[FSK-6] Amhraner Märchenstunde
#3
Die Nachtigall und der Kranich

Das Lied einer Nachtigall mag für sich genommen bereits ein Ausdruck der Schönheit sein, welchen die Menschen der Welt hören und bewundern können, selten aber jemals wirklich nachzuahmen vermögen. Und auch wenn das Lied einer einzigen Nachtigall am schönsten erklingt, war das Lied das diese Nachtigall sang ein trauriges Lied, denn sie sang es allein. Die Freundin hätte dies Lied so gern erwiedert, aber sie war nur eine Krähe, nie dazu gemacht auf das Lied einer Nachtigall zu antworten – oder überhaupt Lieder zu singen. Und es mögen zwar viele gewesen sein, die die Nachtigall gern für sich gehabt hätten um ihrem Lied allein zu lauschen, doch diese wollten oder konnten es nicht mit ihr gemeinsam singen und die Freundin war schlichtweg keines jener Tiere. So redselig eine Krähe auch sein mag, die Freundin verharrte schweigend wenn die Nachtigall sang.
Das Herz der Freundin mochte vielleicht im Rhythmus zum Lied der Nachtigall schlagen, wenn es ertönte, doch da eine Krähe ihr Herz auf der Zunge trägt, verstummt es wenn sie schweigt. Und wie viele Andere, suchte die Nachtigall in den besonders dunklen Tagen die Nähe des Kranichs. Ein stolzes Tier, das auf seinen langen Beinen über die anderen hinwegsah – sie respektierten den Kranich, war er doch in der Lage selbst aus dem Stand heraus das überschaubare Tierreich um die Stadt Löwenstein herum zu überblicken. Aber da alle Tiere mit der Bitte um Rat zu ihm eilten, erklang das Lied der Nachtigall, auch wenn sie dessen Gesellschaft suchte, des Nachts allein. Der Kranich wusste von der Freundin, wenn er auch nur wusste, dass die Freundin zu keinem der Krähenschwärme dieser Gegend gehörte. Die Freundin respektierte den Kranich, doch sie war in Sorge.
In Sorge um das Herz der Nachtigall, der es danach verlangte ihr Lied nicht allein zu singen. Und wenn die Nachtigall ein Lied der Trauer sang, erklang das Herz der Freundin in gleichem Rhythmus. Und zu gerne hätte sie ihre Flügel schützend um die Nachtigall gelegt – aber wer war sie, die Welt somit um das Lied der wunderschönen Nachtigall zu berauben?



Die Krähen

Krähen sehen die Welt anders. Die Farben der Welt erstrahlen in ihren Augen anders. Wo Menschen schwarz und weiß sehen, sehen Krähen so viel mehr. Und sie reden darüber – und wie viel und wie oft sie darüber reden. Doch diese Einsicht kommt nicht ohne Preis. Denn Krähen mögen viele Dinge so sehen wie sie wirklich sind – und so viele Farben sie sehen, so mag in einem gewissen Sinne die Welt für die Augen einer Krähe doch grau erscheinen. Und so mag niemals eine Krähe einen blauen Himmel gesehen haben. Es mag kaum verwunderlich sein, dass Krähen auf andere Geschöpfe zynisch, höhnisch und unheilsversprechend wirken. Eine Krähe sieht, dass die Welt gleich ist – in der Wirklichkeit unter distanzierten Sternen, erwartet jeden das gleiche Schicksal. Der Tod ist gerecht, denn er kommt zu jedem und wie in vielen alten Mythen besungen ist es die Krähe, die die Seelen der Verstorbenen in das Jenseits geleitet, aber nur bis zur Schwelle. Sie ist selbst dazu verdammt bis ans Ende aller Tage hier zu verharren und wenn sie stirbt, bringt die Krähe die kommt um ihre Seele zu sammeln, diese wieder zurück. Dies macht die Krähen bitter, und auch wenn ihr Federkleid so gar nicht wirklich schwarz ist, würden die anderen Wesen es so sehen können wie es ist, so sehen sie es doch nicht ganz zu Unrecht in jenem tristen Ton.
Eine Krähe müsste schon Mitleid empfinden können um noch Hoffnung zu hegen.
"We are your voodoo vampire neighbours."
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RE: [FSK-6] Amhraner Märchenstunde - von souvenance - 28.10.2013, 17:44



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