Zitherklang und alte Lieder
#2
Das Geschrei aus dem Familienwagen ist unerträglich, dominiert von der peitschenscharfen Stimme von Gillie's Vater. Schon bei Entdecken von Nidias Umständen hat er Gillie aus dem Wagen geworfen, während ihre Brüder bleiben durften. Die Wände des Wagens sind dünn, aber irgendein Teil von Gillies Verstand hat beschlossen, dass der Schmerz zuviel ist, und ihr das Verständnis geraubt. Seither ist das Geschrei ihres Vaters nichts als eine Barrage von bellenden Lauten, und die leiseren Einwürfe ihrer Mutter mehr wie das Winseln eines Welpen. Anfangs hat man von Nidia noch den einen oder anderen Einwurf gehört, Rechtfertigungen und Besänftigungsversuche, aber auch ihre Stimme ist inzwischen verstummt.
Gillie starrt in den rauchverhangenen Himmel, lutscht an ihrer wundgekauten Unterlippe und betet still zu den Göttern. Sie weiß dass Gebete nicht dafür gedacht sind die Götter dazu zu bringen, irgendwas für sie zu tun während sie da sitzt und sich bemitleidet, untätig und weinerlich. Aber nicht nur betet sie nicht für sich selbst, sondern für ihre Schwester, sie bittet auch nicht darum dass die Götter irgendetwas für sie tun, sondern nur darum, dass sie ein Auge auf ihr Fleisch und Blut haben.
"Lyon weise dir den Weg, hin zur Zukunft und fort von der Gefahr," wispert Gillie den vereinzelten Sternen zu, die durch die Wolken und den Qualm der Lagerfeuer blitzen. "Nodons halte seinen Schild über dich." Ob Nodons den Verstoßenen beisteht, weiß Gillie zwar nicht, aber eine Bitte ist noch kein Handel, für den man gestraft werden könnte. "Sulis scheine stets in dein Gesicht," murmelt sie leise und holt Luft für weitere Bitten, die vom Knall der auffliegenden Wagentüre aus ihrem Kopf gewischt werden.
Nidia stolpert verheult aus dem Wagen, wirft ihr einen halb anklagenden, halb aufgelösten Blick zu, und läuft mit wehenden Rockschößen hinaus in die Nacht. Niemand aus dem Wagen folgt ihr, niemand sieht ihr überhaupt hinterher, bis auf Gillie. Sie weiß es besser, weiß dass Verstoßene genauso gut tot sein könnten, aber sie kann nicht anders. Erst als Großmutter von ihrem eigenen Wagen herüber schlurft, sie am Arm packt und begleitet von leisem, scharfem Tadel mit sich zieht, wendet Gillie den Blick wieder ab. Es ist nicht fair! Oder ist es?
An diesem Abend beginnen die Träume.
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Zitherklang und alte Lieder - von Gillie - 10.02.2017, 14:16
RE: Zitherklang und alte Lieder - von Gillie - 19.04.2017, 16:05



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