FSK-18 Der Sturmrufer
#1
Frieden. Ausgeglichenheit. Freiheit. Diese Worte schossen dem Nortgarder in den Kopf, als ihm die kühle Luft der Zwillingsberge um die Nase wehte. In der Höhe, in der er sich befand, erschöpfte sich die Schönheit der ihn umgebenden Landschaft in kargen und rauen Formen, die jeden Menschen bislang davon abgehalten hatten, hier sesshaft zu werden. Unnachgiebig forderten die schmalen Bergpfade mit jedem Schritt mehr Anstrengung, dessen Lohn nur die immer dünner werdende Luft zu sein schien. Am Ende aber, so befand Skaskar Sturmschlag, gab es einen Punkt an dem die Luft so klar und rein war, dass sie jedem Atemzug am Boden vorzuziehen war. Ein Felsvorsprung, der ihm den Blick über Hammerhall, ja sogar ganz Nortgard diesseits der Berge erlauben sollte, war hierbei oft das Ziel.

Der Berg hatte es ihm diesmal erneut gestattet, sich dort niederzulassen und die Schönheit seiner Heimat zu betrachten und sich zu vergegenwärtigen, warum dieses Lehen jedem anderen vorzuziehen war. Der raue, wilde Geist der alten Ulgard-Stämme war beinahe spürbar, wie ein alles überdeckender Mantel, den niemand wirklich von sich schütteln wollte, der sich einen wahren Mann aus Nortgard nannte.

Es war ein Ort der inneren Einkehr, der es ihm ermöglichte, sein Leben zu betrachten, als stünde er außerhalb, als sei er in der Lage seinem Körper zu entsagen und seine Taten von außen zu beurteilen. Wie ein offenes Buch lag alles vor ihm, bereit erneut vor seinem eigenen Gewissen geprüft zu werden, nur den familiären Pflichten ergeben, die mehr Selbstverständlichkeit als Zwang waren. Dieses Land bedeutete Freiheit – das tat es noch immer, viele Jahre nachdem es dem Königreich angegliedert worden war und er war froh ein Bewohner dieses fernen Lehens zu sein.

In dieses Bild, diesen Plan seiner Heimat, stahlen sich jedoch mehr und mehr die dreckigen und überfüllten Gassen Löwensteins. Ausschnitte einer Stadt, die mehr und mehr zu seinem Exil verkam, nachdem er es verpasst hatte, die Grenze rechtzeitig zu überschreiten. Die Ereignisse hinterfragten sich selbst, während sein geistiges Auge sich weiter auf dem Felsvorsprung des fernen Zwillingsgebirges wähnte. Prüfend, analysierend, ob der Streiter sich richtig verhalten hatte. Ob die Zugeständnisse, ihresgleichen wert gewesen waren, ob die Menschen die er getroffen hatte, das waren, was zu sein sie vorgaben. Er hatte eine Form der Gastfreundschaft von jenen erfahren, die selbst Fremde in diesem Lehen waren und sich mit seinen Unzulänglichkeiten bereits arrangiert hatten.

Interessanterweise, so mischten sich die diversen Bekanntschaften der letzten Tage nun ein, hatte vermutlich seine Herkunft und die Tatsache dass er ein bewehrter Streiter war, diverse Möglichkeiten eröffnet, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Der weniger erfreuliche Teil dieser Sache war, dass er sich damit einem der bestehenden Häuser anschloss und als einfacher Wachmann und Büttel beinahe alle der Freiheiten einbüßen würde, die er bislang genoss. Es musste andere Wege geben und der Umstand, dass man beinahe händeringend eherne Krieger in diesem Lehen suchte, überforderte ihn tatsächlich etwas. Es galt, niemanden vor den Kopf zu stoßen oder sich Feinde zu machen – eine Sache, die bereits bei dem Übungskampf zwischen dem Jehann und der Ganter-Jurin keine einfache Sache gewesen war. Die Ränkespiele der Häuser waren mithin ermüdend und nicht, was er sich auf lange Sicht vorstellte.

Nicht nur seiner Heimat entrissen zu sein, die sich für den kürzesten eines Augenblicks wieder vor dem geistigen Auge entfaltete, sondern sich auch noch zum Bodensatz eines der Häuser zu machen – dieser Gedanke lief ihm zuwider. Zumal ein Gespräch beim Rabenkreis noch ausstand und die junge Arys ihm den Bund der wachenden Schwerter nähergebracht hatte, der, wie er befand, sich eher mit dem deckte, was er in Zukunft suchen würde.

Und schlussendlich hatte er das diffuse, kaum greifbare Gefühl, dass sich seine Zukunft auch sehr gut im neuen Hafen abspielen konnte. Dieser Gedanke, dieses letzte Fragment dessen, was sich in den letzten Tagen in seinem Schädel festgesetzt hatte und sich nun, auf dem geistigen Hochplateau in Nortgard zu befreien, beschäftigte den Streiter noch lange, bis ein unaufmerksamer Moment ihn anhielt, die Augen zu schließen. Nur ein Moment, etwas länger als ein Blinzeln, hatte genügt um ihn der Ferne zu entreißen und den Nortgarder Gruß, der vormals über sein Gesicht strich, als den Lufthauch zu entmystifizieren, der durch den Eingang des Schlafzeltes im Rabenkreis drang.

Der Duft von Stroh und dem angewitterten Zelt wurde wieder wahrnehmbar und seine Augen erblickten nichts weiter als die Umgebung seiner provisorischen Schlafstatt. Die gleichmässige Atmung von Arys, ein Strohbett weiter, stahl sich in seine Wahrnehmung und wenige Augenblicke später war der Nortgarder gänzlich erwacht. Es sollten erst Stunden vergehen, die er mit dem Blick gen Zeltdecke gewandt verbrachte, bis der Schlaf ihn schließlich entgültig einholte. Diesmal jedoch, sollte sein letzter Gedanke sein, dass das einzige positive dieses von der Keuche zerfressenen Lehens war, dass seine Konstanten in seinem neuen Alltag endlich Namen bekommen hatten, Namen von denen er nicht behaupten konnte, sie jemals wieder missen zu wollen.

[Bild: 16571479.jpg]
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