Abschied von Löwenstein
#1
Ein letzter Blick auf das Haus mit dem weißblauen Schild, dann war das Anwesen aus ihren Augen. Der Schnee fiel auf die Kapuzen, die das rote Haar verdeckten. Es war unheimlich leer geworden in dem Haus, leer ohne die Großfamilie, für die es gedacht war. Blieb zu hoffen, dass andere ihr Wohl und Glück darin fanden. An dem Fenster dort oben hatte Gwendolyn mit Theresia oft das Geschehen auf der Straße kommentiert, erbitterte Kämpfe mit Viktor ausgetragen, dort im Esszimmer hatten sie gemeinsam gesessen, nicht immer - selten eigentlich - einer Meinung, aber doch vereint. Da unten im Keller waren handwerkliche Ideen entstanden, verworfen worden, verwirklicht worden, Anleitungen aufgelistet, Äste gestapelt, einmal sogar die Tür verbarrikadiert worden. So viele Gesichter, manche tot, manche fort, manche blasser, manche so lebendig in ihrer Erinnerung als hätten sie vor einem Lidschlag noch vor ihr gestanden, als müsse man nur die Hand nach ihnen ausstrecken, um sie zum Leben zu erwecken.

Sie dachte an Alberts strenge Stirn, Edwards scherzende Worte, Censsas Haar, Jacobs Himmelfahrtsnase, Januschs Überzeugungen, Kaspars Zuversicht, Konrads Bodenständigkeit, Lucius' Liebenswürdigkeit, Theresias Herzlichkeit, Viktors flammenden Glauben. Sie dachte an Damians Stock, Rowans faltiges Gesicht, an Ryodans Gaben, an Askirs Hilfsbereitschaft und Merandors stille, starke Präsenz. Sie dachte an Anabellas Geradlinigkeit, an Carmelinas Witz, die Gantermädchen und ihren Käfig, an Taleris Taleris Taleris. An laute Markttage, lautere Zunfttreffen, geheime Boxkämpfe, lange Bibliotheksstunden, Fliesen zählen mit Gloria, verschwiegene Picknicks, den versteckten Wasserfall. Vorbei.

Der leichte Wagen, von einem einzigen Pferd nur gezogen, mit den wichtigsten Habseligkeiten der zwei Rotschöpfe, die bis zuletzt die Stellung gehalten hatten, rumpelte durch eine vereiste Pfütze und brach die filigrane Oberfläche. Was für ein passendes Bild. Kurz hatte es die Stadt gut mit ihnen gemeint, doch auf ihrem glatten Parkett ließ es sich schwerlich stehen.

Die listige, schwarze Katze, die sich immer vorm Trophäenhändler herumtrieb, lag wie üblich im Weg und wich erst ganz zuletzt dem Fuhrwerk und den schweren Hufen des Haflingers aus, die den Abstand zwischen den zwei Stadtflüchtigen und ihrer zeitweiligen Heimat stetig vergrößerten.

Es machte keinen Sinn, sein Herz an Dinge oder Orte zu hängen. Wichtig war nur, wer am Ende übrig blieb. Das Fuhrwerk zuckelte durch das äußere Stadttor. Gwendolyn nahm Theresias Hand. Wichtig war nur, wer übrig blieb.

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Abschied von Löwenstein - von Gwendolyn Veltenbruch - 30.12.2013, 16:03



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