FSK-18 Yngvar
#15
Wie Fische schwimmen wir im Fluss der Zeit, orientierungslos, weich und verletzlich. Wir sind dem Verfall ausgesetzt, wie ein Schwarm kleiner Fische den großen Räubern der Meere zur Nahrung dient und erfüllen damit unsere Aufgabe im großen Kreislauf, der uns – ganz im Gegensatz zum eben erwähnten Fisch – in die Nachwelt des Einen erheben wird. Jeder Glockenschlag bringt uns dem Tag der Abrechnung näher, dem Tag an dem wir uns gegenüber Mithras verantworten müssen und aufgerechnet bekommen, ob wir unsere von Sünde erfüllten Leiber erfolgreich abstreifen und somit frei und Licht in sein Reich einkehren dürfen.

Und auch wenn wir entscheiden, in andere Gewässer zu segeln – oder zu schwimmen, um bei dem Gleichnis des Schuppenschwimmers zu bleiben – folgt uns der Richthammer stoisch, unabänderlich und geduldig. Sein Urteil ist frei von persönlichen Befindlichkeiten, von Freude oder Trauer oder auch von Begehren oder Ablehnung. Wenn er uns dereinst ereilen wird, ist die Summe unserer Taten die einzige Bewertungsgrundlage für das Nachleben.

Die zerrissenen, gefledderten Leiber all' derer, die dem Angriff der Unwesen aus der Nacht nicht entkommen waren, all' jener, die die Straßen wie entstellte Mahnmale einer furchtbaren Wahrheit zierten und von den Fragmenten verzweifelten Aufbruchs und der Flucht umrahmt wurden, verdeutlichten all' das nur umso stärker. Und als der Krieger im Rot der Sonnenlegion auf den Marktplatz trat, müde und erschöpft von dem Kampf, der ihn durch die Gassen Löwensteins getrieben hatte und die ersten Sonnenstrahlen zwischen den Häuserdächern auf den Tempel trafen – der Zeit zu welcher die Unwesen das Licht flohen, brach ein Stück der sonst statuenhaft gemeißelten Grimasse, mit welcher er noch in der vergangenen Nacht des Herrn Werk getan hatte – gehüllt in das Rüstwerk des gerechten Zorns eines ehrbahren und entflammten Dieners Mithras'.

Kleine Rinnsaale bahnten sich den Weg von seinen Augen, über die kantigen Züge des Kriegers hinunter und zogen eine helle Furche in den Schmutz der Straße, der auf dem Gesicht des Mannes lag – ein Eindruck der am ehesten mit dem Bruch eines wertvollen Gefäßes vergleichbar gewesen wäre. Die Tränen, die Yngvar Stein die Wangen herabliefen, waren jedoch keinesfalls ursächlich dem Greuel zuzuordnen, welches die Stadt befallen hatte, noch beweinte er die Toten, die es in dieser Nacht gegeben hatte – nicht einmal, hätte er denn von dessen Tod gewusst, dem Truchsess hätten sie gegolten.

Die Tränen, die des Kriegers Gesicht mit Furchen schlugen waren Tränen der Freude, denn der heilige Tempel des Mithras hatte Stand gehalten. Die letzte Heimstatt der flammenden Glorie wider aller dunklen, abyssalen Mächte, hatte sich um keinen Stein von seinem angestammten Ort fortbewegt. Dieses schlossartige Konstrukt aus Stein und Glaube war nicht weniger als die weltgewordene Manifestation des heiligen Richthammers, der sein Urteil bereits jetzt gefällt hatte, obwohl die Toten noch lange nicht ausgezählt waren: Solange das Licht Mithras' leuchten würde, gab es keinen Platz für die bleichen Kreaturen in dieser Welt – und niemanden sonst, der es wagte, im Herzen des Herrn mit seinen Gläubigen Schindluder zu treiben.

Mit der ersten Brise sauberer Luft, welche die rauchschwangere Nacht abzulösen begann, kehrte zudem auch Klarheit in den Leib des Mannes zurück, dessen Glieder vor Anstrengung schmerzten und dessen Rüstwerk nach Pflege und Sauberkeit wie ein dürstender in der Wüste ächzte. Die Ereignisse der Nacht fielen wie der Vorhang eines fürchterlichen Alptraums, der einem das Gefühl gegeben hatte, man würde endlos fallen und wäre nicht imstande sich selbst zu wecken, nach dem Aufwachen aber auch mit jeder verstreichenden Minute weniger in der Lage, die Details des Traums zu rekapitulieren.

Als er dem Tempel näherkam, fuhr sich der Streiter mit der ledernen Handfläche seines Plattenhandschuhs durch das Gesicht und verzerrte die Furchen seiner Gottesergebenheit zu einer verwegenen Mischung aus Dreck und Nässe – keine Möglichkeit, Rückschlüsse darauf zu ziehen, dass unter dem schweren Panzer eine so weiche Liebe für den Herrn so inbrünstig brannte, dass dadurch die Züge des Kriegers für einen kurzen Moment entgleist waren. Die Erleichterung jedoch darüber, dass der Tempel dem Unwetter aus widerwärtigen Kreaturen standgehalten hatte, war dem Mann der Sonnenlegion noch lange anzusehen, nachdem er die Tore des Tempels durchschritten, die Stufen des Altars geküsst und Mithras für seine Existenz in dieser Zeit der Dunkelheit gedankt hatte.

Die Räume, so stellte Yngvar fest, hatten sich nicht maßgeblich verändert. Und während das geschäftige Treiben im Tempel offenbar keine Zeit dafür ließ, bekannte Gesichter zu verorten, begann er dem beinahe schon programmierten Reflex nachzugeben, der ihm schon als Anwärter der Legion eingebleut wurde: Er suchte die Waffenkammer der Legion auf und begann sein Rüstzeug langsam zu entgurten, bis der erschöpfte Kriegerleib nur noch durch seinen Unterschurz bedeckt wurde. Es erfolgte die notdürfte Waschung des Leibes, auf dass kein Makel den Diener des Herrn länger bedecke als es seine Aufgabenerfüllung verlangt und jeder Teil des Menschenleibes drobhin auf möglicherweise verschleppte Verletzungen untersucht war. Die alte Kleidung wurde ebenso der Waschung anheim gestellt und zum Trocknen dem Dachboden überantwortet, nur um im Anschluss den gesäuberten Leib mit dem frischen Stoff aus dem Vorrat des Tempels zu bedecken, auf dass er die Hallen des Einen nicht unzüchtig durchstreifen möge.

Im Anschluss gab der Streiter sich der Reinigung seines Rüstzeugs hin, der bronzenen Wehr, deren alter Glanz mit jedem Minutenschlag durch die routinierte Hinwendung wiederhergestellt wurde, bis das Abbild des Kämpfers im Lichte der metallenen Wehr wieder zum Formenspiel aufzog, wann immer der Kämpfer sich damit zu bewegen anschickte.

Lediglich die Klinge galt es nun, noch gereinigt zu werden, nachdem sie des Nächtens ihr Lied gesungen und des Herrn Beifall in Form von Blut und Dreck empfangen hatte. Yngvar, so konnte man sagen, hatte sein Schwert in der langen Zeit seiner Pilgerei beinahe so sehr lieben gelernt, wie ein anderer Mann nur für die eigene Frau empfinden konnte. Sie hatte mit ihm seinen neuen Pfad bei der Legion begangen und ihr altes Leben hinter sich gelassen, genau wie ihr Besitzer es geschworen und gewollt hatte. Sie waren einander im Sog des Glaubens gefolgt und hatten hingebungsvoll die Last der Pflicht ertragen, mit der sie am lichten Heerführer großartiges Werk verrichteten und sie hatte mit Yngvar die geheimsten Momente des Kämpfers geteilt, gleich einem stahlgeschmiedeten Buch, dessen Seiten nur ihrem Verfasser bestimmt sind.

In stillen Nächten ihrer nun in weite Ferne gerückten Reise hatten sie förmlich miteinander um das wärmende Feuer getanzt und sich im stummen Zwiegespräch der Liebe an den Herrn aneinandergekettet. Sie waren Zeuge ihrer eigenen Geschichten geworden, sowohl Beisitzer als auch Akteure einer in Fleisch und Stahl manifestierten Lobpreisung an die flammende Rettung, die da Mithras war. Kurzum: Sie waren die Einheit, die in Treu und Glauben als Wille und Werkzeug des Herrn fungieren sollte, weshalb Yngvar nur in seltenen Momenten den Namen der Klinge rufen sollte, die er vor vielen Monden im Feuer eines furchtbaren Übels Grymyr getauft hatte.

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Yngvar - von Gast - 21.12.2015, 22:09
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