Briefe an G.
#1
Für einen langen Moment war der Impuls die locker gehaltene Axt einfach durch das Lächeln des Gegenüber zu schlagen, beinahe übermächtig. Wallender Zorn schnürte die Kehle zusammen, brachte das Herz dazu schmerzhaft gegen die Rippen zu klopfen - eilige Schläge, die das Blut so laut in den Ohren dröhnen liessen, dass alle noch gesprochenen Worte einfach untergingen.

Der Hang zum Jähzorn war in den zurückliegenden Jahren ein steter Begleiter gewesen, sorgsam dokumentierte Ausbrüche hatten Eingang in eine akkurat gepflegte Akte gefunden, oft verbunden mit einer kurzen Beschreibung der angeordneten Strafe, die jeweils für angemessen erachtet worden war um das Fehlverhalten zu bestrafen und ein erneutes Auftreten zu verhindern.
Die Handschrift hatte im Laufe der Zeit gewechselt und die Liste wuchs, ganz als wären all die angeordneten Maßnahmen einfach nicht in der Lage gewesen die aufgestaute Wut im Zaum zu halten. Bis es dann eine Zäsur gegeben hatte: Der letzte Eintrag mit diesem Thema datierte auf den Siebten Hartung des Jahres 1396.
Ein gutgläubiger Mensch hätte das zum Anlass genommen um zu behaupten, dass die Erziehung am Ende doch noch Wirkung gezeigt hatte. Ein Zyniker hätte darauf hingewiesen, dass ein fehlender Eintrag in der Akte eben nur das war: Ein fehlender Eintrag.

Der Moment ging vorüber, ohne dass Godwin Ganter das vor kaum einem halben Wassermaß fertiggeschliffene Federstahlaxtblatt zu spüren bekommen hätte, die ausbrennende Wut hinterließ ein schmerzhaftes Gefühl der Leere in der Brust seines Neffen und blieb dort, zeugte Unrast die noch lange blieb, nachdem er die Kirche verlassen und das halbleere Häuschen aufgesucht hatte, das ihm dieser Tage als Obdach diente.

Dort wartete der vor gut einer Woche fertiggestellte erste Brief, hübsch in einem dicken Umschlag versteckt, der wiederum mit Wachs verschlossen worden war. In dieser Woche hatte sich soviel geändert, dass die dort niedergelegten Worte schon vollkommen obsolet waren, eingeholt von einer sich rasch wandelnden Wirklichkeit und als der Mann das selbst gesetzte Siegel brach und die Worte überflog, gesellte sich zum Gefühl der Leere noch der bittere Geschmack von Asche hinzu.

Zitat:Werter Onkel,
Ich habe Aufnahme in meiner Familie gefunden und eure Braut unversehrt vorgefunden. Das ist, denke ich, was Euch in erster Linie interessiert, richtig?

Es war auf jeden Fall eigenartig nach Löwenstein zurück zu kehren. Zwei Jahre lang hatte ich die Strassen nicht mehr beschritten und auch wenn sich wenig an den Häusern und Gassen selbst geändert hat, kam ich doch nicht heim in "mein" Löwenstein. Zwei Jahre nur, aber wo sich sonst bestenfalls Details geändert hatten, haben der Ansturm der Flüchtlinge, die Keuche selbst und die geschlossenen Grenzen mehr verändert als nur Einzelheiten. Alles, was ich für unveränderbar gehalten hatte, ist aufgebrochen und ich muss mich selbst dazu zählen.

Das Haus Ganter scheint seinen Platz jedenfalls gefunden zu haben, aber unter der glatten Oberfläche gibt es Dinge, die mich irritieren. Wo sind die Männer des Hauses und wieso führt ein Krüppel die täglichen Geschäfte? Warum wird ein Zobel gehalten (den ich bis jetzt übrigens noch nicht zu Gesicht bekommen habe). Godwin selbst hat die Überraschung scheinbar gut verkraftet, aber ich bin sicher, dass es nur der Respekt für Euch, werter Onkel, war, der ihn davon abgehalten hat mir sogleich die Kehle durchzuschneiden.

Ansonsten ist es in Löwenstein ruhig, es gibt nichts Aussergewöhnliches zu berichten.


Das las sich jetzt, eine Woche später, geradezu absurd, aber dennoch schlug er nun das Schreiben wieder zusammen und verschloss den Umschlag. Wie überholt auch immer die Beschreibungen sein mochten, sie spiegelten das nun eine Woche alte Verständnis. Er würde den zweiten Brief einfach direkt anschliessen.

Zitat:Werter Onkel,
In der letzten Woche brach das Chaos über Löwenstein herein: Eine machtvolle, untote Kreatur treibt ihr Unwesen und forderte Kirche und Stadt gleichermaßen hinaus, allerorts herrscht Aufruhr und wenn es je ein Gefühl von Sicherheit auf den Strassen gab, ist es nun dahin. Eure Braut ist derweil unversehrt, wie alle Anderen braven Mitglieder des Hauses findet sie Schutz in den Mauern der Kirche Mithras'. Ich behalte ein Auge auf sie, soweit es mir möglich ist ohne meine anderen Pflichten über die Maßen zu vernachlässigen.

Was den in meinem ersten Schreiben beklagten Mangel an Männern des Hauses betrifft, habe ich mittlerweile den Verdacht, dass Godwin eilig bestrebt ist jeden von Ihnen loszuwerden. Greimold, Gawin, Guntram, sogar die eigenen Söhne hat er fortgetrieben und duldet allein den Krüppel Gaius. Offenbar fürchtet er die Konkurrenz im Hause und regiert daher wie ein alternder Hahn, der die aufstrebenden Nachfolger forthackt, solange er dazu noch in der Lage ist. Dass dies dem Haus kaum dienlich ist, werter Onkel, brauche ich Euch kaum zu erklären.

Sollte ich ihm meine unbedingte Loyalität und Folgsamkeit ins Gesicht lügen? Würde das überhaupt einen Unterschied bei einem Mann machen, der noch nie das Gefühl gehabt hatte wirklich rechtmässig auf dem Stuhl des Patriarchen zu sitzen?

Und doch: Wenn ich überleben möchte, muss ich mir seinen Respekt verdienen, oder mit der Zeit wird er mehr Angst um seine Macht als vor Euch haben. Und das wäre einfacher, wenn ich ihn respektieren könnte. Ich habe eine geringe Hoffnung, dass ich noch etwas finde, das mir das ermöglicht.

Mit dem letzten Federstrich war auch der Zorn verblasst, hatte Eingang gefunden in die aus Tinte geformten Worte. Es war nicht klug dem Alten so etwas zu schreiben, denn trotz Allem schien dieser Vertrauen in Godwin zu haben, ihn zu schätzen - wahrscheinlich mehr als den missratenen Sohn des wenig ruhmreich verschiedenen Gerlach I.

Aber Klugheit und Vorsicht führten niemals zu einem echten Gewinn. Es würde schlichtweg nichts helfen sich brav zu ducken. Als die Gedanken die Spanne dieses verflossenen Abends überbrückten und die Erinnerung an ein geführtes Gespräch zurückriefen, zeigte sich ein dürres Lächeln auf den Lippen des Mannes: Neugier und Hochmut. Tugend und Sünde. Aber vielleicht doch untrennbar verbunden, wenn man ausgetretene Pfade verlassen wollte.

Unverändert fand auch dieser zweite Brief den Weg in einen Umschlag.
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Nachrichten in diesem Thema
Briefe an G. - von Gerlach Ganter - 14.10.2013, 13:57
Briefe an G. 24.10.2013 - von Gerlach Ganter - 24.10.2013, 19:24
Zwischenspiel - von Gerlach Ganter - 28.10.2013, 11:22



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