FSK-18 Himmelgrau
#22
Die stetigen Reisen zwischen Ravinsthal und Servano hinterließen zunehmend ihre Spuren an Orestes; die Hosen saßen enger als sonst um die Oberschenkel, die Stiefel zeigten die ersten Kratzer, und die Wahl der Kleidung wurde mit jeder Reise dünkler und dünkler, aber nie gänzlich schwarz. Schwarz und Straßenstaub vertrugen sich nicht gut, genauso wenig wie schwarz und Trolleingeweide.
Dennoch, die stetige Aktivität hatte auch ihr Gutes. Alleine der Wunsch danach, sich nicht mehr die Sohlen durchlaufen zu müssen, hatte Orestes auf die Spur einer Idee gebracht, die ihn entgegen allen Einsiedlertums tatsächlich dazu anregte, seine Kollegen zu kontaktieren.
Inzwischen hatte er ein ganzes Notizbuch mit Skizzen und Zeichnungen, Notizen und Aufgaben gefüllt, die ihn nicht nur zwischen Ravinsthal und Servano, sondern auch durch die einzelnen Baronien pendeln ließen. Zwar mit noch wenig Erfolg, aber der würde früher oder später eintreten, und alles was er tun musste war Warten. Er hatte bisher immer Erfolg mit Geduld gehabt, besonders mit-

Wir haben in seligen Nächten
Blutsaumige Küsse getauscht,


Mit einem Zucken und einem Schaudern vertrieb er den Gedanken, wischte mit dem Finger über die zwei Zeilen am Rand des Notizbuchs, wo seine Hand sich verselbstständigt hatte.
Dies war weder die Zeit noch der Ort, darüber nachzudenken! Nein, viel wichtiger war es, Morkander zu finden, und den Baron Jehann abzupassen. Sie hatten Teile des Rätsels, jeder für sich, jeder wohl behütend, und der nächste größere Schritt würde es sein, diese Teile aus ihnen heraus zu kitzeln und nieder zu schreiben.
Und natürlich die Sinnlosigkeiten alter Textfragmente zu entziffern; oh wie er sich nicht darauf freute!
Die Meisten dieser Papierstücke waren kaum zu entziffern, oder wahlweise in einem Chiffre geschrieben, den er weder kannte noch lesen konnte. Kryptische Fliegenfußabdrücke waren es, seiner Meinung nach!

[Bild: e6409abe1ca4d1bf086474c758310b3b.jpg]

Wir haben in stöhnenden Wonnen
Die hungernden Seelen berauscht.


Wann zur Hölle hat sich das hier eingeschummelt?
Mit einem Knurren strich Orestes die Worte durch. Seine Handschrift auf antikem Pergament, hingekrakelt wie ein übler Nachgedanke. Ein Sakrileg war es, auf solche Texte zu schmieren wie ein Schuljunge!
Manchmal wünschte er, seine Mutter hätte ihm den Kopf nicht mit Gedichten und Geschichten gefüllt. Manchmal wünschte er, dass er nicht gerade die romantischen Texte auswendig gelernt hätte. Manchmal wünschte er, keine so lebhafte Erinnerung zu haben.
Die Worte waren trotz des Durchstreichens noch lesbar. Sein Mundwinkel hob sich, die Finger fuhren die Zeichen abgelenkt nach, wieder und wieder. Lebhafte Erinnerung war seine Crux. Manche Dinge waren so klar und deutlich vor seinem inneren Auge, als seien sie erst gestern geschehen. Andere Dinge begannen langsam zu verschwimmen, während sie unwichtiger und unwichtiger wurden.
Sherion verschwamm nicht, konnte nicht verschwimmen, aber all die kleinen Momente, die Streitigkeiten, der Geruch ihres Zuhauses in der Nachmittagssonne, die verschwanden. Machten Platz für etwas Anderes.
Jemand anders.

Wir liebten uns bis zur Erschöpfung
Und liebten auch dann uns noch fort,


Diese Worte schrieb er absichtlich auf seinen rechten Unterarm, mit einem Federkiel und in altblauer Tinte. An einen Ort, wo er sie mit einem einfachen Hochkrempeln jederzeit wieder sehen konnte. Mit einem schrägen Schmunzeln zupfte Orestes den braunschimmernden, teuren Stoff seines Ärmels wieder über die nackte Haut, bedeckte die unschickliche Kleckerei auf seiner Haut, wie er es damals als Junge getan hatte.
Alles an diesen neuen Erinnerungen war klebrig und schmutzig, kleckrig und dreckig, warum also nicht auch in dieser Art verewigen?
Mit einem unwirschen Ächzen schloss er die Augen, lehnte sich in seinem bequemen Arbeitssessel zurück und grub die Hände in das inzwischen wieder schulterlange Haar, geduldheischend zur Zimmerdecke aufblickend. Nun war es getan, es gab keinen Weg mehr an dem Gedicht vorbei, ohne die letzte Zeile zu verewigen. Es unvollständig zu lassen hätte ihn nur in die Schlaflosigkeit getrieben, und das einzige Mittel gegen Schlaflosigkeit war zu weit weg um leicht darauf zuzugreifen. Und außerdem beschäftigt.
Die Augen huschten umher, betrachteten die Umgebung, die Papiere vor sich, die frischen Notizen in dem kleinen Buch neben dem Stapel von Antiquitäten, und schließlich sich selbst. Das schräge Schmunzeln wurde zu einem breiten Grinsen. Ah, ja. Dort.

Doch niemals entglitt unsren Lippen
Ein einziges zärtliches Wort.


In einigen Stunden würde die Pflanzenfarbe genug eingezogen sein, um ein paar Wäschen zu überleben. In einigen Tagen würde jemand die Worte entdecken, und in einigen Tagen würde das Gedicht endlich vollständig sein. Geduld und Warten, sie machten das Leben erst lebenswert.

* Schweigend - Felix Dörmann (1870-1928)
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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