FSK-18 Himmelgrau
#9
Anderthalb Tage. Sechsunddreißig Stunden. Zweitausendeinhundertundsechzig Minuten. So lange dauert es, um ein Leben komplett umzukrempeln. Hm. Selbst ein Wandfackelhalter brennt länger.

Die Räume waren noch ungewohnt, genauso wie der lange gemisste Ausblick, an dem man sich nur ergötzen konnte, wenn man im ersten Stock eines Gebäudes lebte. Rauhreif und Schneereste hingen an den halb erneuerten Schindeln des alten Glockenturms, und warfen das helle Licht des Vollmonds wie trübe Spiegel zurück, harsch gegen den dunklen Hintergrund des Schiefers hervorstechend. Orestes lehnte die Stirn an das unebene, altehrwürdige Bleiglas des Fensters, und starrte hinaus in die hell-dunkle Nacht.
"Ratsherr." murmelte er dem Fenster bedächtig zu, wie man es normalerweise nur tat, wenn man nicht sicher war ob etwas gut schmeckte oder nicht. Vor nicht einmal zwei Tagen hatte er in einer ebenerdigen Wohnung gelebt, die gerade groß genug gewesen war, um mit strategisch platzierten Wandfackeln von dem schieren Kellergefühl abzulenken, den so gedrängte, verbaute Gebäude wie die Pierhäuser nur zu gerne erweckten. Und nun stand er im ersten Stock eines manierlich anzusehenden Altbauhauses mit Ausblick auf eines der ältesten Gebäude der gesamten Stadt, halbnackt und verwirrt, und konnte sich selbst kaum erklären wie er dahin gekommen war.
Von der unerfreulichen Angelegenheit mit Aline, die zu einer noch unerfreulicheren Angelegenheit mit Magdalena Jehann und kurz darauf ihrem Handlanger Njal geführt hatte, bis zu der Kandidatur zum Ratsherren und schließlich dem Umzug in dieses herrliche Haus war keine ganze Woche vergangen, und wenn er es wagte, den gesamten Monat in seine Überlegungen mit einzubeziehen, dann war das Volumen der Überraschungen und plötzlichen Ereignisse schier überwältigend.

"Oft schläft erst ein am Morgen sacht, wer sich des Nachts noch Sorgen macht." Meine Mutter und ihre skurrilen Weisheiten verfolgen mich nun sogar in die Schlaflosigkeit.

Die Scheibe knackte leise als Orestes den Kopf davon ab hob, und einen Blick hinüber zur angelehnten Schlafzimmertüre wagte. Dort drinnen lag das Ergebnis eines Ultimatums und eines über Monate hinweg gepflegten heimlichen Sehnens, und trotzdem konnte er sich nicht erklären wie zum Geier er es geschafft hatte, im selben Haus zu enden und im selben Bett zu schlafen. Er war sich sogar sehr sicher es nicht verdient zu haben, und obschon er sicherlich die letzte Person war, die einem geschenkten Gaul jemals ins Maul schauen würde, so wollte er bei all dem Genuss und der Zufriedenheit doch niemals dazu übergehen, ein Geschenk des Elysiums einfach so anzunehmen. Solche Geschenke kamen zumeist mit gar unangenehmen Nebenwirkungen, und es brachte Orestes' Nacken zum Kribbeln, dass diese Nebenwirkungen bislang noch nicht ihr hässliches Gesicht gezeigt hatten.
Er war stellvertretender Zunftleiter, er hatte sein lange wie einen Schatz gehegtes Syndikat aufgebaut und Mitglieder dafür gefunden, hatte das erste Mal etwas, das man "Beziehung" schimpfen konnte, und nun war er Ratsherr, und doch... immer noch wollte die nagende Sorge ihn nicht los lassen.

Vielleicht war es die Art, wie er sich endgültig von Aki Duran losgesagt hatte, und die Endgültigkeit mit der er dies getan hatte. Aber es war notwendig gewesen, hatte er doch die Wahl zwischen Aki und dem Rest seines Lebens und seinen Freunden gehabt.
Vielleicht war es aber auch die Gehässigkeit und tiefe Boshaftigkeit, die er für einen Moment in Magda zu sehen geglaubt hatte - nicht umsonst hieß es, dass man sich mit den Jehanns nur anlegte, wenn man einen gratis Sarg haben wollte.
Höchstwahrscheinlich aber war es einfach die Furcht vor dem Versagen, gekoppelt mit Orestes' Selbstkenntnis. Wie sollte ein neurotischer, dürrer, selbstverliebter und junger Narr wie er denn jemals einen guten Ratsherren abgeben? Konnte man als Ratsherr denn einfach so tun als ob man wüsste wovon man sprach, in der Hoffnung dass niemand das Gegenteil herausfinden würde?
Allein der Versuch einer Überlegung dazu, wieviele Dinge er in Zukunft beachten müssen würde, trieb ihm den kalten Schweiß auf die Stirn und ließ ihn sehnlichst von einer von Mareks Kräutermischungen träumen, aber nicht einmal das würde er sich nun ohne Gefahr gönnen können. Man stelle sich nur vor, jemand würde ihn taumelnd und mit trübem Blick vor dem Haus herumschlurfen sehen. Wenn er nicht der Verseuchung bezichtigt und auf die Insel geschleppt werden würde, so würde man sich doch zumindest erzählen, dass der Herr Stadtrat heimlich am Gemüse zupfte.

Eine einsame Saatkrähe auf dem Dach des Glockenturms unterbrach seine wirren, müdigkeitsgeprägten Gedanken mit spöttischem Krächzen, und ließ ihn instinktiv vom Fenster zurück weichen. Alte Gewohnheiten ließen sich nur schwer innerhalb von einem Tag abschütteln, und Fenstergäste hatten ihn in seiner alten Wohnung nur zu oft belästigt. Nicht dass es die Krähe interessiert hätte, dass ein bleicher, knabenhafter Kerl an einem Fenster stand und eine Miene wie ein vergessener Ziegenbock machte...
Mit leisem Seufzen schlich Orestes die Treppe hinunter, und sah sich in seiner neuen, aber viel zu stillen Stube um. In der gestrigen Nacht hatte er Federn sortiert, bis sie der Größe nach und mit der Außenseite nach oben in sieben Stapeln dagelegen hatten, aber heute hatte Sherion alle Federn schon fortgeschafft. Und bei Orestes' Ordnungszwang lag nicht viel herum, auf das er sich stürzen hätte können.
Kurz sah er überlegend hinüber zu seinem Stapel mit Bestellungen, und der klobigen Tischbuchpresse, aber seine Neurosen hätten ihn niemals schlampige Arbeit produzieren lassen, also fiel auch das aus.

Der Teppich war es schließlich, der seine Aufmerksamkeit zu fangen verstand. Winzige, festgetrocknete Erdklümpchen hingen an manchen Stellen, wo der Jure von Mittag mit seinen nicht ganz perfekt gereinigten Stiefeln über seinen Teppich marschiert war. Perfekt.
Die nächsten drei Stunden würden Fenstergäste in der Bogengasse Nummer drei nichts anderes als einen auf dem Boden herumkriechenden Halbnackten sehen, der mit einer Buchbinderpinzette Erdklumpen aus dem Teppichgewebe zupfte, und in einer Schüssel sammelte. Und vier Stunden später war vom nächtlichen Spuk nichts mehr zu bemerken, und selbst Sherion hatte einen unerschütterlich vor sich hin träumenden Leib neben sich, der genauso gut die ganze Nacht dort gewesen sein hätte können.
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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Himmelgrau - von Orestes Caetano - 21.06.2013, 18:14
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RE: Himmelgrau - von Orestes Caetano - 29.10.2016, 05:36



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