Durch den grauen Schleier
#2
Außen vor

Es war Nacht, und die Welt war grau. Andere Leute hätten gesagt es wäre Nacht und die Welt dunkel oder schwarz. Sophie hätte gesagt "schlimmstenfalls dunkelblau", aber dann hätte sie den Gedanken, dass die Nacht kein guter Zeitpunkt um sich über Kolorit zu streiten ist, ablegen müssen. Und das war nicht was sie beschäftigte. Was sie beschäftigte, war der zurückliegende Tag. War ihre Schwester die unruhig neben ihr in dem zusammengeschobenen Doppelbett gelegen hatte. Der sie mehrmals vorsichtig mit den dünnen Fingern durchs Haar gestrichen hatte, und ihr einmal als sie für eine unbewusste Schrecksekunde erwachte, einen Kuss auf die Stirn gedrückt hatte. Der Gegenschluss war klar, und Sophie bemühte sich sehr darum, diesen ihrer Schwester zumindest nicht aufzudrängen. Verheimlichen hätte keine Sinn - würde sie nicht wollen - aber ihre Schwester brauchte Ruhe von diesem Tag. Brauchte sie zwar auch, aber sie brauchte stets viel Ruhe. Der Umgang mit vielen anderen Menschen verausgabte sie - Kristin war anders, und es somit immer von Bedeutung wenn sie merkte dass ihre Schwester ins Straucheln geriet. Es war Nacht, die Welt war grau. Außer im Obergeschoss des kleinen Hauses der Schneiderei "Zum goldenen Schnitt" - denn Sophie entzündete dort eine kleine Kerze. Gedanken mussten auf Pergament gebracht werden. Gedanken die sie heimsuchten. Gedanken die gebannt werden mussten. Damit sie sie nicht plagten, während sie still hinter ihrer Schwester stand. Gedanken die sich in etwa so lasen:

Es ist ein Rudel,
eine Meute die mich jagt,
gefangen im Zelt meiner Träume.
Ich spür ihren Atem,
direkt hinter mir,
als ich zählte waren es Neune.

Ich taumle voran,
wähne mich als Beute,
und langsam verlässt mich der Mut.
Ich versuche zu atmen,
stolper weiter voran,
doch die Schatten wittern mein Blut.

Doch dann kommt die Rettung,
eine schillernde Jagd,
mein Leben zurückgebracht.
Erschlagen die Bestien,
treiben sie zurück,
... zumindest bis morgen Nacht.

Und als sie jenes geschrieben hatte, ließ sie auch jenes Pergament anschließend unbeachtet dort liegen. Sie würde Zeit brauchen, bis sie sich mit dem abgefunden hatte das sie dort geschrieben hatte. Gedachte Gedanken zu lesen fühlte sich befremdlich an und stets hatte sie das Gefühl, ihnen nicht gerecht geworden zu sein. Es würde Zeit brauchen... bis die Gedanken verblasst waren, und das Aufgeschriebene, die beste Erinnerung an sie waren. Dann würden die Worte gut sein. Dann würden sie zur besten Wahrheit dazu werden. Doch für den Moment war die Wahrheit noch zu präsent. Aber nun konnte sie vergessen... und sich wieder ihrer Schwester widmen, drüben, in der Schlafkammer, wo Kristin im Schlafe von ihren eigenen Schattenwölfen gehetzt zu werden schien.
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RE: Durch den grauen Schleier - von Sophie Mia Kylli - 26.05.2014, 10:52



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