Ein neues Leben im Glanz der Sonne
#4
„Auf die verwundbaren, die ungeschützten Stellen zielen – das ist es, was einen guten Kämpfer von einem schlechten unterscheidet!“
Diese Worte hallten immer und immer wieder in Ambriels Geiste nach. Es waren die Worte des Ehrwürden Veltenbruchs, als jener sich des Anwärters annahm und ihm vorführte, was es hieß, richtig zu kämpfen. Ambriels Blicke folgten immer wieder den Ausführungen des erfahrenen Kriegers, der schon seit so vielen Jahren im Glanz der Sonne seine Kämpfe austrug, um Mithras Ruhm zu mehren und seine Jünger zu schützen.
Dagegen wirkten seine ersten Versuche, ja seine gesamte Erfahrung, die er in den letzten Jahren gesammelt hatte geradezu dilettantisch. Erfahrung – ein Wort, dass er sich selbst anzulegen nicht mehr traute. All sein Training hatte stets nur an mit Stroh gefüllten Stoffpuppen stattgefunden. Nie hatte er einen echten Gegner vor sich, der mit gepanzertem Leib und Hass in seinem Geist gegen ihn vorgegangen war. Und so war es seine unechte Erfahrung, die ihm irgendwann zum Verhängnis geworden wäre, hätte er sich auf das selbst Beigebrachte verlassen.
„Das Herz ist zu schwer zu treffen, wenn man nicht die Kraft und Übung hat!“, belehrte ihn der Veteran.
„Ziel auf die Punkte am Körper, bei denen schon ein einfacher Stich oder Streich genügt, um den Gegner außer Gefecht zu setzen“. Mit diesen Worten hob Veltenbruch seine Klinge und führte einen geraden Stoß zum Hals des Gegners, zog die scharfe Schneide an diesem entlang, nur um kurz darauf mit einem zweiten Stich auf die Schlagader im Bein zu zielen. Mit jedem Stich wiederholte er die anvisierte Körperpartie der Übungspuppe.
Ambriel folgte den Hieben, sein Geist speicherte jede Bewegung. Er wusste, dass er es mit dem richtigen Training ebenfalls schaffen würde, derart gewandt den Gegner niederzustrecken, die Feinde Mithras‘ zu vernichten. So trat er nun selbst vor die Puppe, die Klinge, die er seit seiner Jugend geführt hatte, in seiner Hand haltend, während die andere Hand lauernd vor ihm verharrte. Ruckartig zog er seine freie Hand nach hinten, holte Schwung und stach gleichzeitig mit der Klinge nach vorne.
„Hals!“, rief er und vollführte einen Stich, der einem gestandenen Manne die Kehle zerrissen hätte. Ohne zu zögern, zog er die Klinge zurück, verharrte für einen halben Augenblick in seiner Ausgangsposition.
Erneut zog er die freie Hand nach hinten, dieses Mal in Richtung seiner Schulter, als Gegengewicht für den nach unten geführten Stich zum Bein des Gegners. Und wieder kehrte er in Ausgangsposition zurück, nur, um ein drittes Mal den Gegner anzugreifen. Dieses Mal stach er jedoch nicht einfach zu – er machte einen Ausfallschritt nach rechts, griff den imaginären Arm des Gegners mit der freien Hand, hob diesen etwas an und rammte die Klinge seitwärts in den Brustkorb des Feindes. Während die Klinge noch in dessen Leib verharrte, dreht er sich seitwärts, um einem etwaigen Gegenschlag des Gegners auszuweichen. Keuchend verharrte er so einige Augenblicke, ehe er die Klinge langsam aus dem imaginären Feind herauszog.

Sein Blick ging zu der toten Gossenratte hinab, als die Erinnerung an das Kampftraining vor seinem inneren Auge verschwamm und sich wie ein kühler Nachtnebel in den ersten wärmenden Strahlen der Morgensonne auflöste. Wachdienst und Rattenjagd. Ruhmvoll, wie das Schelten kleiner Kinder war diese Aufgabe, aber es war die seine und sie war ihm von seinen Oberen aufgetragen worden. Er würde sie durchführen, ohne Jammern, Klagen oder Murren. Und doch spürte er im Inneren einen leichten Stich der Unzufriedenheit. Mithras Licht in die Welt hinauszutragen schien auf anderem Wege zu geschehen zu haben, als auf diesem – Anwärter hin oder her. Es war die Unzufriedenheit der Jugend, die seinem Geiste innewohnte, er war sich dessen bewusst. Die Schelte seines Vaters hing noch immer in seinen Gedanken nach, die Erinnerungen an seinen Onkel, der im Krieg elendig verreckt war – keine Glorie, keine Heldentaten, einfach nur Blut und Kot, die seinen Leib benetzten, als er seine letzten Atemzüge tat. Diese Gedanken und die Erinnerung an die Lehren und die Ordnung des Sonnengottes riefen ihn zur Vernunft, erinnerten ihn an seine Pflichten. Er blickte zu der aufgespießten Ratte an seiner Schwertspitze, löste sie von dieser, indem er sie mit dem Fuß fixierte und wischte sein Schwert an einem eigens dafür mitgenommenen Tuch ab. Er schob die Klinge in die Scheide zurück, richtete sich auf und ließ seinen Blick durch die Gegend wandern. Aus den finsteren Gassen des Marktviertels hörte er das Echo des Quiekens weiterer „Feinde“.
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RE: Ein neues Leben im Glanz der Sonne - von Ambriel Weißkreutz - 05.06.2014, 10:43



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