Die Saat des Irrtums
#20
Beklag es nicht, wenn oft mit Beben
ein Sturm uns durch die Seele braust;
denn welkes und gesundes Leben
das scheidet seine starke Faust.

Wie in den grünen Blättern allen
im sommerreifen Laubgeäst:
was welk in uns, das mag nun fallen,
was grünt, hält auch im Sturme fest.

Karl Stieler (1842 - 1885)


Der Nieselregen, der den halben Abend in immer wieder einsetzenden Intervallen das Gestein des hohen Festungsturms benässt hatte, kehrte einmal mehr zurück und tränkte mit seinem leisen, wispernden Plätschern die feinen, dünnen Pfützen um den knienden Mann und zerschnitt den aufsteigenden Nebel und Dampf in fasrige, unstete Wimpel.
Das Zittern hatte sich von einem empörten Beben zu Anfang inzwischen zu einem Fakt der Existenz - nicht unähnlich der Notwendigkeit zu atmen - fortentwickelt, jeden Muskel an Kyrons Leib ergriffen und die Kälte bis in die Knochen voran geschickt. Was in voller Rüstung, betan mit Gambeson, langem Unterhemd, Beinkleidern, einer schützenden Metallschicht und schließlich einem Wappenrock als kühle Herbstnacht durchgegangen wäre, das war in ein dünnes Hemd und eine Lederhose bekleidet eine wahrhaftige Qual. Nicht dass die Qual stundenlang auf dem selben Fleck zu knien nicht schon schlimm genug gewesen wäre.
Wäre Kyron jünger gewesen, hätte sich dieser Abend vor fünf Jahren zugetragen, Kyron wäre wohl unter Dach gerutscht, verschlagen wie ein kleiner Junge der sich für schlauer als der Vater hielt. Der Verschlag des Meisters war immerhin keine zwei Schritte von ihm entfernt, überdacht, matt beleuchtet und zwar spartanisch eingerichtet, aber immer noch geschützter als das freie Turmdach. Des Meisters Aufmerksamkeit wanderte zwar immer noch in Intervallen zu ihm zurück um die dritte Licitatie einmal mehr zu hinterfragen, zu vergleichen und schließlich jeden Trieb von Andersdenken auszustampfen, doch die Spannen die er mit Insichgehen und dem Studieren verschiedener Almanache verbrachte, waren mit Kyrons zunehmendem Verständnis - oder Meinungsangleich? - angewachsen.
Vor fünf Jahren hätte Kyron die Überlegenheit des Meisters noch in Frage gestellt. Vor fünf Jahren hätte er sich noch gegen den Willen des Meisters gemessen, Widerstand geleistet, geknurrt und geschnappt bis Ketten zur Unterstützung seiner Lehre um seine Arme gelegt worden wären. Vor fünf Jahren wäre sein Blut heiß genug gekocht, um ihn die Kälte vergessen zu lassen und ihm weitere Narben einzubringen.
Nun wusste er, dass Widerstand zwecklos war. Dass sein Wille dem des Meisters unterlag, dass er den Weg nicht kannte, dass er ohne den Meisters fehltat, missgriff, abzudriften drohte von dem einzigen Weg der ihm eine Zukunft nach dem Tod versprach, die nicht aus dem selben Elend bestand wie sein Leben. Auflehnen war zwecklos. Wüten und Schreien waren zwecklos. Er kniete, er fror, er zitterte aus eigener Schuld, aus eigenem Fehler.
Ein weiterer Zitteranfall schüttelte seinen Leib und der Nieselregen stoppte einmal mehr. Das Beben brachte seinen Kopf zum Schmerzen, seine Schläfen zum Pochen, seine Sicht zum Schwanken, und irgendwo von tief in seinem Bewusstsein kroch der Gedanke hervor, dass er dankbar sein sollte. Oder nicht? Der Meister half ihm mit all dem, mit dem Beharken, mit dem Wiederholen, dem Knien, der Kälte, der Schutzlosigkeit, er hatte es selbst gesagt. Perfektionierte ihn, zeigte eine sanfte, gütige Hand. Niemand hielt ihn dort, niemand fesselte ihn, das einsperrende Salz war schon lange vom Regen gelöst und verwaschen worden, nur noch er selbst sorgte dafür dass er hier blieb. War das nicht ein deutliches Zeichen dafür, dass sein Verstand und seine Vernunft zwiegespalten waren? Sein Verstand sagte ihm dass es Zeit war zu flüchten, oder unter das Dach zu kriechen, seine Schwäche zu füttern und seinen schwachen Willen zu befriedigen, aber seine Vernunft sagte ihm still, heimlich und wortlos, dass er dort bleiben sollte. Dass es der richtige Weg war. Dass ihm geholfen wurde.
Etwas nagte an Kyrons Hinterkopf bei diesem Gedanken, ein unwohler, sich windender, zittriger Schatten eines Gedanken der irgendwann einmal ein Heim in Kyrons Kopf gehabt hatte und doch nur noch eine Ruine, ein geschliffener Fundamentrest war. Das Gefühl des ungreifbaren Schauders ließ ihn die Zähne blecken, die Schultern rollen im Versuch die leichenhaften Reste eines früheren Lebens abzuschütteln, und seine Regung brachte auch Regung in den schwarzen Schemen des Meisters.
Ein alter Sessel knarzte, Papier raschelte. Dann erklangen Schritte, und die sanfte, gleichmäßige Stimme des Meisters drang einmal mehr durch das Elend der kalten Herbstnacht.

"Die dritte Licitatie, Archont."

Der Schatten in Kyrons Seele erzitterte und verkroch sich, winselnd beim Anblick des Erzfeindes. Die weiße, sirrende Leere seiner Vernunft füllte das Vakuum und glättete seine Mimik.

"Widerstand gegen die Hierarchie der Synode der Dämmerung, durch den Bleichen Lord zur heiligen Streitmacht auf der Irdischen auserkoren, ist gleichermaßen Widerstand gegen den Lord Yaq’Charybs Höchstselbst."
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 23.07.2015, 16:45
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 24.08.2015, 05:33
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 03.09.2015, 08:56
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 26.09.2015, 02:14
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 28.09.2015, 16:21
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 29.09.2015, 23:27
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 30.09.2015, 17:07
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 02.10.2015, 17:55
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 10.10.2015, 03:12
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 13.10.2015, 17:51
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 19.11.2015, 20:40
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 23.11.2015, 16:17
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 22.01.2016, 14:56
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 14.02.2016, 21:31
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 22.02.2017, 14:45
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 09.05.2017, 11:13
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 14.05.2017, 12:32
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 17.05.2017, 00:41
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 18.09.2017, 13:45
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 04.10.2017, 13:03
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 28.10.2017, 10:43
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 29.10.2017, 19:38
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 31.10.2017, 13:56
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 31.10.2017, 18:19
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 30.11.2017, 03:11
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 29.09.2018, 09:39
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 13.02.2019, 10:01
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 02.03.2019, 23:11
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 07.03.2019, 10:20
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 09.03.2019, 12:27
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 11.01.2020, 03:58
RE: Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 18.03.2020, 00:49
RE: Die Saat des Irrtums - von Cahira Mendoza - 23.03.2020, 20:56



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste