FSK-18 Yngvar
#21
Die Welt war ein fragiles Konstrukt. Bisweilen verlangte sie unmenschliche Verrenkungen von uns ab, damit die Säulen, auf denen sie erbaut ist, nicht einstürzen. Das Beben seiner Welt war noch immer spürbar und das Parkett, auf dem der Krieger sich bewegte, glich einer glitschigen Masse, die mit jedem weiteren Schritt das Risiko erhöhte, auszurutschen. Yngvar Stein musste sich eingestehen, dss er nachlässig geworden war und sich in einer Sicherheit wähnte, die es in Löwenstein noch nie gegeben hatte. Die Sicherheit, dass in den bessergestellten Vierteln der Stadt keiner es wagen würde, Hand an die Diener des Herrn zu legen. Nicht nach dem Aufschrei, der auf den Tod seiner Seligkeit Greiffenwaldt folgte, nicht nach der Hilfe, die die Legion bei der Zurückschlagung der Vampire gewesen war und nicht, nachdem man dem armen Pack gezeigt hatte, wo der Hammer sprichwörtlich hängt. Die freien Männer waren ebenso für den Moment keine Gefahr mehr .

Es hätte eine Zeit sein können, in der die Kirche einen Moment des Durchatmens hätte durchleben können. Bis man die Schwester des Streiters in den Tempel brachte. Der innere Aufschrei, der sich durch den Leib des Kriegers zog, stieß noch in dem Moment, da er ausgestossen wurde, gegen die inneren Grenzen seines Geistes, wurde zurückgeholt und – wie ein Ertrinkender, der um Luft und Freiheit ringend, gegen eine Strömung ankämpft – von unsichtbaren Händen in den tiefen Moloch gezogen, in dem der Sonnenlegionär all‘ die Empfindungen aufbewahrt, die ihm in seiner täglichen Pflichtausübung als störend vorkamen. Und von dort aus noch viel weiter. Das Kribbeln, dass er empfunden hatte, als er die Zeilen gelesen hatte, die man an seine Schwester geheftet hatte, den Kampf gegen Wut und Tränen, verlor sein Leib in so banal schneller Zeit, dass ein außenstehender kaum wahrgenommen haben dürfte, was in dem Mann soeben passierte. Als hätte man an einem unscheinbaren Buch in der Seelenbibliothek des Kriegers gezogen, schob sich das Regal, in dem so vielsagende Bände wie „Neutralität“, „Verständnis“ und „Milde“ standen, zur Seite und machten einem Gang Platz, den der Mann bis heute weder kannte, noch jemals einen Fuss hineingesetzt hatte. Er hatte sich, unerkannt unter Lehre und Mithrasdienst von selbst gegraben, so wie das Licht den Schatten bedingt.

Der Weg durch diesen lichtlosen Tunnel fühlte sich frisch an und verströmte ein Gefühl der Geborgenheit, gleich einer Decke, die man sich in kalten Winternächten um die Schultern legt, wenn der Kamin nicht ausreicht, um genügend Wärme zu spenden. Und mit jedem Schritt, den Yngvar Stein voranschritt, fühlte sich sein äußeres weit weniger weich an, sondern begann bald, sich wie der Stahl anzufühlen, den er in gerechtem Zorn im Kampf führte. Wenngleich er es stets vermocht hatte, seinem gegenüber mit maximaler Neutralität gegenüber zu treten, spürte er nun das Eintreten in eine tiefere Ebene seines Mienenspiels: Neutralität wich Reserviertheit, die Fassade aus Gleichmut wich eiserner Strenge und der sonst nur aufmerksame und wachsame Blick führte zu einer Generalanklage gegenüber der Welt, die seine Augen sehen konnten. Nun hätte man argumentieren können, dass der Sonnenlegionär einen Übergriff auf seine Schwester vor allem persönlich genommen haben könnte, doch waren all‘ die Empfindungen, die genau eine solche persönliche Fehde begünstigt hätten, in diesem Augenblick bereits weggeschlossen und in dem tiefen Pfuhl ekelhafter Gefühlsduseligkeit versenkt, bevor auch nur ein weiterer Rückgriff auf derart einfache Gefühle hätte stattfinden können.

Vielmehr setzte sich eine beinahe schon mechanisch anmutende Reaktion in Gang, die die vollständige Kontrolle über den Krieger übernahm. Jedes Schott, dass seine Vorbehalte gegenüber dem Wirken der Macht des Herrn begünstigen konnte, öffnete sich. Jedes Verständnis dafür, dass es für Situationen wie diese Standardprozeduren im öffentlichen Leben gab, wurde begraben, während die Übergriffe auf Mitglieder der heiligen Kirche wie aufschreiende Tropfen das unsichtbare Fass, ein Zeitmaß der endlosen Geduld der heiligen Kirche, zum Überlaufen brachten.

„Sieh‘ mich an, oh Herr, denn ich bin eine Million deiner Sterne und erleuchte das Firmament. Ich bin unverrückbar und unzerstörbar, denn die Nacht zerbricht mit stumpfer Klinge an der heiligen Flamme, die ich dir bin.“

Die Dämmerung hatte begonnen. Eine Dämmerung, die sich schon lange angekündigt hatte und deren erste Strahlen bereits seit unendlicher Zeit hinter dem Horizont lauerten, bis sich die Wolken lichten und sich ihr Glanz über die Welt erstrecken konnte. Der erste Schritt, ein erster, kleiner Minischritt, gleich dem eines Kleinkindes, dass den Übergang vom Krabbelalter in den des aufrechten Ganges sich soeben zu bewältigen anschickt, war mit der Schneiderin getan. Die Handlungskette dafür, wie zu verfahren war, lag stählern und gespannt vor ihm und als die muskulösen Oberarme daran zu ziehen begannen, reihte sich jede weitere Handlung bereitwillig vor dem Kämpfer auf. Ein Geschenk.

Das erste Gespräch mit der Schneiderin war eines gewesen, dass er auf eigentümliche Art genossen und als überraschend empfunden hatte. Heute Nacht hingegen, war sie nicht mehr als ein Gefäss, bis auf dessen Grund er sehen musste, dass er vollständig ausgießen würde, wenn es sein musste. Und obschon seine Haltung keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass der Kämpfer der Frau an Ort und Stelle den Kopf abgeschlagen hätte, wäre ihr erster Impuls derjenige der Flucht gewesen, hätte er weder Genugtuung noch Zufriedenheit empfunden – sondern sich einzig an einer neuen Aufreihung von Kettengliedern entlangbewegt. Was man ihm als kleinen Dorn der Mildtätigkeit ausgelegt haben könnte – nämlich die Tatsache, dass er die Schneiderin nicht direkt auf die Streckbank gespannt hatte – war in diesem Fall auch nicht mehr als eisernes Kalkül gewesen: Eine zu offensichtliche Behandlung hätte innerhalb und außerhalb der Kirche zu Uneinigkeit geführt, die die Aufklärung der Sache verhindert hätte. Am Ende der Befragung regte sich, nicht nur um die Situation für die Schneiderin begreiflich zu machen, sich die Mildtätigkeit am Ende dennoch in Form eines Geschenkes: Der Frau wurde die gesamte Situation, der gesamte Schrecken dessen, was Yngvar Stein im Verlauf dieses Abends hatte mitansehen müssen, ausgebreitet, wie eine Landkarte. Diese Karte würde ihr Werkzeug sein, dass er ihr geben würde, um den Weg zum Leuchtfeuer des Glaubens zu finden. Ein Werkzeug, eine Chance. Und nur diese eine. Dahinter, so wusste Yngvar Stein, lag nur der Tod. Einen, den er so gleichgültig empfangen hätte, wie das Verwelken einer Pflanze, die sich gegen ihre eigene Wässerung entschieden hätte und darauf wartete, dass man ihre Seele wie ein modriges Ding pflückte, dekonstruierte und in seinen Einzelteilen an den Herren zurückschickte. Dieser letzte Gedanke war es am Ende auch, der einen Teil der Leere zu füllen wusste, welcher sich der Kämpfer in der Nacht verschlossen hatte, als er am Bett seiner Schwester wachte. Ein geduldiger Hunger – nicht nach spröder Nahrung oder dem abgestandenen Wasser einer Welt, die nicht mehr seine war. Nicht einmal danach, Ungläubige einfach nur zu töten und sie aus dem Leben zu löschen. Nein, der Leib seiner Widersacher würde ab diesem Tag nicht mehr genug sein. Nie mehr.

„Wir sind eine Myriade aus Leuchtfeuern, unbewegt und dazu verdammt am fernen Ende des Himmels Wacht zu halten. Und unbedeutend ist, was die Dämmerung am Ende bringt – wenn die Augenblicke, die uns dorthin leiten, wie feine Brotkrumen aus Licht, doch viel wichtiger sind. Denn aus der ferne mögen die Sterne gleich aussehen, doch ist jeder für sich genommen vollkommen einzigartig und das Licht des Herrn.

Wir brennen bis in alle Zeit und unser Geschenk ist die Läuterung.“


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Yngvar - von Gast - 21.12.2015, 22:09
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