FSK-18 Jeder stirbt für sich allein
#5
Stöhnend sackte sie an der schäbigen Bretterwand zusammen. Eben war Magda noch da gewesen und nun war sie allein. Erneut musste sie würgen. Bittere Galle, weiter nichts. Der Rest hatte sich schon tiefer in ihre Eingeweide gegraben. Eine feste Hand zerrte sie wieder auf die Beine und zog sie, gefühllos stolperten ihre Füße hinterher.

Plötzlich lag sie auf einer harten Pritsche, in ihren Eingeweiden tobte eine Schlacht.
Irgendwer flößte ihr irgendetwas ein, aber sie konnte es nicht bei sich behalten. Es stank. Sie fühlte die Kälte einer Bettpfanne unter sich. Hitze stieg ihr ins Gesicht. Ihr Protest verklang ungehört. Krämpfe gruben sich wie hungrige Ratten durch ihre Innereien und erfassten schließlich alle Glieder. Irgendwer legte ihr heiß glühende Schraubstockfinger um den dünnen Hals und drückte schonungslos zu. Entsetzt riss sie die Augen auf, die sich anfühlten, als würden sie gleich aus ihren vorgesehenen Höhlen platzen, aber sie konnte nichts sehen. Schwärze umgab sie.

Aus allen Richtungen griffen Hände nach ihr. Wie Feuer brannten die Berührungen auf ihrer Haut. Sie wollte schreien, aber ihr fehlte die Luft zum Atmen. Sie wollte um sich schlagen, aber die die Hände hielten sie unerbittlich fest. Sie wollte die Augen schließen, aber sie waren zu groß für ihre Lider.

Krallen gruben sich durch ihre Haut und kratzten über ihre Knochen. In alle Himmelsrichtungen zogen sie ihre Arme und Beine auseinander. Sie bekam immer noch keine Luft. Ein widerliches Knacken ertönte, gefolgt von einer neuen Welle des Schmerzes. Sie musste nichts sehen können, um zu wissen, was geschah. Harte Klauen griffen in ihre Brust und zerrten ihre Rippen auseinander. Sie gewahrte jedes schmerzhafte Zucken ihres Herzens, das verzweifelt bemüht war, Schock und Blutverlust auszugleichen. Die tödlichen Krallen arbeiteten sich nach unten vor, zerrissen ihr den Unterleib und zogen ihre Gedärme ins Freie. Sie verstand nicht. Warum? Was hatte sie getan, dass sie das verdiente?
Sie hing an dem Strick, unfähig, zu atmen, unfähig, sich zu rühren und das Leben floss heiß aus ihr heraus wie aus einem Stück Vieh.

Ob sie nur eine weitere Leiche für Cleo sein würde? Routine? Arbeit? Oder ob ihr Tod oder wenigstens ihr Anblick am Ende doch irgendein Gefühl in der Totengräberin weckte?

Ein Ruck kappte das Seil, an dem sie hing.

Sie fiel.

Gleich musste sie aufschlagen, in der Pfütze aus ihrem Blut und Eingeweiden landen...


Sie konnte wieder atmen.
Eine krallenlose, raue, aber eindeutig menschliche Hand erfasste sie an der Seite.
Sie saß.
Sie saß auf wärmenden Schenkeln, kalte Luft drang an ihre nackten Beine. Die Männerhand wanderte weiter, von der Seite zu ihrem Nabel hin. Finger tasteten von dort an abwärts und berührten sie knapp über der Scham. Sie wollte hier weg, aber Schwindel hatte sie ergriffen. Sie saß da, wie gelähmt. Die Stimme, die zu der Hand gehörte, stellte ihr eine Frage. Sie antwortete.
Falsche Antwort.
Ihr war übel.
Vorn stand der Mithrasdiener und stellte die alles entscheidende Frage:
„Was verstehen wir unter Gnade?“ Die Bank war hart und unbequem, rundherum saßen Gestalten, den Blick nach vorn gerichtet. Interessierte es denn niemanden, dass sie nackt war?
„Für manch Lebenden ist der Tod eine Gnade, für manch Todgeweihten ist es das Leben. Keine Gnade ist es, den Sünder nicht sühnen zu lassen! Mithras selbst lehrt uns, dass Strafe sein muss! Das ist die Gnade, die Mithras uns erweist: Die Gnade durch Strafe geläutert zu werden!“
Der Mann trat zur Seite und machte einer weiblichen Eminenz in wallender Robe Platz. Alle erhoben sich und knieten nieder. Nackt wie sie war, kniete auch sie sich auf den kalten Steinboden.
„Die Gnade, durch Strafe geläutert zu werden.“ Sie vernahm das Wispern von links hinter ihr, die raue Hand berührte sie wieder an der Hüfte. Rechts neben ihr stand der Patriarch und sah vorwurfsvoll auf sie herab.
„Ernst, wenn du morgen gesund bist... suchst du dir irgendeine Bestrafung aus...“

Eine andere Hand wanderte über ihre nackte Brust, überprüfte sie schamlos. „Ein Mädchen bist du? Soso...“
Die heisere Stimme von links: „Eine Bestrafung fällt mir schon ein...“
Die Kirchengemeinschaft hatte ihr Gebet beendet, sie fühlte, dass sich alle erhoben hatten und sie anstarrten. Warum war sie nur so groß? Konnte sie nicht kleiner sein? Hübscher? Sanfter? Reiner? Sie spürte die Blicke auf ihrer nackten Haut, auf ihrem vernarbten Rücken, ihren dürren Gliedmaßen, auf ihrer Blöße. Alles drehte sich, die Schemen verschwammen um sie herum. Finger zeigten auf sie.
„Das wird ein Nachspiel haben...“
Die Stimmen ringsum erhoben sich in ihrem Kopf zu einem tiefen Dröhnen, bis die anschwellende Kakofonie ihren Kopf fast zum Bersten brachte. Sie kauerte sich zu einer Kugel zusammen und wollte kleiner sein.
Klein und verschwunden und weg von dieser Welt.
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Fieberwahn - oder warum manche Pilze nicht essbar sind - von Mirabell Riedbrant - 24.07.2013, 10:10



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste