FSK-18 Voyeur
#3
Kurz nach dem Erwachen gibt es eine Leerphase. Die Gedanken sind wie aus dem Kopf gefegt und man fühlt sich kurzzeitig unbefleckt und unwissend. Dabei ist es völlig egal was am Tag zuvor geschehen ist, für wenige, wunderbare Augenblicke scheint alles unwichtig zu sein. Aber langsam und unweigerlich kommen die Sinne zurück. Man öffnet die Augen, um sich zu orientieren, blinzelt noch ein paar Mal ohne jegliche Erinnerung, bis diese langsam in den Verstand zurück sickert. Geschehnisse und Worte hämmern unaufhörlich in seinem Kopf nieder und zerren ihn grausam zurück in die Realität.
Der Blick aus den stahlgrauen Augen ist noch immer trüb und wie leergefegt von jeder Emotion auf einen unbestimmten Punkt gerichtet. Er hat sich, ohne groß darüber nachzudenken in den Stall hinter dem Badehaus zurückgezogen, um dort in den Kornspeicher zu steigen. Es war spät in der Nacht gewesen und kein Mensch war mehr auf den Straßen unterwegs, geschweige denn der Stallbursche. Ohne Interesse an dem, was er dabei findet bahnt sich der Blick den Weg durch die dunkle Kammer. Bis auf eine Luke besitzt der Speicher keinerlei Fenster, weshalb sich auf den Dielen vor jener langsam die ersten Sonnenstrahlen tummeln. Er kann das orange-rote Licht des Sonnenaufgangs erahnen und, wenn er die Augen nochmals schließt bereits das Treiben herbei sinnen, das bald auf den Straßen beginnen wird. Die Bevölkerung Löwensteins kann es an den immer kürzer werdenden Tagen kaum erwarten aus den Federn zu kommen. Er hingegen würde sich am Liebsten den ganzen Tag hier verkriechen, bis entweder die Resignation so allgegenwärtig wird, dass er es verkraften kann oder irgendwann einfach sein Kopf aufhört zu arbeiten. Hunger ist ein gutes Mittel, um das hektische Treiben der Gedanken zu unterbinden. Nur mit dem Nachteil, dass er unberechenbar aggressiv wird, wenn sein Magen vor sich hin knurrt. Aber hier, wo vermutlich niemand so dumm wäre ihn anzusprechen, ist diese Zustand erstrebenswert und er sehnt sich förmlich nach der Kraftlosigkeit, während sich sein Körper nach etwas zu Essen verzehrt.

Warum nicht hier bleiben. Stunden, Tage oder Wochen, wen interessiert es. Er würde anfangen mit sich selbst zu sprechen, die einzige Person die seine Beweggründe mal versteht. Der Gedanke löst ein leises Seufzen aus und er schließt die Lider wieder, um den entrückten Blick zu versiegeln. Fast wäre er wieder weggedöst, eine bemerkenswerte, überaus seltene Tatsache die ihn für einen Moment fast auflächeln lässt. Doch er hatte nicht damit gerechnet, dass Tomas, der arbeitswütige Stallbursche schon so früh losziehen würde, um die Tiere zu versorgen. Die Schritte des leichtgewichtigen Stallburschen hält er zuerst für seinen ruhiger werdenden Herzschlag, bis er ein zugleich erschrockenes und ersetztes Aufkeuchen hört. Anscheinend führt der erste Weg des Stallknechts in den Getreidespeicher und bereits, als die Hälfte der Leitersprossen erklungen sind, starrt er in die Gestalt in der Ecke. Er muss nicht an sich hinab blicken, um sich zu erinnern wie er aussieht. Aber um das Bild zu vervollständigen öffnet er die Augen langsam und starrt dem erschrockenen Gesicht entgegen. Der Junge ist ganz ansehnlich und der raubtierhafte Ausdruck, als würde er sein Gegenüber als Beute betrachten, tritt in die ohnehin schon düsteren Augen.

Vielleicht hätte es ihn zu einem anderen Zeitpunkt amüsiert, wie er den Burschen schwer schlucken hört, bevor ein ängstliches Wimmern ertönt, als hätte dieser gerade einen tollwütigen Wolf in seinem Kornspeicher gefunden. Aber im Moment ist es ihm einfach gleichgültig und er hofft inständig, dass der Junge nicht so dämlich ist und die restlichen Stufen erklimmt, denn sein Drang nach etwas Schmerz, der nicht sein eigener ist, pocht heftig in ihm. Die unschuldigen Rehaugen seines Gegenübers rucken an der Gestalt hinab, welche mit eingesunkenem Rücken gegen die Wand lehnt, die langen Beine ausgestreckt. Er kann regelrecht miterleben, wie sich jeder Muskel des Burschen anspannt, gar vor Angst bebt. Das sonst so markante, eigentlich ganz ansehnliche Gesicht ist blutverkrustet. An einigen Stellen mehr an anderen weniger, aber dank des Blutes, dass aus der gebrochenen Nase quoll kann es bei reger Fantasie tatsächlich den Eindruck erwecken er hätte ein Tier gerissen. Er traut dem Stallburschen viel Fantasie zu und würde zu gerne für einen Moment in dessen Kopf Mäuschen spielen und herausfinden welche hässliche Teufelsfratze er sich gerade aus diesem Anblick zurecht biegt. Tiefrote, durch den Lichtmangel schwarze Blutflecken ziehen sich über die Unterarme bis hin zu den Händen und besprenkeln den Lederwams. Der Blick des Jungen flackert hin und her, das typische Phänomen von der Gebanntheit des Anblicks, auch wenn dieser ihn immer mehr verängstigt.
Endlich kommt er zuckend und mechanisch in Bewegung und stolpert hektisch wieder die Leiter hinab. Einen Moment ist es leise, nur das sanfte Wiehern eines Pferds, dann dringen die eiligen, fast hüpfenden Schritte an sein Ohr, als der Stallbursche wie fortgetrieben losrennt. Er schließt die Augen und wartet darauf, dass er zu schreien oder zu rufen beginnt, aber nichts dergleichen geschieht. Normalerweise würde er sich darum scheren, ob der Junge gleich mit einer noch schlaftrunkenen Stadtwache hier auftaucht oder nur zu seiner Mami rennt, aber im Moment ist es ihm schlichtweg gleich. Er stößt ein fast schon enttäuschtes Seufzen aus, immerhin hätte der Kleine am frühen Morgen sicher ein schönes Wagnis abgegeben, aber man kann nicht alles haben.

Während er dem Gedanken noch nachhängt, betastet er die verrückte Nase und packt dann fest zu. Er öffnet die Lippen einen Spalt und beginnt ruhig durch den Mund zu atmen, als er mit einem kraftvollen und schmerzvollen Ruck die eigene Nase einigermaßen zu richten versucht. Für einen Moment ist der Schmerz so penetrant, dass sich ein dunkler Schleier über seine Augen legt, welcher aber bald wieder abflacht. Er lässt die Hand wieder neben sich ins pieksige Heu fallen und neigt den Kopf beiseite, damit das freudig sprudelnde Blut nicht in seinen Mund läuft. Tiefrot sammelt sich der klebrige Lebenssaft in seiner Halsbeuge, bis der Fluss irgendwann endet. Die, mit dem Blutverlust einhergehende Schwäche kommt ihm gelegen und er sinkt ein wenig mehr in sich zusammen. Das hämmernde Pochen an der Schläfe macht sich wieder bemerkbar und erinnert ihn an die Platzwunde dort. Ebenso drückt sich die geprellte Rippe schmerzvoll gegen Brustkorb, obwohl er bemüht flach ein und aus atmet. Als sein Körper ihn mit jedem Herzschlag an die gezielten Tritte erinnert, muss er sich eingestehen, dass Mike hervorragende Arbeit geleistet hat.

Nur zu gut kann er sich an den Ausdruck in den smaragdgrünen Augen erinnern, als die nachdenkliche Berechnung zu kalter Härte wird. Was auch immer Marek in diesem Moment gedacht hat oder welchen Hebel er umgelegt hat, er ist ihm überaus dankbar dafür. Er kann sich nichtmal ansatzweise ausmalen, wie intelligent dieser schöne Mann ist. Hatte er es einfach gewusst, oder war es so offen in den leeren, stahlgrauen Augen zu lesen? Hatte er ihn stumm dazu aufgefordert ihn bis zur Bewusstlosigkeit zu prügeln, weil der letzte Funken seines eigenen Verstandes wusste, dass es die einzige Option war?
Die Gleichgültigkeit mit der Mike diese Situation behandelte, war erstaunlich. Jedoch blieb der schmerzliche Stich in der Brust aus, da Aki ihm einfach nur dankbar war, dass er gehandelt hatte. Er hatte die Kontrolle verloren und eigentlich hätte Marek ihn schon vorher außer Gefecht setzen müssen, bevor er auf Orestes los gegangen war. Die Szenerie kann er sich nur am Rande in Erinnerung rufen. Orestes geknebelte Schreie hatten sich jedoch in seinem Kopf festgebrannt, wodurch scheinbar alles andere von seinem Verstand als unwichtig abgetan wurde. Dennoch kommt er nich umhin sich zu fragen, warum Marek nicht eingegriffen hat. Hat es ihm gefallen? Konnte er dem egoistischen Beweggrund etwas abgewinnen, wegen dem Aki überhaupt zu Orestes gegangen war?

Er lauscht dem eigenen Gedankenstrom und seufzt auf, als er sich selbst wieder und wieder versichert, dass es nicht seine Schuld war. Orestes hatte Marek – seinem Mike – Schaden zugefügt und ein schlauer Junge wie Orestes wusste sehr wohl, welche Lawine er damit auslöst. Man beschädigt nicht mutwillig den Besitz eines Anderen und erst recht nicht den seinen. Doch der Ausbruch hatte nichts mit Eifersucht zu tun. Hätte Orestes Mike angefasst oder sonst was mit ihm getrieben, er hätte es hin genommen, aber ihm weh zu tun, das war sein Privileg. Umso länger er darüber nachsinnt, umso plausibler gestaltet sich der Anspruch auf Kontrolle und Besitz in seinem Kopf. Du hast alles richtig gemacht, Orestes ist selbst Schuld. Er kann es sich noch bildlich ins Gedächtnis rufen. Das sanfte Zucken, als er die oberflächlichen Schnitte an Marek's Bauch und Wange berührt. Er weiß, wie nah es mit Genuss verbunden ist und anscheinend hat Orestes das auch erraten. Ihm wird übel bei dem Gedanken, dass Marek es möglicherweise sogar genossen hat. Ihn trifft keine Schuld, etwas das so tief im Unterbewusstsein verankert ist, kann er nicht steuern, egal wie stark der Wille ist.

Die Wut kehrt flammend zurück und er wendet rasch den Oberkörper ein minimales Stück um den Schmerz in der Rippe zu verstärken. Egal wie sehr er sich dagegen wehrt, der Gedanke verfliegt nicht so einfach. Warum hatte Orestes das getan? Provokation? Er wusste was passieren würde oder nicht? Wie könnte er so anmaßend sein seinem Peiniger die Schuld zu geben? Dieser Gedanke ist für Aki volkommen unschlüssig. Wo andere stutzig werden, ist es für ihn völlig legitim, dass er Orestes so zugerichtet hat. Ebenso rechnet er starrsinnig damit, dass Orestes zu ihm gekrochen kommt und ihn weiter darum anfleht, ihm zu helfen. Immerhin wollte er etwas von ihm lernen und zwar nur von ihm. Mit einem versonnenen, boshaften Grinsen ruft er sich Orestes Worte wieder in Erinnerung, während dieser dicht vor ihm stand. Es kommt ihm nicht einmal in den Sinn, dass Orestes ihm nur geschmeichelt hat und wusste was er sagen muss, um an das zu kommen, was er will.
Ohne, dass er sich im Geringsten dagegen wehren kann, sieht er Orestes vor sich baumeln. Die sonst so boshaften Augen weit aufgerissen, der sonst so beherrschte Zug um den Mund verzogen zwischen Lust und Angst. Ein tiefes Knurren bricht aus seiner Kehle hervor und er wagt es das Bild noch etwas weiter aufzubauen. Komm schon, Orestes. Zieh nicht den Schwanz ein. Wir haben noch so viel vor uns. Ich fange doch gerade erst an.

Seltsamerweise lösen all diese Gedanken einen kurzen Moment von Klarheit in seinem Verstand aus. Er verliert sich wieder zu sehr. Mike hatte ihn gestern ermahnt. Für was die ganze Mühe mit dem Laden und der Zunft, wenn er die kleinen Fortschritte wieder mutwillig zerstört. Mit einem ungenehmen Ziepen, als würde man eine festgeklebte Bandage von einer Wunde ziehen, schiebt er den Gedanken an Orestes weg und schafft es für einen Augenblick sogar sich zu besinnen. Die ganze Situation muss etwas abkühlen, genauso wie er sein sadistisches Verlangen auf Eis legen muss. Es muss etwas Normalität einkehren und er weiß genau, wie er das zweckmäßig herbeiführen kann. Du brauchst mal wieder eine Frau.
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Voyeur - von orikson - 27.10.2013, 14:33
RE: Voyeur - von orikson - 30.10.2013, 14:18
RE: Voyeur - von orikson - 31.10.2013, 13:26
RE: Voyeur - von Aki Durán - 14.11.2013, 14:48
RE: Voyeur - von Aki Durán - 26.11.2013, 13:38
RE: Voyeur - von Aki Durán - 12.02.2014, 20:06
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Träume - von Aki Durán - 15.10.2015, 14:53
Die Gehörnte - von Aki Durán - 01.12.2015, 12:48
Marionette - von Aki Durán - 19.06.2016, 23:03
Kontrolle - von Aki Durán - 26.09.2016, 18:11
Nähe - von Aki Durán - 26.11.2016, 21:03
Beherrschung - von Aki Durán - 27.01.2017, 23:56
RE: Voyeur - von Aki Durán - 10.02.2017, 21:00
RE: Voyeur - von Aki Durán - 09.07.2017, 13:24
RE: Voyeur - von Aki Durán - 02.12.2017, 15:29
RE: Voyeur - von Aki Durán - 04.01.2018, 18:10
RE: Voyeur - von Aki Durán - 10.07.2018, 17:09



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