FSK-18 Yngvar
#19
Obschon so viel Zeit das Tief der Ewigkeit hinabgeflossen ist, konnte ich nicht umhin, mich dieser Tage an die Geschichten aus meiner Heimat zu erinnern. Jede – nunja, die meisten zumindest – hatten eine Moral, eine tiefere Wahrheit, die es zu entdecken und zu ergründen galt und jedesmal wenn mein Vater sich mit mir an den Kamin in unserem Haus in Hammerhall setzte, lauschte ich gebannt seinen Erzählungen und Geschichten, die er seinerseits von seinen Eltern übereignet bekommen hatte. Und jedes mal fühlte ich mich wie ein Schatzsucher im Dickicht der Buchstaben, ein Forscher im Unbekannten hinter dem Spiegel einer wundervollen Erzählung. Die Bücher und ich – wir waren trotz meiner Vorliebe zum Waffengang stets unzertrennlich. Sie waren die feste Größe im Tagesablauf bevor ich zu Bett ging und es verging kein Tag, an dem ich mich nicht in die Tiefsee aus Lettern stürzte, um die wundersamen Figuren und Formen darunter entdecken zu können – wenngleich der Platz am Kamin mit wachsendem Alter am Ende nur noch mir zu eigen war, da Vater sein Dienst für die Stadt mehr und mehr in Beschlag nahm und er mich zugegebenermaßen auch für zu erwachsen hielt, um seinem Talent als Erzähler zu lauschen. Ich frage mich bis heute, ob man jemals zu alt dafür werden kann, seinem Vater und seinen Geschichten am Kamin zu lauschen.

Dass ich die Aufzeichnungen zu einem neuen Anwärter der Legion, Gard Ganter, in einem ehemaligen Ganterhaus fertigstellte, entbehrte nicht einer gewissen Ironie, wenngleich es mich zudem auch in geringem Maße zufrieden stellte. Der neue Anwärter hatte gegenüber ihrer Seligkeit eine bornierte Art an den Tag gelegt, die mich hoffen ließen, dass es Gelegenheit geben würde, den Familienvater im Sinne einer mithrasgefälligen Erziehung das ein oder andere mal prügeln zu können – mich zumindest, das kann ich heute sagen, hat die harte Hand meiner Ausbilder sehr weit gebracht.

In jedem Fall aber klang der Abend früher aus, als ich es erwartet hatte und so saß ich alleine im Kerzenschein am Tisch meines neuen Heims, dass ich mit meinem Bruder Pavel teilte und prüfte mein gedankliches Pflichtenheft ab – mit der Feststellung, dass es für heute leer war. Ein seltener Umstand, insbesondere wenn man bedachte, dass die vergangenen Tage reichlich Arbeit mit sich gebracht hatten und noch mit sich bringen würden. Die Geschichten meines Vaters rückten wieder in das Zentrum meiner stillen Zeitreise, die mich vom Tisch im Wohnraum des kleinen Hauses wieder in die wohlige Wärme meiner Heimat in Nortgard katapultierte – direkt vor den Kamin.

Ich erinnerte mich der Geschichte des Bergkönigs, eben jener Fabel die einem jeden Kind in Nortgard zeigte, wie vergänglich die Eintracht doch sein kann, wenn einmal der Kopf der Herrschaft abgetrennt worden war. Es war eine der ersten Geschichten, die mir mein Vater anvertraute, vorgelesen aus einem dicken Ledereinband, der so abgegriffen war, dass er vermutlich über Generationen in meiner Familie weitergereicht wurde.

„In einer fernen Zeit, so sagt man, herrschte ein einsamer König über ein Reich, dass sich so weit erstreckte, wie man von der Spitze des Berges in dessen Zentrum nur sehen konnte...“ begann die warme Stimme des damals schon lebensalten Mannes zu erzählen. Seine Worte waren der Schlüssel in eine ferne, eine andere Welt, verlockend und fremd, wenngleich durchsetzt mit den frischen Trieben, aus denen das hier und jetzt irgendwann erwachsen sollte. „Wenngleich einsam, ohne Weib und Kinder, so war er doch ein guter König. Er regierte sein Reich nicht nur mit strenger, sondern auch gerechter Hand und er schaffte es, dass es niemandem in seinem Reich an etwas mangelte. Dies, mein Junge, war etwas dass seit dieser Zeit niemand geschafft hat: Denn es gab in dem Reich bis zu seinem Niedergang keinen Neid, keine Missgunst und keinen Hass, denn jeder hatte genug zum Leben.“ Es war die Stelle, an der ich mir so ein Reich ausmalte. Es klang ein wenig wie eine Auslegung dessen, was einen im Elysium erwartete, ein Zustand der absoluten Eintracht, ohne Furcht um die Existenz für Familie und Land. Es war eine schöne Fantasie, die mich stets wie eine warme Decke an einem Winterabend umschloss und dafür sorgte, dass schlechten Gedanken oder Traurigkeit der Zugang fortan verwehrt wurde, wenngleich ich wusste, dass ein solches Reich wohl nach heutigen Maßstäben stets eine Fantasie bleiben würde. Dennoch: Insbesondere als Kind hegt und pflegt man solche Fantasien und hält sich daran fest, versucht vielleicht, durch die jedem Spross eigene Naivität seinen eigenen Teil dazu beizutragen, dass so ein Idealzustand vielleicht eines Tages Wirklichkeit werden könnte.

Darüber hinaus muss ich sagen, dass die Geschichte von diesem Punkt an ohnehin eine Wendung nahm, die mich stets wünschen ließ, wir hätten an dieser Stelle die Erzählung abgebrochen und uns dem Gedanken hingegeben, dass es zumindest in der Vergangenheit Menschen gegeben haben muss, die weder Leid noch Not kannten. Doch wie mein Vater stets zu sagen pflegte: „Es ist den Männern aus Nortgard nicht gegeben, Luftschlössern aus Frieden und Eintracht nachzuschwelgen, Yngvar, insbesondere wenn wir wissen wie es ausgegangen ist. Nein, wir, die Stolzesten und Stärksten unter Amhrans Himmeln, wir stellen uns dem Leid, wir erdulden es und wir verteidigen jedes Stück Frieden, dass unseren Familien gegeben ist. Niemals aber geben wir im Angesicht einer großen Fürchterlichkeit auf.“ Ich blickte zu diesem Mann auf, der zwar nie das Leben eines Kriegers geführt hatte, sich dennoch stets so nobel gebahrte wie ich es mir dereinst von den edlen Rittern unseres Lehens ausmalte. Er vereinte Stolz, Demut, Weisheit, Kraft und Mut in einer so perfekten Weise wie es nur Kinder empfinden können, die ihren Vater als den Held ihrer kleinen Welt erwählt haben. Und auch wenn ich stets darum bat, so gab es keinen einzigen Tag, an dem er die Geschichte nicht zu ende erzählte.

„Doch kein König regiert ewig, mein Sohn.“ führte mein Vater dereinst fort, während seine Finger Zeile für Zeile über die Seiten des Buches glitten – eine Geste die er sich angewöhnt hatte, seit man ihm das Lesen dereinst beibrachte und die keinem Nutzen mehr diente – außer dass seinem Spross das streichende Geräusch gefiel, wenn die erwachsenen Finger über das Papier wanderten. „Der gute König wusste, dass sein Ende gekommen war. Und obschon er weder Weib noch Kinder für eine Nachkommenschaft besaß, hatte er ein gutes Volk geschaffen. Sie waren seine Kinder und sein Meisterstück. So sollten sie also auch sein Erbe antreten und sich fortan selbst verwalten. Der König war sich sicher, dass sie im Laufe der Jahre seiner Herrschaft gelernt hatten, was Recht und Unrecht war und dass sie wohl unterscheiden mögen.

Also verstarb der König eines Tages – alleine, nur mit seinem Hofstaat um sich herum – wie es sein Wunsch war, auf dem höchsten Turm des Schlosses, um ein letztes mal im Schein der herabdämmernden Sonne sein Reich betrachten zu können. Das Volk indes, trauerte und weinte bitterlich. Viele Tage dauerte die Trauer, bis die Last anstehender Entscheidungen die treuen Diener des Königs jedoch einholte. Und fürwahr hatten sie Richtig und Falsch vom König zu unterscheiden gelernt, nicht aber die Weisheit, wie viele entscheiden konnten, was zuvor nur einem oblag.

Der Zustand, dass es nun allen obliegen sollte, über Für- und Wider des Volkes zu befinden war seinen einstigen Zöglingen so fürchterlich fremd, dass sie schnell einhellig befanden, dass der König, alt und greise geworden, in seinem letzten Ansinnen falsch befunden hatte und es einen neuen Regenten geben musste. Wer aber, sollte das sein?“

Mein Vater stellte diese Frage stets so, als hätte ich noch ein Mitspracherecht, wenngleich ich stets mit den gleichen großen Augen, auf dem Spannungsbogen, den er damit aufzog, durch das Auf und Ab der Geschichte ritt, wohl wissend, welches Ende das Bergvolk ereilen würde.

„Es entbrannte also erstmals in der langen Geschichte des Volkes ein Streit darüber, wer nun des Königs Regentschaft beerben sollte. Mit jedem Tag der verstrich, so schien es, entfernten sich die treuen Frauen und Männer des Königs in Ereiferung und Uneinigkeit der Eintracht, die der König so mühevoll einst gesäht hatte. Am Ende des Reiches stand ein Schwertstreich, ein Brudermord unter Gleichgesinnten. Blut zog Blut nach sich, während einer nach dem anderen von des Königs Sprösslingen zur Burg hinaufzog um seinen vormaligen Herren zu beerben.

Am Ende machte sich das ganze Volk einhellig auf – jeder einzelne sah sich selbst als der kommende Thronfolger. Nicht nur Männer, sondern auch Frauen, Kinder und – der Sage nach – sollen sogar die Pferde ihren Meistern entsagt haben, um sich auf den Weg zum Schloss auf den Berg zu machen. Denn wer auch immer die Krone tragen würde, sollte regieren, wie auch der König einst regiert hatte.

Der Kampf indes, der darob auf den Pfaden des Berges entbrannte, war so fürchterlich, dass Blut wie Lava die Pfade entlanggeflossen sein soll.“ Es mochte wohl sein, dass der ein oder andere das Ende der Geschichte als sehr grausam empfand, doch stand mein Mund nie vor Schrecken ob der fürchterlich brutalen Kämpfe auf und meine Augen waren auch nie vor Schrecken ob der Massaker, die auf dem Königsberg stattfanden, geweitet. Nein, vielmehr empfand ich fürchterliches Mitleid mit den Menschen, die bereitwillig ihr gutes Leben für einen Platz opferten, den Mithras ihnen niemals zugestanden hatte.

„Am Ende soll lediglich ein Mann gestanden haben, besprenkelt mit dem Blut seiner Landsmänner und somit der letzte seine Volkes, verdammt dazu, bis an sein Lebensende alleine über ein Reich aus Toten zu herrschen.“ Dies waren stets die letzten Worte meines Vaters, bevor er das Buch zuklappte und meine Reise fürs erste beendet war.

Ich blies die Kerze des Esstisches aus. Das einzige, was an diesem Abend an meinen Ausflug in meine Kindheit erinnern sollte, war der fahle Rauchfaden der Kerze, welcher mit jedem verstreichenden Augenblick mit der Nacht verschmolz, die mehr und mehr von dem kleinen Raum Besitz ergriff.

[Bild: kerze_erloschen_motivation_c_123rf.jpg]
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Yngvar - von Gast - 21.12.2015, 22:09
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