FSK-18 Himmelgrau
#14
"Weils keine Hoffnung gibt"

Wie oft kann ein Herz zerbrechen,
wie oft erträgt es seine Qual?
Ohne Weinen, ohne Sprechen
erträgt es schweigend - noch einmal.

Wie oft wird ein Herz erstochen,
wie oft erträgt es seine Not?
Tausendmal zu tiefst getroffen,
leidet's weiter. Bis zum Tod.


© 2003 Janina K.

"Herr Caetano, es tut mir so leid für euch!"
Orestes lächelte, nickte und sprach sein Sätzchen. "Danke, aber ich glaube nicht dass das Sherions Leichnam war." Halt dein verdammtes Drecksmaul und lass mich in Frieden! Ein freundliches Nicken wurde ausgetauscht, dann ließ er die Frau mit verwirrtem, vielleicht ein wenig verstörtem Gesichtsausdruck stehen und marschierte weiter, während seine Kehle automatisch ein nervöses Summen anstimmte.
Er kam keine fünfzehn Schritt weiter, bis die nächste Beileidsbekundung ausgesprochen wurde. "Ich habe davon gehört was passiert ist... Geht es euch gut?" Orestes lächelte, nickte und sprach sein Sätzchen. "Natürlich. Ich bin mir recht sicher dass das nicht Sherion war." Fall von einer Brücke und verrecke du sensationsgieriger Blutegel! Nach einer Erklärung seiner Argumente und der Beteuerung dessen, dass er sich in seiner Ansicht sehr sicher fühlte, setzte er seinen Weg erneut weiter, und in der Ferne blinkte schon das erlösende Bankschild an der Backsteinfassade, als er prompt Gesicht voran in Aygo lief. Ausgerechnet Aygo, der gerade reißerisch dabei war wie ein Dorfprediger vor der Glaubensgemeinschaft zu predigen, wie unglaublich tragisch Sherions Tod sei. Ausgerechnet Aygo. Du kleiner Schmutzfink würdest nicht so reden wenn du wüsstest wie angewidert Sherion von dir war. Aus deinem Mund kommt nichts als deine eigenen zusammengesponnenen Wunschträume. Erbärmlich. Die eigenen Gedanken ließen Orestes Mundwinkel nach oben zucken. Es war gut, zumindest im Inneren seiner Meinung freie Bahn zu lassen, aber wie er Aygo kannte und einschätzte, würde dieser ihm recht rasch Grund geben, sie einmal mehr auch auszusprechen.
Dass er Sherion gar nicht wirklich gekannt haben konnte, wenn er ihn tot nicht wiedererkannte, warf Aygo ihm ins Gesicht. Ob er ihn überhaupt geliebt habe, klagte er an. Wie Orestes so blind sein konnte, spuckte er, und durchtrennte damit die Leine, die Orestes dem eigenen Mundwerk angelegt hatte. Es tat gut frei heraus zu sprechen was er von Aygos Worten - oder besser Aygo selbst - hielt, und wenn er sich nur ein klein wenig gehässiger gefühlt hätte, hätte er Aygo wohl auch mitgeteilt, dass er sein Schreiben für das große Geschäft am Abort benutzt hatte, wo es auch hingehörte. Dennoch war dies weder der Ort noch der angemessene Zeitpunkt, Aygo an den Hals zu gehen und sich öffentlich als gehässiger Irrer zu offenbaren. Nein, dafür würde sich noch eine Zeit und ein Ort finden, der mehr Möglichkeiten bot als der kleine Platz vor der Bank.
Nach einer entsprechenden Extraktion aus dem Gerüchtekessel und nur zwei weiteren Zusammenstößen mit Mitleidsbekundern konnte Orestes sich schließlich auch endlich wieder in sein Haus verziehen, wo nur Löwenzahns eines Auge ihn beim Auf und Ab und dem Haareraufen beobachten konnte.

War es Sherion gewesen? Nein, unmöglich. Er hatte sich selbst überzeugt, und Ceras hatte auch geschaut. Aber wo war er dann? Nicht hier, soviel war sicher. Selbst sein Haus hatte die Stadt räumen lassen, was bedeutete dass genügend Leute davon überzeugt waren dass er nicht wiederkam, um die Geldeintreiber kurzen Prozess machen zu lassen.
Wenn die Leiche in der Kirche aber nicht Sherion gewesen war, und auch sonst niemand - eingeschlossen seiner lieben Tante Elfie in Candaria - ihn gesehen hatte, gab es nur zwei mögliche Ausgänge:
Entweder Sherion hatte Zugangst bekommen und war einen Monat vor ihrer Hochzeit ausgebüchst um wo anders ein neues Leben anzufangen, oder aber Sherion war tatsächlich tot... nur eben nicht tot in der Kirche.
Mit aufgebrachten Schritten wanderte Orestes durch das Erdgeschoss seines Hauses, und grub beide Hände in die schwarze, glatte Haarpracht, die er sich nur für Sherion wachsen hatte lassen. Sherion geht oft genug an gefährliche Orte, und er ist stets allein... ein Mineneinsturz, ein schlecht gefällter Baum, ein hungriger Bär, all das würde ausreichen um ihn auf nimmer Wiedersehen verschwinden zu lassen.
Mit einem frustrierten Knurren verpasste Orestes der einsamen Henkelkerze auf dem Küchentisch eine Ohrfeige, die das arme Haushaltsobjekt gegen die nächste Wand prallen und erlöschen ließ. Nur ein Spritzmuster erhärtenden Wachses war der Lohn für diesen Ausbruch.
Andererseits ist Sherion nicht zu einhundert Prozent treu oder verlässlich... immerhin hat er schon mit mir jemanden betrogen, und mit jemandem mich, es ist also nicht ganz verwerflich dass er mit dem blonden Stallburschen aus dem Armenviertel durchgebrannt ist. Oder ohne ihn, aber dafür in die Arme eines anderen.
Zähnefletschend starrte Orestes auf die Wachstropfen an der Wand, die Miene so frostig wie er sie auf der Straße nie werden hätte lassen. Es gab einige Gesichtsausdrücke, die er einzig und allein für sein Privatleben reserviert hatte, und dieser kalte, schier hasserfüllte Ausdruck war einer davon.
Trotz allem wäre mir das Durchbrennen lieber als der Tod in Einsamkeit.
Mit einem leisen Grollen ging er in die Hocke und machte sich daran die Kerze aufzuheben, und das Wachs mit einem Küchenmesser sorgsam und vorsichtig von der verputzten Wand zu schaben. Es war nun einmal so dass Sherion nie zu den Personen gehören würde, denen er den Tod wünschte, dafür war "Liebe" einfach nicht schwerwiegend genug.
Fakt war aber auch dass die "Sherions Tod"-Fraktion zunehmend hasserfüllt wurde weil er schlicht und ergreifend nicht zustimmen mochte, dass in jener Urne tatsächlich Sherions Asche lag. Vielleicht würde er dafür in den Abyss fahren und ewig schmoren, aber es war nicht das erste metaphysische Risiko, das Orestes für seine Überzeugungen einging. Es brachte ihn höchstens dazu, vermehrt verbotene Dinge zu denken, und jene Studien ins Auge zu fassen, die für gewöhnlich mit dem Scheiterhaufen endeten. Nichtsdestotrotz hatte Orestes insgeheim den Beschluss schon längst gefasst, die verrufenen Studien der Seele endgültig aufzunehmen.
Immerhin gab es nur eine Lösung, die Frage nach Sherions Tod oder Leben endgültig zu klären: Ich könnte ihn natürlich einfach selbst zu fragen versuchen.
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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Himmelgrau - von Orestes Caetano - 21.06.2013, 18:14
RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 22.06.2013, 02:55
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