Durch den grauen Schleier
#1
Sophies Liebe zum Regen


Regentropfen prasselten gegen die Scheibe des Fensters, und die Wucht des kurzen nächtlichen Wolkenbruchs der jene auf ihren Weg schickte, verlieh jedem einzelnen davon eine Stimme. Einen kurzen Laut, den sie einem Aufschrei gleich in die Welt hinausschickten, um meist unbeachtet zu vergehen. Sophie beachtete sie. Sophie beachtete Regen immer. Nicht auf die Art mit der Menschen sich beim Anblick vom Regen die mentale Notiz machten einen Mantel anziehen zu müssen und sich darauf vorzubereiten über das Wetter zu fluchen. Nicht auf die Art mit der ein Bauer den Regenfall mit dem Hintergedanken einer günstigen Ernte begrüßte. Sie beachtete den Regen wie ein kleines Mädchen eine Blume betrachtete. Vernünftige Gründe hätte sie viele gehabt: 1. Wenn es regnet konnte ihr niemand einen Vorwurf machen in einer kleinen Kammer zu sitzen und zu lesen oder zu schreiben. 2. Regen würde es wahrscheinlich machen, dass ihre Schwester, einer der wenigen Menschen in deren Gegenwart sie sich bedingungslos wohlfühlen konnte, da sie ihr Schweigen verstand, bald zurückkehren würde. ... sind die Punkte die jene Liste anführen würden. Aber die eigentliche Antwort war viel simpler: Sie mochte Regen einfach. Sie mochte das Grau in das er die Welt tauchte. Sie mochte es, wie nächtlicher Regen die Straße wie ein Bild, erstarrt in der Zeit, wirken lassen konnte. Sie mochte die sanfte Melancholie die sie ergriff, wenn sie der Welt beim Nasswerden zusah. Das Pochen der Regentropfen auf Glas und auf Pflasterstein bildete einen Schleier leiser Stimmen, die sich zwischen den Eindrücken einer sonst zu präsenten Außenwelt und ihre Gedanken drängte. Und ihre Gedanken waren dankbar für diese Distanz und schweiften stets in weitere Ferne. Sophie konnte nicht immer sagen wohin ihre Gedanken gehen würden... oder vielleicht woher sie kommen würden. Aber ihre Gedanken waren ihr stets treu. Sie würden stets wiederkehren, und sie würden stets noch zu ihr gehören. Das alles hätte sie gesagt, hätte man sie gefragt was sie denken würde, wenn sie zum Geräusch des Regens über Gedanken die sie hat wenn sie Regen beobachtet, nachdenkt. Genauso hätte sie sich zurückhaltend über diesen Schachtelsatz gefreut. Aber daran dachte Sophie nicht. Ihre Gedanken waren nicht ganz so ziellos, auch wenn sie wieder weite Kreise zogen. Sie hatte einiges was ihr durch den Kopf ging, viele Gedanken die nach Simplifizierung verlangten. Aber etwas beschäftigte sie mehr. Schon viel zu lange. Und während die Fingerspitzen ihrer dürren rechten Hand über das kalte Glas strichen, das auf der anderen Seite Bühne des Chors niederprasselnder Regentropfen wurde, fassten diffuse und eher intuitive Gedanken Fuß und traten in einer Einfachheit hervor, die später ihren Weg auf das Pergament finden sollten, das auf dem Esstisch ihrer Schwester bereit lag:

10.000 Lettern,
ich glaube einige ergaben Worte,
manche trafen Wahrheit,
oder klopften an ihre Pforte

mit 1.000 Worten
fragte ich doch nicht weshalb,
das Leben ist verworren,
und Wahrheit oft kalt

nach 100 Zeilen,
wäre es doch kein Roman,
meine Gedanken sind simpel,
und die Geschichte profan

auf 10 Pergamenten,
allesamt reich illustriert,
könnte ichs doch nicht wenden,
gänzlich undeprimiert.

doch in einem Verstand,
nicht unähnlich dem meinen,
und einer innbrünstigen Sehnsucht
die sich nicht schert ums Reimen:
ich bin bekümmert
ich wills nicht verneinen,
doch eins will ich sagen,
und mehrfach betonen:
Die Wahrheit kennt Wärme

Und als dies geschrieben war, war sie zufrieden. Jene schwierigen und bedrückenden Gedanken waren artikuliert - und sie hatte nicht ein Wort gesprochen. Die Gedanken waren auf das Papier gebannt, drohten nicht in Vergessenheit zu geraten, und sollten sie je wiederkehren, wäre sie vorbereit.
Das Pergament lag am nächsten Morgen noch da, Sophie ging schlafen, die Welt wurde nass, wieder trocken, die Sonne ging auf und Sophie dachte andere Gedanken. Die Welt ging weiter - und Sophie fragte sich, ob es heute Nacht wieder regnen würde.
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Durch den grauen Schleier - von Sophie Mia Kylli - 22.05.2014, 14:37



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