Briefe an G.
#3
Zwischenspiel

Es hatte eine Zeit gegeben, da der Neue Hafen wie wenig anderes die Ambitionen, den Aufbruchgeist Löwensteins verkörpert hatte. Hier liefen die Handelswege zusammen, hier gab man sich weltmännisch und aufgeschlossen, hier wurde das grosse Geld verdient, das man später in den zwielichteren Gegenden der Stadt wieder verprasste.
Mit dem Schliessen der Grenzen, durchgesetzt gegen den erbitterten Widerstand des damaligen Sprechers des Neuen Hafens im Stadtrat, war all das Geschichte geworden.

Heute lagen die Docks vereinsamt und der Wind pfiff an den zum grössten Teil leerstehenden Lagerhäusern und Kontoren vorbei, die von besseren Zeiten träumten. Noch hatte der Verfall nicht begonnen, denn die Hoffnung hielt die Wege sauber und schrubte auch die Planken Stege, kämpfte einen unermüdlichen Krieg gegen Moose und Muscheln und den ätzenden Kot der Möwen. Aber es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Verzweiflung überhand nahm. Das warnende Beispiel des Alten Hafens war nur ein paar Steinwürfe entfernt und verhiess nichts Gutes.

Mitten in der Nacht gehörte der neue Hafen schon heute nur den Ratten und einige davon trugen statt Pelz Kleidung und statt Klauen scharfe Messer.

Jene, die jetzt auseinanderstoben vor den eiligen Schritten eines späten, ohne Laterne herumstreifenden Wanderers, gehörten zur ersten Art, sie flohen gerade ein paar Schritt weit und duckten sich dann unter stehengelassene Kisten und neben verrottende Seile, nicht gewillt sich auf lang von ihrer frischen Mahlzeit vertreiben zu lassen.

Scharfe Augen beobachten den Ankömmling, der in der Dunkelheit nicht mehr war als ein Schattenriss und sich mit einem heiseren Fluch neben dem Leichnam auf ein Knie sinken liess.
Die Ratten wussten nichts von Scham oder Reue, also konnten sich auch mit der Erleichterung nichts anfangen, die dem ersten Schrecken folgte. Sie interessierte nur, wann die Störung ein Ende hatte und sie endlich zu ihrer Mahlzeit zurückkehren konnten.

Ihre Enttäuschung nahm beinahe menschliche Form an, als der Störenfried den noch nicht gänzlich abgekühlten Leib packte und über den Rand der Kaimauer schob - Nahrung für andere, aber nicht weniger hungrige Räuber. Vielleicht hätte es sie getröstet von den Erinnerungen zu wissen, die durch den Schädel des eilig Weiterschreitenden schossen.

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"Du bist der Meinung, dass dir dein Zorn hilft. Dass er dir die Fähigkeit verleiht das grössere Geschick, die höhere Stärke und die bessere Ausbildung deiner Kameraden zu kompensieren.
Du irrst dich."


Die ganze Existenz des Raumes in den der Jüngling beordert worden war, verdankte sich einem Rechenfehler des Architekten, der sich erst wirklich gezeigt hatte, als die Arbeiten in diesem Bereich soweit fortgeschritten waren, dass keine Änderung mehr möglich gewesen war.
Im Laufe der Zeit hatte es viele Versuche gegeben diese bessere Abstellkammer irgendwie sinnbringend zu nutzen - selbst als Kerker hatte das fensterlose Zimmer bereits gedient. Tatsächlich wirkte die Steinmauern auf viele Besucher beim ersten Mal erdrückend: Bei einer Breite von kaum eineinhalb Schritt und einer Höhe von etwas über sechs Schritt, schienen die Wände links und rechts wie Schluchten emporzuwachsen, daran änderte auch die Länge bei ungefähr 4 Schritt kaum etwas.

Und vor einigen Jahren war der "Kamin" dann zum Arbeitszimmer für den Vorgänger des jetzigen Waffenmeisters bestimmt worden. Die Tradition, wenn es denn eine war, war geblieben, als der in einem hübsche Bronzeschild vor der Türe angebrachte Name sich geändert hatte. "Helman Durnried" konnte man heute dort lesen, gleich über dem Symbol der beiden gekreuzten Klinge.

Mit der Zeit war der Spottname "Kamin" mehr und mehr zutreffend geworden: Ohne ein Fenster brauchte dieser Raum immer künstliches Licht und die rauchenden Fackeln hatten schon vor Jahren begonnen die Wände zu schwärzen. Hier war der feine Geruch von Feuer, Asche und Glut niemals weit und schon das allein brachte schon manchen der Besucher aus der Fassung.

"Das hier ist kein Schlachtfeld, Junge, sondern eine Schule. Du begreifst den Unterschied zwischen einer Übung und Ernst?"

"Ja, Herr."

"Da bin ich mir nicht so sicher. Das war nicht dein erster Verstoß gegen die Regeln."

Prüfende, zusammengekniffene Augen überflogen noch einmal die einzelnen Zeilen der aufgeschlagenen Akte in denen akribisch Zeit, Art des Ereignisses und Form der Bestrafung vermerkt waren.

"Es macht den Anschein, als hättest du ein ernstes Problem mit Disziplin Junge. Zumindest ist das der Tenor, den ich hier herauslese. Hast du ein Problem mit Disziplin?"

"Nein, Herr."

Dieses Mal nahm der Waffenmeister sich die Zeit den Jüngling genauer zu betrachten, der die letzten Minuten damit verbracht hatte auf der harten hölzernen Bank auszuharren und dabei eine schuldbewusste Leichenbittermiene präsentiert hatte.

"Hälst du dich für schlau, Junge?"

Wie es zu den Regularien für die Schüler gehörte, war der Schädel des Jünglings geschoren worden, kurz genug, dass nur dunkler, borstiger Flaum von dem dunklen Schopfhaar geblieben war. Das Gesicht wies einige Schrammen auf, Spuren der kaum ein halbes Wassermaß zurückliegenden Auseinandersetzung, die schliesslich ein hässliches Ende gefunden hatte und damit den Anlass für dieses Zusammentreffen darstellte.

"Nein, Herr."

"Und doch sagst du mir, dass du kein Problem mit Disziplin hast. Wie kommt es dann, dass du auf deinen Mitschüler losgegangen bist, als wolltest du ihm mit den Zähnen das Herz aus dem Leib reissen? Wie erklärst du dir, dass du die wiederholten Anweisungen des Rundmeisters missachtet hast und schliesslich zu von drei Mannen zu Boden gerungen werden musstest, während du - ich zitiere - 'geheult und geschrien hast, wie ein toller Wolf'?"

Dieses Mal blieb der Jüngling stumm, aber die scharfen Augen des Waffenmeisters fanden den glimmenden Widerspruch, der sich in der ganzen, versteifenden Haltung des Herbeizitierten zeigte.

"Dein Problem ist tatsächlich nicht Disziplin. In deiner Akte gibt es nur eine einzige Art von Vorfällen, die eine so eindeutige rote Linie beschreiben, dass ich nicht verstehen kann, wie das übersehen werden konnte.
Du hast keine Beherrschung, Junge. Schlimmer: Du bist jähzornig. Und spar dir diesen Blick. Es ist das Ziel dieser Schule das Kämpfen zu lehren und das Überleben im Kampf. Wir zeigen dir, wie du an deine Grenze gehst und darüber hinaus.
Das ist bei dir nicht möglich: Wenn du an deine Grenze gelangst, gibt es kein Halten mehr. Du verwandelst dich in einen Wahnsinnigen im Blutrausch und das hilft dir vielleicht hier drinnen, wo deine Mitschüler es nicht Ernst meinen und sich daher überraschen und überwältigen lassen. Da draussen wird es dich umbringen.'

Hör auf zu lächeln, Junge. Hälst du mich für einen Schwätzer? Jeder deiner Mitschüler ist wertvoller als du, denn sie können auch dann gehorchen, wenn alles um sie zusammenbricht. Ordnung, Einigkeit, Führung - das sind nicht nur Floskeln.

Wir haben keine Verwendung für jemanden, der zerbricht, wenn es aufs Ganze geht. Pack deine Sachen, Junge. Du bist raus."
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Briefe an G. - von Gerlach Ganter - 14.10.2013, 13:57
Briefe an G. 24.10.2013 - von Gerlach Ganter - 24.10.2013, 19:24
Zwischenspiel - von Gerlach Ganter - 28.10.2013, 11:22



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