FSK-18 Himmelgrau
#15
Probleme hat man nicht, Probleme macht man sich.
Ganz in schwarz gehüllt wie ein Verbrecher schlich Orestes um das Friedhofshaus der Totengräber, bestarrte die Fenster, und stellte sicher dass kein Licht brannte. Keiner daheim, was für seinen Plan nur von Vorteil war.
"Wie es zu dieser Wunde gekommen ist, wollte er nicht verraten." hatte Eirene gesagt, als er sie - frisch von der Gelehrtenkundigensitzung kommend - nach Servoks Zustand gefragt hatte. Ins Heilerhaus war er gar nicht erst gegangen, wer wusste schon was seine Anwesenheit verursacht hätte, wäre er Servok begegnet, aber die Heilerin zu fragen konnte doch nichts schaden, oder? Ha.
Orestes wusste sehr genau wie es dazu gekommen war, dass eine unbehandelte Kopfwunde eiterte und vor Maden wimmelte, aber das Wissen hatte er nur erhalten weil Servok ihn herum geführt hatte.
Im Friedhofshaus.
Wo die Leiche lag.
Er wusste nicht wer es gewesen war, nur dass Servok seine Arbeit tat und mehr nicht, aber diese Leiche war viel zu lange herum gelegen. Addierte man den Fakt dazu dass Servok dank der Kopfwunde sichtlich nicht mehr ganz bei Trost gewesen war - er hatte selbst bei einer Türe daneben gegriffen, Mithras im Himmel! - konnte Orestes sich bildlich vorstellen, wie Servok die Leiche einfach vergessen hatte. Oder irgendeinen unzusammenhängenden Grund gefunden hatte, sie dort liegen und faulen zu lassen, statt sie zu verscharren.
Und nun hatte Orestes einen Grund, dieses Problem zu seinem eigenen zu machen.
Mit einem nachdenklichen Schniefen näherte er sich dem Kutschenunterstand des Totengräberhauses, schlich vorsichtig um den altgedienten Karren herum, und warf einen Blick zu den Massengräbern, in denen Knochen zum Himmel schimmerten. Noch etwas, was er wohl heimlich übernehmen würde müssen, immerhin war Servoks Wunde schlimm genug gewesen um den Kopfknochen zu knacken. Und die Toten so nackt und schutzlos den Gezeiten zu überlassen erschien ihm nicht richtig, Profession hin oder her.
Mit drei flinken Schritten war er um den Karren herum, legte die Hand an den Griff, und wühlte mit der anderen Hand nach dem Schlüsselbund, der so brandneu war dass die Schlüssel noch nach Metallspänen rochen.
Servok war im Heilerhaus, und solange Ray noch in der Taverne beschäftigt war, würde er mit etwas Glück ungesehen hinein kommen, sein Werk vollenden, und wieder hinaus huschen können, auf dass ein für alle Mal keine Maden mehr in den Wunden der Totengräber ihr Heim fanden.
Die Türe gab mit einem leisen Quietschen nach, wie es nur Totengräbertüren konnten, und der Laut trieb Orestes für einen Moment das kalte Schaudern über den Rücken. Dann schob er sich hastig in die übelriechende Schwärze des Arbeitsraumes, und zog sich das Halstuch über Nase und Mund.
Der Gestank des Toten war so durchdringend, dass er sich wie ein Belag auf Kehle, Zunge, Zähne und Nase schlug, und jeden Atemzug zur Qual machte. Maden und junge, weißliche Fliegen krochen auf den unbehandelten Stellen des Kadavers herum, während eine nicht näher definierbare, bräunlichschwarze Flüssigkeit vom Tischrand tropfte, und in das aufgeweichte Holz darunter einzog.
"Herrmydrion." Mehr als dieser Ausruf fiel Orestes zu dem dämmrigen Anblick nicht ein.
Mit einem flachen Luftzug - nicht dass zuviel des Gestanks in seine Lunge kam! - hob er eine seiner behandschuhten Hände vor die Augen, wisperte leise "Saidh Ansu Aerom", die Worte des Geisterauges, und blinzelte in die nun nicht mehr ganz so dunkle, dafür scharf konturierte Umgebung. Wenn diese Sicht es war die Untote hegten, wurde deren schleppender, bedächtiger Gang zumindest etwas verständlicher, auch wenn es nicht der einzige Grund sein konnte.
Der Tote war derart verfault, dass ein Transport 'am Stück' wohl außer Frage stand. Orestes entdeckte jedoch in einer Ecke des Raums eine Rolle Leichentuch, und beschloss kurzerhand, dieses am Boden auszubreiten, den Leichnam darauf herunter zu schieben, und dann zu sehen wieviel Stücke er von der Platzstelle aus zusammensuchen müssen würde. Er war nichts wenn nicht hartgesotten und kreativ, vor allem wenn es darum ging, Maden in Wunden ein für alle Mal auszumerzen.
Schon beim Ausbreiten sog das zuvor weiße Tuch sich mit dem bräunlichschwarzen Leichenwasser voll, aber spätestens als Orestes die Leiche vom Tisch schob, diese auf den harten Boden fiel und ein Schauer von Maden und unidentifizierbaren Brocken sich fleckartig darum ausbreitete, ahnte er dass es eine lange Nacht werden würde.
Das Geisterauge immer wieder mit einer gewissen Nebensächlichkeit erneuernd sammelte er die Teile auf das Tuch und zertrampelte die Maden, wo immer diese nicht schnell genug durch die Ritzen in den Dielen geflüchtet waren, dann schlug er das Tuch kokonartig um den Toten, und verschnürte das Bündel mit fester Schnur.
'Gut, nicht so hübsch wie all die anderen Toten auf den Leichenkarren,' stellte er schließlich bei Betrachtung seines Werkes fest, aber es war ausreichend.
Mit einem Schnaufen packte er den Stoffzipfel an den Füßen, und schliff den verpackten Leichnam schnaufend und ächzend und recht unzeremoniell durch die Hintertüre hinaus, an den Leichenkarren vorbei, und zum erstbesten Massengrab, wo er den Toten ebenso unzeremoniell versenkte.
Nur um dann festzustellen, dass es Servok auffallen würde, wenn da eine frische, verpackte Leiche zwischen den sichtlich nicht frischen, alten Knochen lag.
Noch ein Problem, dass er sich selbst gemacht hatte.
Auf die Grube und den Leichnam starrend überlegte Orestes einige Momente nervös und still. War er gesalbt worden? Hatte er ein Gebet bekommen? Bekam hier überhaupt jeder namenlose Tote ein Gebet? Was passierte wenn nicht? Mit einem knappen Atemzug postierte er sich am Fußende des Grabes, hob salbungsvoll eine Hand und sprach mehr verlegen als gekonnt: "Hiermit übergebe ich deinen Leib an Mithras... oder die Götter, je nachdem wo du hingehörst. Möge Mithras deiner Seele gnädig sein und dich in sein Reich aufnehmen, wenn du es willst. Ruhe in Frieden!"
Das musste reichen. Ein nervöser letzter Blick ging in die Grube, dann hinüber zur Straße, dann wieder zur Grube. Nein, von dort aus konnte man den Toten nicht sehen, und hierher kamen nur Totengräber.
Solange morgen niemand starb und prompt verscharrt werden musste, würde wohl niemand das kleine, auffällige Addendum zum Grabinhalt bemerken, was bedeutete, dass er genau einen Tag und eine Nacht hatte, um das Massengrab zu verscharren. Er würde Hilfe brauchen, verschwiegene Hilfe.
Um die Last gebracht und somit leichter trottete er zurück in das Friedhofshaus und sah sich suchend um. Fehlte nur noch die Beseitigung des Gestanks und der widerlichen Säfte auf dem Leichentisch und dem Boden, und wenn es um Hausreinigung ging, so war er ungeschlagen.
'Alles kein Problem. Ein bisschen aufwischen, ein bisschen lüften, und alles ist gut. Wird nicht auffallen.'

***

Sechs Stunden später empfing die Sonne Orestes durch die zum Lüften geöffneten Fenster. Der Boden war geschrubbt - und zwar überall -, die Scheiben gewischt, die Regale sortiert, die Tische geputzt, und Orestes' Hände voller Blasen und blutiger Schnitte. Die Frisur war schon lange mehr zu einem Knäuel geworden, die schwarze Kleidung stellte sich als gut gewählt heraus, denn er stank erbärmlich, war halb durchnässt vom eigenen Aufwischen, und Spinnweben hingen an Schultern und Ellebogen - aber man sah davon fast nichts.
Fast nichts.
Die Wachen der Tore blickten ihm ein wenig argwöhnisch hinterher, als er kraftlos und mit Augenringen in die Altstadt schlurfte, aber er war zu müde um die Blicke auch zu erwidern.
'Da hast du dir aber ein wunderbares Problem gemacht, die ganze Nacht beim Totengräber zu putzen, wirklich wunderbar,' schalt er sich selbst stumm, während er dreimal nach dem Griff seiner eigenen Haustüre fummelte, bevor er ihn endlich auch erwischte, und ins Haus kippte.
Und das alles für jemanden, der eher gestorben wäre bevor er von selbst zum Heiler ging. Auf dem Teppich im Vorzimmer liegend schloss Orestes die Augen und schnaubte einmal aus. Nur ein paar Stunden Schlaf, dann würde er jemanden finden und das Grab zuschaufeln, und dann würde niemalsnie jemand erfahren was er gemacht hatte. Nur ein paar Stunden Schlaf...
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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Himmelgrau - von Orestes Caetano - 21.06.2013, 18:14
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