Die Bognerin
#3
Am nächsten Morgen hatte Mireille darauf verzichtet sich überhaupt zu verabschieden. Langsam fürchtete Emily, es wäre besser gewesen, gleich die Wahrheit zu sagen. Die Arbeit an dem Bogen ging gut voran. Zwar fehlte ihr der nötige Leim und Seil, um die einzelnen Holzstücke fest miteinander zu verbinden, aber sie war zuversichtlich es auch so zu schaffen.
Kurzum entschlossen opferte sie mehrere Strähnen ihres ohnehin schon viel zu langen Haares, und schnürte die verbundenen Teile zusätzlich fest.
Die zusätzlichen Holzplättchen schnitt sie soweit zurecht, dass sie diese als Verstärkung um den Bogen legen konnte und sie sich miteinander verhakten. Ihre Hände hielten der ständigen Belastung endgültig nicht mehr stand und begannen an mehreren Stellen zu bluten. Schweren Herzens opferten sie einen Teil ihres kostbaren, dünnen Gewands und nutzte es als Verband. Ein weiteres Stück Stoff musste zur Umwicklung des Bogens herhalten.
Ihre Nase begann bereits zu laufen und ein leichter Husten machte sich absehbar. Durch das offene Fenster drang ungehindert die Kälte hinein und umwehte ihren nun nackten Bauch. Unter ihrer Decke lugte der Geldbeutel mit den silbernen Münzen hervor. Der Anblick hätte sie beinahe zum Lachen gebracht. Sie war beileibe nicht reich durch dieses Geld, aber sie konnte sich problemlos etwas zum Anziehen kaufen. Stattdessen saß sie hier und würde wohl erfrieren, bevor der Bogen je fertig wurde. Hoffentlich entdeckte Mireille das Geld unter der Decke, wenn sie ihren erfrorenen Leichnam entsorgte. Damit wenigstens sie etwas davon hätte, dachte sie sarkastisch.
Der Bogen nahm langsam Form an, was Emily noch einmal in ihrem Tun beflügelte. Aus ihrem Rucksack beförderte sie einige in Tuch gewickelte Sehnen hervor. Ein regelrechtes Erinnerungsstück an die Zeit, da sie mit Mireille auf der vereinsamten Insel gelandet war. Der Hirsch, den sie am Strand tot aufgefunden hatten, hatte schon damals ihr Leben gerettet. Er hatte ihre hungrigen Bäuche gefüllt und ihnen das Material für einen provisorischen Bogen geliefert. Sie dachte damals, sie würde sich die übrigen Sehnen ewig als Andenken aufheben. Aber nun schienen sie sie erneut aus einer Notlage zu retten.
Die stärkste Sehne spannte sie zwischen den Enden des Bogens ein. Der Rest diente der weiteren Stabilisierung des Holzparts. Nun kam der schwierigste Part des Baus. Nach ihrer stümperhaften Art und Weise die Holzteile miteinander zu verbinden, hatte Emily regelrecht Furcht davor. Zögerlich zupfte sie an der Sehne, um etwaige Stellen auszumachen, an denen sich der Bogen nicht recht biegen wollte. Da sie kein Tierhorn verwendet hatte, konnte sie hier die Verbindungsstücke nur ein wenig lockern. Eine Arbeit, die volles Fingerspitzengefühl verlangte. Einerseits galt es die Stücke nicht zu weit auseinanderzunehmen, andererseits durfte die Konstruktion nicht zu starr sein. Endlich war sie soweit zufrieden, dass sie es wagen konnte den Bogen einer Prüfung zu unterziehen. Sie betete, dass Chronos ihr wiederrum gewogen war, wie an dem Tag, an dem er sie zurück nach Hause geleitet hatte.
Emily nahm das Holzteil in die Linke und griff mit zitternden Fingern nach der Sehne. Jetzt, da sich ihre Arbeit dem Ende zuwendete, spürte sie wieder die Schwäche, die Ausgezehrtheit ihres Körpers. Ein Zittern, sowohl von Kälte, als auch von Aufregung hervorgerufen, durchzog ihren Körper. Millimeter für Millimeter zog sie die Sehne in Richtung ihres Kinns. Alles schien perfekt, sie wollte bereits innerlich aufjauchzen. Nichts knackte oder ächzte unter der Belastung. Der Wurfarm bog sich wie ein einziges Stück dehnbares Holz.
Den großen Bogen zu spannen kostete Emily ungewohnt viel Kraft, viel mehr, als bei ihrem Kurzbogen. Mit einem Ruck schaffte sie es die volle Dehnung zu erreichen. Sie konnte nicht mehr rechtzeitig reagieren, als sich der obere Teil des Bogens plötzlich aus seiner Verankerung löste. Die Sehne schnalzte peitschenartig in ihre Richtung und schlug ihr mit voller Wucht ins Gesicht. Emily prallte zurück und landete brutal auf dem Steinboden des Zimmers. Die Einzelteile des Bogens folgten sogleich als hölzerner Regen. Sie rührte sich nicht, war zu keiner Reaktion mehr fähig. Nur stumme Tränen zeugten davon, dass sie überhaupt noch lebte.

Mireille kam erst spät in der Nacht zurück. Ihr Rücken war gebeugt von dem harten Tag. Das Haar völlig zerzaust und frische Schnittwunden zeugten davon, dass sie sich das tägliche Brot heute schwer verdient hatte.
Emily saß mit gesenktem Blick in der Ecke des Raums; die Überreste des Bogens vor sich ausgebreitet. Sie erwartete eine Standpauke, die sich gewaschen hatte.
„Heute gibt es leider nichts zum Essen“, sagte Mireille in sachlichem Tonfall. Sie stellte ein tönernes Gefäß vor ihr ab, aus welchem es stark nach Fisch roch.
„Mach es dieses Mal ordentlich“, fuhr sie fort, lehnte daraufhin ihren Bogen an die Wand und legte sich ins Bett.
Zunächst reagierte Emily gar nicht, lehnte einfach weiter stoisch an der Wand. Aber der Geruch war derartig intensiv, das sie einfach nachsehen musste. In dem Behälter befand sich eine schwerflüssige Masse. Vorsichtig tauchte Emily den Finger hinein. Emilys Atem stockte, während ihr Herz, im Takt eines wütenden Crescendos gleich, gegen ihre Brust schlug. Es war Leim!
Trotz ihrer harten Schale hatte Mireille immer noch ein weiches Herz. Egal, was sie von ihr halten sollte, es war Zeit das Richtige zu tun. Emily nahm den klimpernden Beutel unter ihrer Bettdecke hervor. Mireilles Atem ging schon in regelmäßigen Stößen. Sie legte ihn direkt neben ihr Gesicht und legte sich dann selbst schlafen.
„Morgen kannst du endlich mal wieder ausschlafen Schwesterherz“, murmelte Emily in die Dunkelheit.
Und morgen, ja morgen würde sie den Bogen bauen. Einen ganz besonderen. Einen Bogen für Könige und Fürsten. Aber den ersten, den würde ihre Schwester bekommen!
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Die Bognerin - von Emily Rosendorn - 24.02.2014, 11:31
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