Götterreisen
#17
Sie gingen zum Schrein und Elda traf ihre Vorbereitungen. Felle wurden auf die Erde gelegt, ein Kohlebecken entzündet, die Instrumente - in diesem Fall eine Knochennadel, Faden und ein Tintenfass, sowie Bandagen - bereit gelegt und ein Eimer Wasser daneben abgestellt. Beide hockten sich auf die Felle einander gegenüber und dann erklärte ihr Elda, dass sie nun einige Kräuter verbrennen würde. Sie solle den Rauch tief einatmen. Ein kleines Nicken nur, dass sie die Worte vernommen hatte, als sich auch schon der Rauch der verbrennenden würzig riechenden Kräuter in den Himmel kringelte.

Als er sie erreichte, atmete sie mehrmals tief ein und nur wenige Augenblicke später schien sich ihre Welt mehr und mehr zu verändern. Die Farbe grün stach ihr zuerst ins Auge, so etwas grünes hatte sie noch nie gesehen. Das sie umgebende Gras schien beinahe zu leuchten. Und dann die Glut des Kohlebeckens und der kleinen Flammen, die aus ihr emporzüngelten. Die Farben der Sonne konnte sie darin erkennen, hell gelb-gold und leuchtend rot, wie ein Sonnenuntergang, violett und blau an den Rändern. Und mit jedem tiefen Atemzug, den sie tat, nahmen die Wahrnehmungen zu. Das Gras um sie herum schien zu wogen, wie ein reifes Kornfeld im Sommerwind und dann spürte sie die Ameisen, die sich durch den grünen Wald kämpften, auf der Suche nach Beute. Eine ganze Strasse von Ameisen, einige schwer bepackt, andere, die ihnen entgegen kamen. Ein Grashüpfer, der mit einem langen, eleganten Sprung über ihre Köpfe hinwegsauste. Ein kleiner Käfer, der sich mühsam versuchte, in Sicherheit zu bringen, sich durch die hohen Grashalme kämpfend und dennoch der anrückenden Armada von Ameisen unterlag.

Das Rauschen des Wasserfalls war überdeutlich zu hören, aber ihr war fast, als könne sie jedes Tier in der Nähe erspüren, sogar die Fische, die sich in dem kleinen Bergsee befanden. Der Schrei eines Falken hoch über ihren Köpfen, der Warnruf einer Drossel, das Schnauben der Pferde, ein Regenwurm, der seinen Kopf aus der Erde streckte und ebenso rasch wieder verschwand, eine Schnecke, die sich rasch in ihr Haus zurück zog. Überall um sie herum war dieses reiche Leben, dem man sonst kaum Aufmerksamkeit schenkte.

Doch auch sie wurde recht schnell wieder in die Realität zurück gerufen, als Elda den ersten Stich am rechten Unterarm setzte. Ihre ganze Konzentration fokussierte sich auf das, was nun kam. Schon beim zweiten Stich wurde sie von Gefühlen überschwemmt, die sich langsam, wie die aufsteigende Flut in ihr breit machten. Das Gefühl von Verlust, Hoffnungslosigkeit, Schmerz. Schmerz über eine verlorene Liebe, so stark, dass sie meinte, ihr Herz würde zerspringen. Wo war sie, die Schöne, Weiße, Elegante mit dem gebogenen Hals, die er anbetete? Wo war er, der Starke, Liebevolle, Sanfte, Gütige, den sie von ganzem Herzen liebte? Während die Rune Chronos auf ihrem Unterarm Gestalt annahm, breitete sich das Wasser immer mehr aus, als würde eine große Ebene von ihm überspült, um dann schließlich zurück zu weichen, Leere, aber auch Trost hinterlassend, in dem Wissen, dass sie nicht die ersten und nicht die letzten waren, die diesen Verlust hinnehmen mussten. Ein Gefühl tiefster Dankbarkeit durchströmte sie, als das Werk vollendete war, Dankbarkeit darüber, dass er sie hatte teilhaben lassen und dass er da war, sie verstand und immer da sein würde und sie überkam das Gefühl, unter just jenem Wasserfall zu stehen, an dem sie sich ihm immer am nächsten gefühlt hatte. Sie konnte spüren, wie sein Wasser ihr Haar durchtränkte, wie sie von seinen Händen am ganzen Körper umschmeichelt wurde, wie er sie auf starken Armen trug und sanft auf seinen Wellen schaukelte und all das gab ihr Trost und Zuversicht.

Der linke Arm wurde ergriffen und wieder spürte sie den kurzen Schmerz, den die Knochennadel beim Eindringen unter die Haut verursachte, spürte das Brennen, als der mit Tinte vollgesogene Faden hindurchgezogen wurde. Die Farben veränderten sich, es wurde dunkler und immer dunkler, bis Mondlicht die Umgebung in seinen silbrigen Schimmer tauchte. Nicht hören, nicht sehen, nicht sprechen. Bilder tauchten vor ihrem Auge auf. Fragmente nur und Gesprächsfetzen, die wie kleine Perlen an einer Perlenkette vorbeizogen und ihr das ein oder andere Wort zuriefen: " Tod! Verrat! Schweige! Sieh nicht hin! Hör nicht hin! Schweige!" Carl, Ernst, Sam, Eirene, Justan, Cyril. "Schweige, oder du bist tot!"

"Sieh nicht! Höre nicht! Spreche nicht!"

Und ganz unvermittelt tauchte ein Bild auf, das sie längst vergessen glaubte. Das kleine Mädchen, das glücklich vor einem Haus spielte, der große Mann, der sie strahlend anlächelte und dann das Dunkel, das sie beide verschlang. Für immer dahin.

"Lass sie gehen! Lass all das gehen, Magdalena!" Es war keine Stimme, es war eher ein sanftes, aber durchdringendes, silberhelles Gefühl, eine Ahnung, eine Kraft: "Lass all das hinter dir! Lass es gehen!" - "Aber es ist schwer, es gehen zu lassen." - "Lass es gehen!" Und erst als sie diesem Gefühl, dieser Ahnung, diesem Gedanken, oder dieser Kraft folgen wollte, spürte sie die Ruhe, die sich in ihr ausbreitete. Tiefste Ruhe, in der soviel Trost, Kraft und Frieden lag und wieder durchströmte sie tiefste Dankbarkeit und sie wusste, sie war nicht verlassen.

Die Welt um sie herum wurde wieder heller und nahm nun neue Konturen an. Als die glühende Nadel die zarte Haut ihres rechten Handgelenks durchstach, hörte sie laute Rufe und das Klirren von Waffen. Ein Schlachtfeld lag vor ihr, bis zum Horizont sah man Soldaten, die auf der staubigen und trostlosen, dunklen Ebene Formation einnahmen. Zwei riesige Heere standen sich gegenüber, die Banner hingen schlaff herunter. Kein Windhauch erlöste die Krieger von der glühenden Hitze, die eine umbarmherzige Sonne auf dem Feld ausbreitete. Es schien fast so, als würde die Welt für einen Moment den Atem anhalten, vollkommene Stille, ehe das Signal zum Angriff ertönte und Bewegung in die sich gegenüber stehenden Menschenmassen kam. Eine Schlacht sondergleichen begann und je mehr sich das Blut der Leiber über die Ebene ergoss, desto mehr Kraft durchströmte sie. "Kämpfe! Lerne! Labe dich an dem Blut deiner Feinde! Ertrage die Schmerzen und gib sie tausendfach zurück!" Wie glühendes Feuer durchströmte ihr Blut die Adern, sie brannte innerlich, von einer machtvollen Kraft getrieben. "Kämpfe! Sterbe! Sei ohne Furcht!" Ein Schrei bahnte sich den Weg und ertönte laut in dem kleinen Tal, von den Felswänden hin- und hergeworfen. Und dann wandelte sich die Kraft und drückte sie nieder, so als würde eine Riesenfaust sie zusammen quetschen wollen. "Erweise dich würdig, Magdalena!" donnerte die dunkle Stimme in ihrem Kopf. "Erweise dich würdig, oder sterbe in Schande!"

Und dann war es vorbei. Plötzlich und ohne Vorwarnung hockte sie wieder auf den Fellen. Sie brauchte einige Momente, um wieder ganz zu sich zu kommen. Inara war mittlerweile mit Marlene gegangen, nur Elda und sie saßen noch dort.

Soviel war auf sie eingeströmt in dieser kurzen Zeit, so dass sie kaum wahrnahm, wie die frisch gestochenen Runen mit Salbe behandelt und verbunden wurden. Sie würde die Nacht hier verbringen, hier am Schrein, in der Gewissheit, dass sie nicht gänzlich aufgegeben war und es Hoffnung gab, dem Zorn der Götter standzuhalten und ihre Gunst wieder zu erlangen.
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Götterreisen - von Magdalena - 25.09.2013, 16:21
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