Hammer und Amboss - Aus dem Leben eines Schmiedes
#12
Kapitel IV - Bormo, Solis und Galates

"Wenn du deine Schicksalsgötter bildlich darstellen müsstest, wie würden sie aussehen?"
So hatte der Schmied den Kopf des jungen Stichmalers ins Grübel gebracht. Neben drei Göttern, die mit Aki's Schicksalsgöttern identisch sind, hat Ghalen Bormo, Sulis und Galates genannt. Aki kann zwar jeden der einundzwanzig in etwa zu ordnen, zumindest soweit sie für ein Handwerk stehen, eine Kunst oder den Krieg, aber er hätte kein Bild vor Augen. Aber gegen ein wenig Hilfe spricht nichts und manchmal bringen anderen Ansichten neue Ideen. Welches Schaffenswerk ihn wohl an Ghalen denken lässt, wird deutlich, als er sich mit Pergament und Kohlegriffel zurück zieht und die drei Götterstatuen skizziert.

Ghalen bezeichnet Bormo als wunderschönen, makellosen Mann mit langen Haaren. Er hofft, dass er dem Gott gerecht wird, denn als er die Feinheiten in das Gesicht meiselt, das von langen, seidigen Haaren umgarnt wird, blickt ihm zusehens ein bekanntes Gesicht entgegen. Wie ein Maler Striche zieht, so führt der Schmied am heutigen Tag den Meisel und lässt sich leiten. Schließlich taxieren ihn Gesichtzüge, die eindeutig Orestes ähneln.
Demnach besitzt Bormo ein ovales und symmetrisches Gesicht mit straffer Haut und hohen Wangenknochen. Die großen Augen besitzen einen sinnlichen Schlafzimmerblick und werden von makellosen, geschwungenen Augenbrauen umrahmt. Stirn und Kinn sind ebenmäßig und zeigen keinerlei Falten. Bormo besitzt eine gerade und schlanke Nase, wohl eine Stubsnase, dank der zarten Wölbung, die das deprimierend perfekte Gesicht vervollständigt. Nur die Lippen sind nicht so voll und weniger weibisch, als die des Mannes, der Aki im Kopf herum spukt. Sie wirken weniger prall und schmaler und sind geöffnet und gekräuselt, als würde Bormo ein hohes 'Oh' singen.
Aki ist erstaunt, als er über das steinerne Gesicht pinselt, das es ihm so leicht gefallen ist. Es ist ihm fast schon peinlich, denn wer die Statue betrachtet und Orestes kennt, wird die Ähnlichkeit erkennen. Wie viele Male hat er unbewusst jeden Fingerbreit des Gesichts gemustert und verinnerlicht, dass sich ein solches Abbild in sein Gedächtnis gebrannt hat? Immerhin kann ihm Bormo nicht zürnen, der Schmied hat in seinem Leben noch keinen schöneren Mann gesehen, Verhältnis hin oder her. Er erinnert sich an den Moment, als Orestes gefesselt und mit verbundenen Augen vor ihm lag, zappelnd und ängstlich dem Tod ins Auge blickend. Trotzdem luden die Lippen dazu ein, mit dem Daumen darüber zu fahren und die schlanken Muskeln spannten sich. Einen schönen Mann kann eben nichts entstellen.
Während Aki vergangenen Augenblicken nach hängt, arbeiten die Finger weiter. Er zieht Bormo ein maßgeschneidertes Wams an, mit feinen Stickereien und Perlen, wie es Barden tragen. Das Kleidungsstück ist am Hals offenherzig ausgeschnitten und lässt die Konturen der Schlüsselbeine und der Brustmuskeln erahnen. Im einen Arm hält er eine Harfe umschlungen, an der er mit den schlanken Fingern sanft zupft. Die Beinstellung wirkt verspielt, als würde er sachte im Takt auftreten. Passend dazu schmiegt sich ein Band mit Glöckchen um den Fußknöchel, der Fuß ist leicht auf den Ballen aufgesetzt.
Das letzte Detail, das nicht auf der Skizze fest gehalten wurde, manifestiert sich erst während des Schaffensprozess. Da der Fuß im Begriff ist auf den Sockel zu tippen, arbeitet der Steinmetz zarte Kreise auf den Sockel. Der Fuß steht in der Mitte des ersten, kleinsten Kreises, welcher von zahlreichen weiteren umrundet wird. Eben so, wie Wasser seine Kreise zieht, wenn man einen Stein hinein wirft. Passend dazu gestaltet er den Sockel nach dem Vorbild von ruhigem Wasser.

Er stellt Bormo zu den anderen Florgöttern ins Regal und, da er mit den Gedanken noch in der elementaren, natürlichen Welt ist, gleitet sein Blick zur Skizze des Florgottes Galates. Die Grübeleien fließen in die Statue ein, die er sich in den folgenden Tagen vornimmt. Die Galates-Statue besitzt keinen Mund und trägt eine faltige Robe. Die Gesichtszüge sind recht regungslos, zwischen entspannt und gleichgültig. Alles in allem ist die Statue recht minimalistisch. Galates hat ein dickes Bündel Bücher im Arm, das er fest an sich drückt. Die freie Hand liegt mit gestreckten Finger in einer andächtigen und schützenden Geste auf einem der Einbände. Den Sockel spicken Grabsteine, da Galates der Hüter der Verstorbenen ist.
Aki erinnert sich an den Vergleich zu Cois, den er gezogen hat. Seit Kurzem ist der Wächter des Rabenkreises Friedhofswächter und es erscheint dem Schmied passend, denn Galates ist auch einer von Cois' Schicksalsgöttern. Nur inwieweit er eine Verbindung zu Ghalen sieht, weiß er nicht. Vielleicht besitzt der Kerl noch eine Seite, die ihm noch nicht bekannt ist? Oder viele Geheimnisse.

Der dritte Gott, bei dem Ghalen sozusagen seine Muse war, ist Sulis. Als Finggöttin ist sie schwer greifbar und darzustellen. Sie steht für die Sonne und das Feuer, was Aki nur schwer in eine Statue einarbeiten kann. Nach reichlichem Überlegen kam ihm in den Sinn, ihr runenhafte Tätowierungen zu verpassen. Dazu arbeitet er erst die Statue soweit zu Ende, um die Runen als Vertiefungen in den Stein zu meiseln, als wären sie ein Teil des Körpers. Dabei arbeitet er Kreise in die steinerne Haut, die mit Strahlen auslaufen und kleine Sonnen darstellen. Abgesehen davon - nach Vorbild seiner Flammen-Tätowierung am Unterarm – setzt er die Haut der Statue in Flammen und ritzt Flammenzungen, als Ergänzung zu den Sonnen, in alle unbedeckten Hautpartien.
Sulis trägt ein lockeres, ärmelloses Kleid mit schönem Faltenwurf. Auf dem Arm hat sie ein Kind, das sie liebevoll und aufmerksam ansieht. Sulis erscheint dem Schmied sehr passend als Schicksalsgott für den Stichmaler. Er besitzt ebenfalls ein sonniges Gemüt und hat immer ein feines Lächeln auf den Lippen. Darüber hinaus besitzt er eine Neugierde, die keine Scheu kennt.

Die drei Götterstatuen, die bis zum Wochenende fertig gestellt wurden, finden ins Regal. Damit ist die kleine Gruppe bereits auf sechs Götter gewachsen.
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Neue, alte Tage - von Aki Durán - 17.08.2015, 21:36
Die Gunst der Götter - von Aki Durán - 29.08.2015, 19:09
Ein Opfer für die Götter - von Aki Durán - 13.09.2015, 09:34
Der Grabstein - von Aki Durán - 26.05.2016, 20:07
Ein achtbeiniges Schmuckstück - von Aki Durán - 12.06.2016, 20:22
Eine Wette im Sinne der Götter - von Aki Durán - 30.09.2016, 01:25
Die Früchte der Forschung - von Aki Durán - 23.10.2016, 20:15
Rabenstahl - von Aki Durán - 15.11.2016, 09:32
Die Götterschmiede - von Aki Durán - 01.12.2016, 17:45



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste