FSK-18 Voyeur
#5
[Bild: 11065670135_a2329d4639.jpg]

Schnee. Einer der wunderbarsten Zustände des Wassers taumelt ungehetzt und federleicht vom Himmel. Der Schneeflocke ist es recht egal, wo sie landet. Sie lässt sich vom Wind hin und her schubsen, bis sie irgendwann auf der Erde landet. Dort können ihr zwei Schicksale blühen. Entweder ist der Boden noch zu warm und nicht bereit, dann schmilzt das kunstvolle Gebilde und sickert ein. Oder der Boden ist kalt und gefroren und bietet ihr eine optimale Liegefläche. Kaum, dass die eine Flocke liegt gesellen sich Weitere dazu. Sie schichten sich mühelos übereinander und hüllen den Untergrund in sauberes Weiß. Egal, wie dreckig der Untergrund vorher war, die Flocken bedecken ihn gleichmäßig und hinterlassen ein stahlendes und unschuldiges Bild. Die Welt und die Natur arrangieren sich mit dem Schnee. Lebenwesen und Pflanzen verfallen in einen Winterschlaf und auch die Menschen werden träge und sehnen sich nach Wärme.

Ein nicht ganz so gebildeter Mensch wie Aki würde behaupten der Schnee mag es nicht, wenn er bedrängt wird. Die geschichteten Flocken mögen den Zustand der schwerelosen Freiheit wobei nur die Zeit und der Tau ihre Wiedersacher sind. Aber die Menschen verfallen in keinen Winterschlaf. Sie haben den ständigen Drang nach Fortschritt. Also dauert es nicht lange bis jemand durch das winterliche Trugbild von Unschuld stapft. Der Schnee knarzt, es gefällt ihm nicht.
Ein weiser Mensch würde vielleicht denken, der Schnee sei eben dafür da. Das Geräusch des knirschenden Schnees unter den Stiefeln ist Balsam für die Ohren. Möglicherweise ersehnt er den ersten Schnee nur dafür, um jenes seltene Geräusch wieder zu hören.

An jenem Abend in der Taverne erzählte Orestes Sherion, dass er von Schnee geträumt hatte. Aki wurde hellhörig und konnte nichts gegen das Bild in seinem Kopf tun, welches sich manifestierte. Orestes steht knöcheltief im Schnee. Die Augen sind in kindlicher Begeisterung geweitet und er streckt die Handflächen von sich, um den Schnee zu spüren und auf der Haut schmelzen zu lassen, bevor er den Boden berührt. Dann geht er genüsslich weiter, Schritt für Schritt und genießt das Knirschen. Alles um ihn herum beugt sich dem Schnee. Nur er stapft freudig hindurch und schert sich nicht um die Kälte, da zu Hause ein knisterndes Kaminfeuer wartet.

'Und weiter?' hakt Sherion nach, wobei es in Aki's Ohren wohl plumper klang, als es gemeint war.
'Nichts weiter, einfach nur Schnee.' Die beiden lächeln oder schmunzeln, schwer zu hören über die wenigen Schritt Entfernung. Hatte er was verpasst? Sicher gab es irgend eine unterschwellige Botschaft. Wieso sollten die beiden über Schnee reden? Er hasst es, dass er Orestes nicht versteht.


Mittlerweilen sitzt er zu Hause im Verkaufsraum und hat einen Tisch vor die Eingangstür geschoben. Er versteht es immer noch nicht. Aber jetzt war es auch unwichtig geworden. Ihn beschäftigt so viel mehr.

Endlich war Orestes aufgestanden und wollte in Begeleitung abziehen. Es war egal gewesen, was er zu ihm sagt, hauptsache er bleibt stehen. Am Besten wird er noch wütend. Als Sherion vorraus geschickt wird und Orestes sich doch tatsächlich bereit erklärt mit ihm zu reden, kann er die Überraschung nur schwer verbergen.
Aki wusste was ihn erwartet, sobald die beiden die Taverne verlassen und auf die verregnete Straße treten. Der Klang des Regens auf das nackte Pflaster beruhigt ihn und er sucht Schutz unter dem Vordach des Badehauses. Es war nicht notwendig irgendetwas auszuschmücken oder das Ganze ein zu leiten. Es gab eine zentrale Frage, eine nichtige Frage, wenn man die Antwort darauf schon kennt oder besser gesagt spürt. Mehr wollte er nicht, nur es aus Orestes Mund hören.
'Bist du mit Sherion zusammen?' Die Worte sind ruhiger, als er erwartet hat, vermutlich schon die Resignation.
'Definiere zusammen.' entgegnet ihm sein Gegenüber. Was soll der Scheiß jetzt? Reiss dich zusammen, er hat nur eine Frage gestellt. Tu ihm den Gefallen.
'Empfindest du etwas für ihn und ziehst eine Beziehung in Erwägung?'
War der fallende Regen eben schon so laut? Er kann nichts hören. Hatte er schon geantwortet oder war das nur in deinem Kopf? Gerade als ihn das Gefühl beschleicht die Stille würde eine Ewigkeit andauern, anstatt nur wenige Herzschläge, antwortet Orestes.
'Ja.' Kommt es knapp zurück und er kann sich nicht entsinnen, wann ein so schlichtes Wort so entgültig war.

Er kann sich nur noch vage an den Rest des Gesprächs oder besser gesagt Diskussion erinnern. Eher wie ein unfreiwilliger Zuhörer, der halb in Hörweite sitzt und nur Gesprächsfetzen mit bekommt. Er glaubt sich zu erinnern, dass Orestes versucht hat sich zu rechtfertigen. Oder zu erklären? Macht es einen Unterschied? Jedes Mal, als er das Gefühl hatte, seine Aufmerksamkeit wäre wieder auf Orestes fokusiert lief Sherion vorbei. Dieser kleine, schwanzwedelnde Köter. Er lässt ihn keinen Wimpernschlag aus den Augen.
Zwar sieht er weiterhin durch Orestes hindurch aber seine Aufmerksamkeit liegt auf den Schritten, die ihn passieren. In etwa dreimal ereignet sich dieses Mysterium, jedes mal wenn er die Aufmerksamkeit wieder auf die Worte gelenkt hatte, die aus Orestes Mund sprudelten. Schließlich bleibt Sherion direkt vor der Tavernentüre stehen, lehnt sich dagegen und starrt ihm eindeutlig in den Nacken. Bevor er in seinem Zustand den Kleinen noch anspringt, der sich wie durch schlechten Zufall immer wieder einmischt, geht er lieber.

Mit jedem Schritt, den er näher zum Haus kommt bröckelt die Beherrschung. Er beschleunigt die Schritte wissend, dass die beiden nur kurz hinter ihm folgen. Beschissene Nachbarschaft. Paranoid wie eh und je flüchtet er ins Haus und verbarrikadiert die Türe mit einem Tisch. Seine Gedanken spielen Ping Pong und ihn beschleicht das Gefühl er würde jeden Moment dem Wahnsinn verfallen, wenn er nichts dagegen tut.
Warum ist es trotzdem so schockierend, wenn man vorher schon damit gerechnet hat? Es ist wie der zweite Peitschenhieb. Du weißt, wie hart und schmerzhaft der Erste war und willst dich intuitiv wappnen. Aber dein Körper reagiert anders als dein Geist. Auch wenn er die Situation unzählige Male im Kopf durch gegangen ist, es ändert nichts an der Heftigkeit des Schlages. Und dennoch kommt man nicht umhin sich zu fragen, ob es letztes Mal genauso weh getan hat.
Verdammte Emotionen, wann hatte sich sein Körper gegen seinen Geist entschieden und wieder damit angefangen? Es macht jemanden schwach und angreifbar. Ich dachte darüber wären wir hinweg!

Während er zwischen Zusammenbrechen und dem Drang, jemanden zu Töten schwankt, kommt ihm unpassenderweise die Antwort auf die Frage. Und damit die Lösung: Schnee. Orestes ist der Schnee. Du bist das Murmeltier, dass in den Winterschlaf versetzt wird. Er wird getreten, knirscht wehleidig und du merkst nichts davon. Aber in eben jenem Moment ist genau dieser Zustand überaus erstrebenswert.
Mit einem dumpfen Laut landet der Lederwams auf den Bodendielen, nachdem er jenen über den Kopf gezogen hat. Er rupft die Bänder des Leinenhemdes auf, zieht es aus und betrachtet die verbundene Schulter. Ruppig löst er die sorgsam gewickelte Bandage und zieht die Lagen von der Schulter. Es ist nicht das erste Mal, du weißt wie es geht. Schalte es aus.
Die Fadenknoten ragen leicht aus dem heilenden Fleisch. Er lehnt Rücken und Hinterkopf gegen die Wand und schließt die Augen. Die Finger tasten sich zum Oberarm voran und beginnen erst vorsichtig, dann fester an den Fäden zu ziehen. Erst ziept es unanegnehm, dann wandelt sich das Gefühl in ein Stechen, bis nur noch Schmerz bleibt. Stetig macht er weiter, bis die Wunde zu bluten beginnt und die Fingerspitzen vom Lebenssaft getränkt sind. Immer weiter, bis er an die Grenze gelangt, an welcher der körperliche Schmerz den Geistigen überlagert.

Die blutigen Finger stellen ihre Arbeit ein und er sinkt ruhig gegen die Wand. Sein Körper gibt dem Gefühl von Leere in seinem Kopf bereitwillig nach. Gemächlich beruhigt sich sein Herzschlag, während er die Totenstille in seinem Kopf genießt. So wunderbar still. Der Moment hält an und zieht sich die ganze Nacht. Er denkt an nichts, starrt ins Leere und stört sich nicht im Geringsten daran. Keinerlei Emotion und vollkommene Gleichgültigkeit, während sich der letzte Rest Menschlichkeit verabschiedet. Die Welt dreht sich weiter, der Morgen graut und der Lärm vor seiner Türe, der ihm gestern vielleicht noch einen Hauch Schadenfreude oder Hoffnung bereitet hätte, wird schlichtweg nicht mehr wahr genommen.
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Voyeur - von orikson - 27.10.2013, 14:33
RE: Voyeur - von orikson - 30.10.2013, 14:18
RE: Voyeur - von orikson - 31.10.2013, 13:26
RE: Voyeur - von Aki Durán - 14.11.2013, 14:48
RE: Voyeur - von Aki Durán - 26.11.2013, 13:38
RE: Voyeur - von Aki Durán - 12.02.2014, 20:06
RE: Voyeur - von Aki Durán - 25.02.2015, 14:25
RE: Voyeur - von Aki Durán - 28.03.2015, 12:46
Träume - von Aki Durán - 15.10.2015, 14:53
Die Gehörnte - von Aki Durán - 01.12.2015, 12:48
Marionette - von Aki Durán - 19.06.2016, 23:03
Kontrolle - von Aki Durán - 26.09.2016, 18:11
Nähe - von Aki Durán - 26.11.2016, 21:03
Beherrschung - von Aki Durán - 27.01.2017, 23:56
RE: Voyeur - von Aki Durán - 10.02.2017, 21:00
RE: Voyeur - von Aki Durán - 09.07.2017, 13:24
RE: Voyeur - von Aki Durán - 02.12.2017, 15:29
RE: Voyeur - von Aki Durán - 04.01.2018, 18:10
RE: Voyeur - von Aki Durán - 10.07.2018, 17:09



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