen rot und tief in den Höhlen, die Hände von einem leichten Zittern geschüttelt. Ja, Julias belog sich selbst, wenn er sagte, keiner würde seinen Rausch bemerken.
Er zeigte ihr mindestens zum zweihundertsten mal, wie sie zu springen hatte und erntete dafür, mindestens zum einhundertneunundneunzigsten mal, enerviertes Augenrollen. Aber was sprang sie auch so stumpfdumm? Er hatte ihr nicht umsonst gesagt, dass sie weit springen musste. Aus Spaß schaffte er selbst den Sprung auch nicht, aber wenn er gejagt und in Angst war, dann, ja dann, machte er den Satz mit links.

Anfangs war er recht oft bei ihr, schwatzte über dies und das, erzählte von den Dingen, die er sich erbettelte, zeigte stolz gestohlene Kleinigkeiten und prahlte mit Gossengaunereien. Er gab sich durchaus Mühe, sie zum Lachen zu bringen und so wenigstens ein bisschen den Schmerz zu vertreiben, der sie noch immer ans Heilerhaus fesselte. Er blieb eine Weile, nie sehr lang. Immer nur gerade so lang, bis sich die Heiler begannen für seine Anwesenheit zu interessieren. Dann verdrückte er sich meist so hurtig und unangekündigt, wie er auch zu Besuch herein wehte und dabei den vertrauten Geruch von Straße mit brachte. Doch die Besuche wurden seltener und mit immer größeren Abständen dazwischen. Er war sich Lix' Unmut darüber bewusst, aber wenn er ganz ehrlich war ... er dachte einfach nicht mehr so oft daran, zu ihr zu gehen. Er war in Gedanken ganz wo anders. In letzter Zeit hieß das, dass er oft, wie auf Flügeln über den Wolken schwebte. Ganz und gar eingehüllt in Daunen, euphorisch und taub für das Unbill der Welt. Weich und gehalten. Elsterndaunen?
Sein Problem dabei war nur, dass diese ganz spezielle kleine Phiole schon wieder leer war und er sie bald wieder würde bei seinem Freund auffüllen lassen müssen. Gelegentlich war er im Haus der Bande gewesen, aber es war nie jemand da gewesen. Nur ein Stapel Papier mit Worten drauf, die prominent auf dem Tisch lagen. Ihm war nicht klar, wie wichtig diese Worte waren und es scherte ihn auch nicht. Lesen konnte er nicht und er machte sich nicht die Mühe, nach den anderen zu suchen. Dafür stand er viel zu sehr neben sich. Genau so wenig hatte er sich um Shins Auftrag bemüht. Dabei war er anfangs durchaus willens dem nachzukommen, ja, hatte sogar tatsächlich einige male seine Schritte durch das Armenviertel gelenkt. Später dann aber nur noch, weil er betäubt durch die Gegend schlich und es nicht mehr mit bekam, wo er sich gerade aufhielt. Genauso wenig bekam er mit, wie ihm, als er das Heilerhaus dann nach dem kürzesten Besuch bislang, der Atem stockte. Nicht im übertragenen Sinn, sondern ganz real. Er wusste, dass die Gefahr bestand. Er wusste, dass viele an dem Teufelszeug starben, weil sie dazu soffen. Und er wusste, wie glücklich sie verschieden. Zumindest hätte er es gewusst, wäre er bei klarem Verstand gewesen. Vielleicht hätte er dann nicht gesoffen. Vielleicht hätte er bemerkt, dass keine Erstickung glücklich ist.

Was sein Leben rettete war der Dreck der Straße, der Schmutz, die Exkremente, der Abfall Löwensteins der ihm so sehr in der Lunge stach, nachdem er sich auf die Straße erbrach. Durch den Dunst des Rausches kam ein kurzer, heller Moment aus Gestank und Julias wurde gezwungen, beherrscht zu atmen, bis er sich an einem ruhigen Ort und außer Gefahr wieder fand. So beherrscht, wie er es sich selbst und anderen nie hätte vor machen können.
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RE: Von Drecksspatzen und Elsterköniginnen - von Julias Kerzwacht - 01.07.2014, 23:57



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