Hammer und Amboss - Aus dem Leben eines Schmiedes
#49
Er hätte schon längst mit der Arbeit fertig sein sollen, die ihm der Schmied aufgetragen hatte. So schwer war es ja nicht ein Kettenhemd zu kürzen. Kordian saß in der Schreibstube des Wachhauses und sah zu dem Kettengeflecht herüber, dass ausgebreitet auf dem Tisch lag. Die Zangen lagen bereits griffbereit daneben. Ringsum stapelten sich Papierberge an Berichten und die Kladden der Rekruten, manche davon wie neu, andere abgegriffen und mit Eselsohren versehen.
Drei Mal hatte er heute die Zangen in die Hand genommen, um die Arbeit endlich zu erledigen. Drei Mal wurde er gestört.

Bei der ersten Störung hatte er noch verhalten geschmunzelt, als der neue Rekrut vor ihm stand - ein junger, blasser Bursche mit sommersprossigem Gesicht - und im ernsten Tonfall nach Sattel-Auswuchtgewichten fragte. "Such den Wachhabenden. Er hat den Schlüssel für den rückwärtigen Raum, in dem die Sattel-Auswuchtgewichte gelagert sind" anwortete Kordian ebenso ernst und verkniff sich dabei mühsam ein Grinsen. Nachdem der Bursche verschwunden war, lachte er dreckig und machte sich wieder an die Arbeit. Mit zwei Zangen bewaffnet, bog er die einzelnen Stahlringe am unteren Teil des Kettenhemdes auf. Nach vierzehn Ringen klopfte es erneut an der Tür.

Er seufzte und legte die Zangen wieder beiseite. "Herein!" Eine bullige Gestalt schob sich in die Schreibstube. Es war ein Mann, der sich als Oleg vorstellte, mit stark behaarten Armen und Händen groß wie Schaufeln. Er krempelte die Ärmel seines Hemdes nach oben und stierte den Ritter aus seinen dunklen Schweinsäuglein an - offenbar war er wütend. Kordian ahnte nichts Gutes. "Was kann ich für euch tun?" Oleg gestikulierte wild und nutzte die nächsten zehn Minuten Monolog dafür, die Tischplatte und die darauf liegenden Dokumente ausgiebig mit Speichel zu einzudecken. Für einen Moment glaubte der Ritter, der Mann könne vielleicht an Tollwut leiden. Oleg erzählte, dass er am gestrigen Abend in der Taverne mit zwei ravinsthaler Gardisten Karten gespielt und dabei einen ganzen Monatslohn verloren hatte. Dabei wiederholte er beständig, was für ein unverschämtes Glück sie gehabt hätten und dass das nicht mit rechten Dingen zugegangen wäre, sie hätten ihn doch über den Tisch gezogen. Auf die Nachfrage, ob er denn irgendwelche Beweise hätte, schäumte er erneut vor Wut, sodass Kordian sich dezent zurücklehnen musste, um der Sprühfontäne zu entgehen. Wenige Momente später erschien das neugierige Gesicht eines Wachmanns im Türrahmen, der durch den lautstarken Wutausbruch des Mannes angelockt wurde. Als der Blick des Ritters ihn traf, wurde ihm schlagartig bewusst, dass er einen Fehler begangen hatte. "Wachmann, kümmert euch um das Anliegen des Mannes hier!" erklang der gnadenlose Befehl, der dem Wachmann das Entsetzen ins Gesicht trieb. Der Wachmann begleitete den wütenden Mann nach draußen. Kordian fuhr sich mit der flachen Hand über das Gesicht und griff dann nach kurzem Zögern erneut zu den Zangen. Er bog genau zweiundzwanzig Ringe auf, als jemand gegen die Tür polterte.

"Her ..." Die Tür flog auf und ein Berg weißer Wäsche auf einem Rollwagen drapiert stand vor ihm. Der Ritter beugte sich zur Seite und versuchte daran vorbeizusehen. "Ich habe die Wäsche fertig. Wohin damit, edler Ser?" Die alte Wäscherin lächelte ihn zahnlückig an. "Die Treppen hinauf in den Schlafsaal", anwortete er knapp. "Sehr wohl, edler Ser." Der Berg weißer Wäsche setzte sich wieder in Bewegung und verschwand aus seinem Sichtfeld. "Könnten sie mir wohl helfen, edler Ser? Ich komme so schlecht die Treppen hinauf." Er seufzte erneut und erhob sich.

Alle guten Dinge sind drei und alle schlechten Dinge auch, dachte er sich, als er sich wieder am Schreibtisch niederließ. Kordian griff zu den Zangen und zählte die aufgebogenen Ringe. An für sich hatte diese Arbeit etwas von Meditation - zumindest wenn man nicht dabei gestört wurde. Nur noch sieben Ringe, dann würde er das gekürzte Kettenhemd anprobieren können. Nur noch fünf Ringe. Nur noch zwei ...

"Ich habe den Schlüssel für den rückwärtigen Raum, aber ich kann die Tür nicht finden, Ser!" Der junge Rekrut stand vor ihm und hielt eine Lederahle in den Händen.
Lernen durch Schmerz
Motivation durch Entsetzen
Festigung durch Wiederholung
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RE: Hammer und Amboss - Aus dem Leben eines Schmiedes - von Kordian - 10.06.2018, 15:38



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