FSK-18 Himmelgrau
#1
Widerlich. Einfach widerlich ist das.

Es war keine leichte Aufgabe, das Blut von der sauberen, faltenfreien Kleidung fern zu halten, vor allem nicht in der Dunkelheit. Ein Glück, dass der kleine Singvogel sich so leicht fangen und erdrosseln hatte lassen, denn ansonsten wäre Orestes' Laune noch tiefer gesunken. Durch den Wald kriechen wie ein Erdhörnchen, schmutzige, vermilbte Tiere anfassen, und das auch noch ohne Handschuhe, und sie dann - als wäre die Situation in sich nicht schon schlimm genug - auch noch mit sich zurück in die Stadt tragen zu müssen hatte er sich vor zwei Monaten im Traum nicht als eine mögliche Zukunft ausgemalt.
Einzig die Nacht und deren Dunkelheit war sein Freund, und verbarg ihn vor den Blicken Anderer. Bei einer solch erniedrigenden Tätigkeit auch noch beobachtet zu werden, hätte wohl dem Fass seines Unbills den Boden ausgeschlagen, ihn zum Gespött der Bourgeoisie gemacht, ihn das Gesicht gekostet, oder noch viel schlimmer: Ihn am Ende auf eine Stufe mit dem Pöbel gestellt.
Mit gekräuster Nase zog Orestes seinen Dolch, das einzige Familienerbstück, das er noch nicht unter der Hand verscherbeln hatte müssen, um seine Reise zu finanzieren, und machte sich daran, die ekelerregenderen Teile des toten Tiers abzuschneiden, namentlich den Kopf, die Klauen, und das Gekröse. Irgendwo in der Finsternis knackte ein Zweig, und ließ den Schwarzhaarigen mit zornstechendem Blick, blutigen Händen und gezücktem, blutigem Dolch aufsehen.
Stille.
Einige ereignislose Momente später wandte er seine unwillige Aufmerksamkeit wieder dem Vogel zu, und beendete seine Arbeit. Oh, mit dem Vorgang des Tötens oder dem Blut an sich hatte Orestes wahrlich keinen Kummer, daran lag seine Abneigung gegenüber seiner erzwungenen nächtlichen Tätigkeit sicherlich nicht.
Eher schon war es die empörende Notwendigkeit, überhaupt einen Finger krümmen zu müssen, um sein Auskommen zu finden, die ihn nicht nur des Nachts aus der Stadt trieb, sondern auch dazu zwang, sich die Hände auf diese Art zu beflecken.
Das trocknende Blut an seinen Fingern wollte ihn am liebsten alles hinwerfen und ohne Beute ins nächste Badehaus verschwinden lassen. Recht würde es dem schmutzigen Vieh geschehen, aber nach dem Rauswurf aus der Herberge am Marktplatz war der Gedanke an eine Nacht in schmutzigeren Quartieren mehr als ausreichend Motivation dazu, mit den widrigen Umständen zu leben. Es galt, die Form zu wahren, und solange niemand heraus fand, wie es dazu gekommen war, waren ihm - vorerst - alle Mittel dazu recht.
Den blutigen Kadaver in einer Hand, den blutigen Dolch in der anderen, erhob er sich und marschierte bedächtig zur nahen Flussquelle. Heißes Wasser wäre nun besser gewesen, und vielleicht auch ein großes Stück Seife, aber eine ordentliche Waschung konnte er immer noch nachholen, wenn er seine beschämende Beute verscherbelt hatte, und wieder in seinem gemütlichen Zimmer saß.

Was man tut, ist völlig bedeutungslos. Was andere sehen ist es, was uns definiert.

Orestes hatte zu viele Bücher gelesen, um sich noch daran zu erinnern, aus welchem der vielen philosophischen, naturwissenschaftlichen und romantischen Werke er dieses Zitat aufgeschnappt hatte, aber es definierte nun seit gut vier Jahren sein Leben. Es hatte ihn dazu gebracht, seinen eigenen niederen Stand als Nebensächlichkeit abzutun - als Nieder wurde immerhin nur angesehen, wer sich auf eine solche Weise verhielt. Und es hatte ihn dazu gebracht, in den Schriften des Mithrasglaubens nach Lücken und Widersprüchen zu suchen, die ihn im Auge der Kirchenobrigkeit davon abgehalten hätten, die eigenen, bürgerlichen Bande in Silendir zu sprengen.
Sehr zu seiner Schadenfreude schien es zwar Usus, den eigenen Stand zu akzeptieren und damit zufrieden zu sein, nicht aber, welcher Stand dies zu sein hatte. Demnach war es schon damals eine leichte Wahl gewesen, sich einfach für den Stand eines Adeligen zu entscheiden, und fortan die Welt zu schlichten und zu ordnen, bis sie ihre Richtigkeit - und Orestes seinen Adelstitel - hatte. Von Erfolg war dieses Unterfangen schon in Silendir nicht gekrönt gewesen, wo er dem Spott der anderen wohlbetuchten Kinder ertragen hatte müssen, und den Spott der Kinder von Leibeigenen mit fruchtlosen Prügeln und gemeinen Streichen beantwortet hatte, aber eine andere Weisheit besagte doch, dass nur Ziele, für die man ringen und kämpfen musste, auch etwas wert waren.
Es gab wohl kaum etwas, für das man mehr kämpfen und ringen musste, als für einen Adelstitel. Der beste Weg dorthin aber war ein unbefleckter Ruf, und die regelrecht magisch wirkende Fähigkeit, Geld aus dem Nichts zu erschaffen. Man musste nur wissen, wie.

Adelig wird man nicht, man ist es. Zuerst im Willen, dann in der Wahrheit.

Der erste Schritt war ein gewisses Talent zum Nichtstun. Wer zuviel arbeitete und zuviel Tagewerk vollbrachte, hart schuftete und abends müde war, würde auf Festen und Bällen nie mehr als Fußvolk bleiben. Wer tagsüber lustwandeln konnte, abends rauschend zu feiern pflegte, und gleichzeitig in der Lage schien, Kirche und Welt zu finanzieren, der war es, den man mit Bewunderung ansah.
Der zweite Schritt war ein gewisses Auftreten. Sauber, gepflegt, mit ordentlichen Manieren, einer gönnerhaften Herablassung für jene von niederem Stand, gewählte Ausdrucksweise, und ordentliche Unterkunft. Für Manieren, Ausdrucksweise, Bildung und die Fähigkeit, selbst Höherrangige mit einer gewissen geduldigen Herablassung zu betrachten, hatten seine Eltern bereits von früher Kindheit an gesorgt. Für Sauberkeit, Gepflegtheit, Unterkunft und ordentliche Speise und Trank jedoch war Orestes spätestens seit seiner protestartigen Flucht aus Silendir selbst verantwortlich, und obschon der Plan, an der Akademie der Hermetik zu studieren, immer noch der hauptsächliche Grund für seine Reise nach Servano war, so verbrachte er noch einen Großteil seiner Tage dergestalt, dass er nachts heimlich, still und leise für ein gewisses Auskommen sorgte, bis zum Nachmittag schlief, und sodenn lustwandelte, um das beschämt erwirtschaftete Geld wieder zu verprassen.
Der dritte und letzte Schritt schließlich war die Fähigkeit, genau zur richtigen Stelle am richtigen Tag zu sein, und die richtige Tat durchzuführen. Man durfte nicht zu begierig wirken, aber auch nicht zu desinteressiert. Musste den Eindruck von Zuverlässigkeit erwecken, ohne dabei wie ein Postenheischer aufzutreten. Gelassen und in sich selbst ruhend wie ein Edelmann, hatte seine Mutter es umschrieben, und keinen Tag vergehen lassen, ohne Orestes auf Mängel und Unzulänglichkeiten in dieser letzten Kategorie hinzuweisen.

Die schändlichen Vögel waren in der Stadt rasch abgestoßen, ebenso die Quarze, die er in einer Mine gefunden hatte, und bald klimperte der Beutel wieder ausreichend, um sich eine weitere ausschweifende Nacht in der Taverne zu gönnen.
Erfolg war nicht eine Frage der Herkunft, sondern lediglich des Willens. Und Wille war etwas, das Orestes ohne Zweifel zuhauf hatte.
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#2
Was auch immer der Hersteller des Kohlegriffels in sein Schreibwerk getan hatte, es musste verwandt mit Pech sein. Es war der dritte Eimer Wasser, den Orestes dafür benutzte, die schwarzen Konturlinien von den Kanten seiner Hände zu schrubben, und immer noch dachte er, einen gräulichen Schleier an seinen Händen wahrzunehmen. Zuerst Blut, dann das, es war als hätte sich die Welt der Flüssigkeiten in den letzten Tagen gegen ihn verschworen.
In regelrecht himmelschreiendem Freimut hatte er sich neue Kleidung bei der Schneiderin bestellt, unter anderem dringend benötigte Handschuhe, um endlich eine Form von Schutz zwischen sich und die dreckige Außenwelt bringen zu können, aber der Preis dafür war hart gewesen. Hart genug, um ihn beim Kauf von frischer Seife tatsächlich zögern zu lassen. Entweder Seife, oder das teure Zimmer im Marktviertel, das waren die Wahlmöglichkeiten.
Im flirrenden, geisterhaft bleichen Zwielicht des Geisterauge-Zaubers starrte er einmal mehr auf seine Hände, beide bis zu den Unterarmen im klaren Wasser begraben. Es half nichts. Er brauchte die Seife, sonst würde er in dieser Nacht sowieso keinen Schlaf finden.
Vermutlich war es die unnütze Wartezeit in der Akademie der Hermetik gewesen, die ihn dazu angestiftet hatte, eine Schneiderin und ihren Kohlestift an seine Hände zu lassen. Das wäre alles nie passiert, wenn ihm nicht langweilig geworden wäre, da war er sich sicher. Aber Langeweile forderte ihren Preis, und in diesem Fall war dieser Preis höher, als Orestes zuerst angenommen hatte. Hoch, schmutzig und abstoßend.
Seufzend warf er den Eimer um, ergoss das saubere, kalte Wasser damit auf den Boden, und machte sich mit Ingrimm im Gesicht auf den Weg zum Badehaus, wo die Seife ihn in den Ruin treiben und ihm eine Nacht in einer weniger populären Herberge abzwingen würde.
Natürlich hatte er sich seinen Auftritt in Löwenstein ruhmreicher und effizienter vorgestellt, aber nur ein törichter Narr ließ sich von kleinen Rückschlägen von seinem Weg abbringen.
Während er mit Seife und Waschbürste die letzten Spuren von Grau von seinen Händen schrubbte, beobachtete er seine eigene Miene im schwappenden Wasser. Er mochte sein Abbild, aber gerade an diesem Abend war er von seiner eigenen Schwäche angeekelt.
"Raff dich auf, such dir jemanden der dich in die Akademie einträgt, und hör auf zu jammern, Ekelbalg!" zischte er sich selbst entgegen, im nächsten Moment schon wieder besänftigt von dem wunderbar bösartigen Ausdruck in seiner eigenen Miene. Wer auf sich selbst so fuchsig sein konnte, musste einfach auf Gewinnerseite enden.
Und solange er sich vor Ende des Morgengrauens wieder aus der Herberge begab, würde auch niemand ihn dort ein und aus gehen sehen. Manchmal musste man dem Glück eine Chance geben. Solange das nicht zu häufig passierte, zumindest.
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#3
Lächeln, Nicken, Floskeln sprechen. Gesten, Verbeugungen, noch mehr Floskeln sprechen. Solange die Maske sitzt, geht es aufwärts. Aufwärts ist gut.

Niemand hatte die Striemen an seinem Rücken bemerkt. Sein Stolz hatte es ihm unmöglich gemacht, auf seine eigene Situation Rücksicht zu nehmen, egal wie müde und grantig er gewesen war, und nicht zum ersten Mal hatte die Wahl seiner maßgeschneiderten Lederkleidung ihm das Gesicht gewahrt. Wo nichts rieb, da konnte nichts schmerzen, und solange er sich im Sitzen nicht zurücklehnte, sondern aufrecht saß wie ein Besenstiel, war alles gut.
Mit gekräuster Nase warf Orestes einen Blick durch den blitzblank gewienerten Raum.
Ein Tisch, zwei Stühle, deren Lehnen mit sich räkelnden, windenden, nackten Leibern verziert waren - eine Spezialanfertigung, die er einem so gläubigen Handwerker wie Herrn Veltenbruch nicht zugetraut hätte -, eine Kommode, ein Schrank. Der Raum war exakt so aufgebaut wie die anderen Räume des Bordells, und dass sie sauber, symmetrisch und funktionell waren, dafür hatte er selbst gesorgt.
Hätte seine Mutter ihn so schrubben und wienern sehen, sie hätte ihm wohl selbst zum ersten Mal in ihrem Leben die Rute übergezogen. Putzen war eine Tätigkeit des niederen Volkes, und wenn seine Mutter etwas für ihn gewollt hatte, dann wohl, dass er so etwas niemals tun müssen würde.
Andererseits würde sie ihn wohl enterben, wenn sie erfuhr, dass er Leibeigener geworden war. Wegen schlechten Würfeln noch dazu!
Das Putzen war eine der wenigen Tätigkeiten, die Orestes tatsächlich genoss. Sauberkeit war gut, und selbst und persönlich dafür sorgen zu können, dass der Dreck auch wirklich beseitigt war, ließ ihn nachts gut schlafen. Wie einen Säugling, der vor dem Schlafengehen die Felle fünfmal bürstete, um sicher zu sein dass keine Läuse drin herum krabbelten.
Weniger erfreulich war da schon eher die Notwendigkeit, wie ein Verrückter zu schuften und zu schleppen, während sein Herr wie vom Erdboden verschluckt war. Natürlich hatte Orestes damit geliebäugelt, eines Tages ein Haus zu unterhalten, aber sicher nicht als rechtloser Untergebener, als Hauswart!
Die Prügel vom letzten Mal hatte er noch zu gut im Kopf um nicht besorgt zu sein, was wohl passieren würde, wenn sein Herr wieder kam und feststellte, dass Orestes seit zwei Tagen keinen Finger mehr gerührt hatte. Gleichwohl aber war fraglich, ob sein Herr überhaupt noch einmal auftauchen würde, und wenn, ob das Abzahlen des Hauses nicht als Begleichung der Schuld gerechnet werden könnte, die Orestes beim Würfelspiel zusammen gespielt hatte.
Mit missgünstig verzogenen Lippen verließ Orestes das Obergeschoß des Bordells, und begab sich nach kurzem Prüfen der Eingangstüren in den kleineren Wohnbereich. In spätestens fünf Tagen war die nächste Miete fällig. Entweder war er dann frei, oder so zugerichtet, dass all die gutsitzende Kleidung ihn nicht vor Schmerzen bewahren würde.
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#4
Einige Staubkörner schwebten selbstvergessen im Sonnenschein, der durch das Fenster fiel. Selbst mit gehobener Hand konnte Orestes weder die Staubkörner noch das weißgelbe Rechteck aus Licht an der Wand über sich berühren, und die Bewegungslosigkeit trieb ihn langsam aber sicher in den Wahnsinn.
Das Fieber hatte in den letzten zwei Tagen zunehmend abgenommen, aber es war nie ganz verschwunden. Hier war niemand, der ihm den Schweiß abgewischt oder die Stirn gekühlt hätte, niemand der ihm nach dem verwirrten Erwachen aus einem Fiebertraum erklärte, dass alles in Ordnung war, und niemand, der ihm zur Hand ging wenn er Durst oder Hunger hatte. Diese Dinge in seinem Zustand selbst zu erledigen hatte dafür gesorgt, dass seine Heilung sich zumindest gefühlt rückwärts bewegte, statt vorwärts, aber er wagte nicht, irgendetwas dagegen oder darüber zu sagen.
War es normal, selbst im Sterben liegend noch als Weichling bezeichnet zu werden? Orestes war sich nicht sicher, immerhin hatte er noch nie eine gewalttätige Auseinandersetzung gehabt, und war sicherlich noch nie derart schwer verletzt gewesen. Noch nicht einmal Grippe hatte er vorzuweisen, seine Mutter war dafür viel zu paranoid und besorgt gewesen.
War es normal, dass nach einer Woche immer noch jede einzelne Bewegung, ja selbst das Atmen schmerzte? Dass er sich in Fieber wand, die Wunden brannten, er sich nicht zu erheben vermochte, und mehr Wasser trank als jemals zuvor?
War es normal, dass nach einem derartigen Überfall durch einen fremden Angestellten just ein weiterer fremder Angestellter ins Haus geholt wurde? Noch dazu einer, der ebenso wenig an seinem Wohl interessiert war, wie der letzte?

Orestes verengte die Augen, warf den Staubkörnern dort oben einen finsteren Blick zu. Würde dieser Aygo Mensch ihm auch die Kehle durchschneiden und ihn aus dem Fenster werfen, wie es der letzte Hauswächter getan hatte?

Es dauerte nur wenige Sekunden, bis das Herz ihm einmal mehr bis zum Hals schlug, dort wütend in der vernähten Kehlschnittwunde pochte, und ihm den Schweiß am ganzen Körper ausbrechen ließ. Wie er es drehte und wendete, Orestes würde nicht noch einmal seine Sicherheit riskieren, nur weil sein Leibherr zu beschäftigt mit sich selbst war, um auf seinen Besitz zu achten.
Der Transport in sein Heim hatte seine Wunden kurzzeitig wieder schlimmer gemacht, und ihn für mehrere Stunden zurück in die Ohnmacht getrieben, aber auch das war schon wieder drei Tage her. Orestes befeuchtete die Lippen mit der Zungenspitze, und versuchte trotz der Hitze in seinem Kopf seine Gedanken zu sortieren. Er kannte das Innere seines Hauses in- und auswendig, es war nur eine Frage, ob er sich lange genug konzentrieren konnte, um sich daran zu erinnern, wo der Schlafmohn war, wo der Wein, wo der Kocher. Und wie zur Hölle er mit einem bösen Oberschenkelbruch dorthin kommen sollte, ohne das Bewusstsein zu verlieren, zu stürzen, und wie ein Greis im eigenen Heim zu verrecken.

Der Schlafmohn war im oberen Lagerfass links, die Phiolen am Arbeitstisch, wo auch der Kocher und der Kessel auf ihn warteten. Das Weinfass war unglücklich platziert, weit weg von den Gläsern und Krügen, aber mit ein bisschen geschickter Planung würde er den Weg minimieren können. Und wenn er zuerst den Wein besorgte, und zwei oder drei Gläser trank, würde er es vielleicht auch schaffen, sich an der Arkadenwand hoch zu ziehen und den Mohn zu holen, bevor er vor Schmerz zusammenknickte. Alles eine Frage des Willens, und davon hatte Orestes mehr als gesund für ihn war.
Das Kriechen an sich war eine besondere Art der Selbstbeherrschung, noch bevor er sich überhaupt in Bewegung gesetzt hatte. Eine Woche der fehlenden Hausarbeit hatte einige Stiefelspuren, trockene Matschklumpen und eine feine, kaum sichtbare Staubschicht auf dem Boden hinterlassen. Für normale Menschen war das Haus vermutlich immer noch in einem exzellenten Pflegezustand, aber Orestes war nicht normal. Täler aus Gift und Feuer wären für ihn wohl weniger ein Hindernis gewesen, als nackt durch den Hausstaub zu robben.
Dennoch dauerte es nur einige Minuten des Ringens - die Wahl dazwischen, von dieser neuen, fremden Person ausgeweidet zu werden, oder durch den Staub zu robben, war keine sehr Schwere.

Vielleicht bin ich nun ja wirklich endgültig verrückt.

Der Weg von vier Schritten hatte eine halbe Stunde gedauert, zumindest wenn man dem Lichtfleck an der Wand trauen durfte. Ob er zwischendurch ohnmächtig geworden war, konnte Orestes selbst nicht sagen, aber als er endlich das Weinfass erreichte, war er drauf und dran sich niemals wieder zu rühren. Die Schnittwunde am Hals und das geschiente Bein hatten es notwendig gemacht, auf dem Rücken liegend mit einer Hand und einem Bein für Bewegung zu sorgen, und inzwischen schien es auch undenkbar, in diesem Zustand Laudanum herzustellen.
Nach dem dritten Glas Wein jedoch begann der Schweiß zu verdunsten, und die Flüssigkeit belebte auch seine Gedanken etwas. Wein war eben ein schieres Wundermittel der Heilkunst, überlegte Orestes beschwipst, und füllte das Glas ein letztes Mal.
Der Rückweg zum Tisch führte zu dem einen oder anderen Weinfleck, und das Glas auf den Tisch zu verfrachten gab Orestes einen Ausblick darauf, wie es sich anfühlen würde, aufzustehen - nur halb so schlimm wie erwartet, aber schlimm genug um eine weitere Pause in Betracht zu ziehen.

Der Lichtfleck erreichte den Boden, als Orestes sich mit zitternden Muskeln an der Arkadenwand hochzog. Der pulsende, stechende Schmerz in seinem rechten Bein ließ Lichtblitze vor seinen Augen tanzen, aber solange er sich an der Wand festhielt, und so tief atmete wie es die Halswunde und die Verbände zuließen, fiel er zumindest nicht in Ohnmacht. Und nach gut zehn Minuten des Zitterns, Schnaufens und Klammerns schien sein Körper endlich missmutig nachzugeben, und der Schwindelanfall verschwand lauernd in den Hintergrund.
Den Schlafmohn blind und mit nur einer Hand aus dem Fass zu wühlen stellte sich als eine weitere Willensprüfung heraus. Gnadenkrautblätter, Stechapfelfrüchte, Grabmoos, Lavendel und Salbei wurden auf den Boden geworfen, bevor er endlich die kleinen, ovalen Kapseln ertastete, und vor Erleichterung beinahe in Tränen ausbrach.
Auf dem Weg zurück zu Boden setzte dann doch noch einmal die Ohnmacht ein, allerdings glücklicherweise erst, als sein Hintern sich schon auf den Dielen befand. Eine ordentliche Beule auf dem Hinterkopf war das einzige neue Souvenir, das er sich dabei zuzog, und auch wenn die dem folgenden Kopfschmerzen die Arbeit mit Flüssigkeit und Kerzen erstaunlich gefährlich machte, so hielt ihn dieser Rückschlag doch nicht davon ab, die Schlafmohnkapseln zu ritzen, und im Wein aufzukochen.
Am liebsten hätte er gleich dort am Tisch geschlafen, aber dann hätte dieser Fremde, Aygo, vielleicht mitbekommen, dass Orestes eine laudanumgestützte Flucht plante, und das konnte er nicht riskieren.
Die noch heiße Flüssigkeit wurde in eine kleine Tonflasche gefüllt, verkorkt, und mit bleischweren Gliedern samt zerschlagenem Körper zurück zur Liegestatt geschliffen. Sein Kopf berührte gerade einmal die vorher so unangenehmen, nun aber herrlich weichen Felle, als die Schwärze des Schlafs sich auch schon gierig auf ihn stürzte.

Nur ein paar Stunden Schlaf, bis ich mich erholt habe, nicht lange.. dann bin ich bereit. Ganz sicher.
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#5
Als er Schritte hinter sich vernimmt, geht er sogleich in die Hocke und macht sich höchst konzentriert daran, etwas Staub von dem Stiefel zu reiben. Dabei nutzt er die Handkante und arbeitet überaus akribisch über den eigentlich sauberen Lederstiefel. Ein entnervtes Seufzen verpasst seinem Tun noch ein wenig mehr Überzeugung. Nur kurz wird er von dem Passanten betrachtet, ehe dieser weiter schlurft. Schau nich so blöd, du aufgeblasenes Arschloch.

Sobald der Fremde außer Reichweite ist, streckt Aki den Rücken wieder durch und blickt zum Haus zu seiner Rechten. Seit ein paar Augenblicken beobachtet er das Haus in der Neustadt, zu dem Orestes ihn gestern dirigiert hat. Nach einer ausschweifenden Erkundung der Hausfassade, stellte sich das Haus als 'Handelshaus zur zünftigen Zofe' heraus. Die Aushänge fallen ihm immer wieder ins Auge und es grenzt schon an Reizüberflutung, wie oft er damit konfrontiert wird. Als würde so was Kunden an locken. Die Bewohner und Handwerker des Hauses scheinen dermaßen in ihre Arbeit vertieft, dass sein Geschnüffel unbemerkt bleibt. Bedauerlicherweise konnte er keine Spur von Orestes ausmachen. Eine Schnittwunde wäre vielleicht eine gute Idee gewesen, Blutstropfen geben eine hervorragende Spur ab. Aber er hatte den Kerl schon so mehr zugerichtet, als er es geplant hatte.

Wobei er sowieso in keinster Weise von Planung reden konnte. Ein Kerl mit Krücke, der sich erst bei näherer Betrachtung als Orestes heraus stellte, hatte sich Tags zuvor bei Anbruch der Nacht im alten Hafen herum getrieben. Aki hätte das Gesicht unter hunderten wieder erkannt, nur war das Bein deutlich geschient und die Stimme etwas kehliger. Im ersten Moment war er erleichtert, dass der Kerl sich nur das Bein gebrochen hatte, als er von ihm aus dem ersten Stock geschubst wurde. Zu schade wäre es gewesen, wenn das ansehnliche Gesicht dabei Schaden genommen hätte.

Während des Gesprächs zwischen den beiden, stellte sich nicht nur heraus, dass Orestes ein recht guter Schauspieler oder gar Lügner ist, sondern es auch Bestens beherrschte sich in Szene zu setzen. Er nutzt die nötige Gestik um seine Worte zu untermalen, ein Anflug von Dramatik in der klaren Stimmen, wenn es nötig ist. Darüber hinaus wirkt der Kerl überaus gepflegt und akribisch darauf bedacht, jede Falte in der Robe zu glätten und trotz des unübersehbaren Hinken so aufrecht wie möglich und mit leicht erhobenen Kinn voran zu schreiten. Insgeheim wünschte sich Aki während des ganzen Gesprächs ein paar mehr Makel an dem angehenden Krüppel. Das zurück gekämmte, rabenschwarze Haar lenkt den Blick aus den stahlgrauen Augen immer wieder in das hübsche Gesicht. Die gepflegte Haut, die von nahezu keinem hartnäckigen Bartstoppel verunstaltet wird, die fast weibischen Lippen und doch zerstört das immer wieder aufflackernde, boshafte Schimmern in dessen Augen den ach so perfekten Anblick.

Hätte er früher gewusst, wie ausgehungert er mal wieder ist, hätte er die ein oder andere Maßnahme ergriffen. Aber nein, wie immer fiel ihm das viel zu spät auf. Gedanklich ermahnte er sich immer wieder, dass man so keine Verhandlungen führt. Orestes machte zwar einen wachsamen Eindruck aber nicht verängstigt. Nach dem Angebot von dessen Seite war sich Aki zwar nicht mehr sicher, ob er es nicht doch mit einem vollkommen Wahnsinnigen zu tun hat, aber dumm ist Orestes keines falls. Vermutlich war dieser sogar fähig in den zwar wütenden, aber verräterischen stahlgrauen Augen zu lesen, was es zu lesen gab.

Erst als sich die Wege getrennt hatten, wagte er nochmals über Orestes' Worte nachzudenken. Der Plan ist Irrsinn, völlig egal wie sicher Orestes sich seiner Sache ist oder wie ausgeklügelt dessen Vorgehen sein mochte. Aber irgendwo hat der Kerl auch Recht, sein Ruf ist einfach nur beschissen und was hat er schon zu verlieren. Sobald es um waghalsige Aktionen geht, die einen geflogenen Schub Adrenalin versprechen, ist er sowieso angetan.
Orestes hatte den ersten Schritt gewagt und nach ihm gesucht, schwer zu sagen warum genau ihn, aber in gewisser Weise schmeichelt ihm diese Tatsache. Also ist es vielleicht an der Zeit den Sturkopf kurzzeitig abzuschalten und über seinen Schatten zu springen. Was hatte der Löwe schon zu befürchten, wenn er mit dem Zebra verhandelt? Vor allem wenn die Beute bereits verletzt ist.
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#6
Irgendwo in der Finsternis, irgendwo dort draußen im Nebel und der Herbstkälte, abseits der feuchtglänzenden Pflastersteine, abseits der flackernden Laternen, die leise quietschend im Wind schaukeln, sind zwei Menschen gerade glücklich.

Orestes stand an dem selben Fenster, an dem Sherion nur eine kurze Zeit zuvor gestanden war, und blickte hinaus auf die Straße. Er wusste nicht, was Sherion dort gesehen hatte, aber Orestes fand nichts Interessantes, bis auf die Gestalten, die im Ganterhaus gegenüber im letzten Lichterschein am Fenster vorbei liefen.
"Sherion vom sonnengeleckten Haar..." wisperte er dem Fenster zu, bevor er sich davon abkehrte, und der leeren Flasche auf dem Tisch einen finsteren Blick zuwarf. Geleckt, nicht geküsst, denn zweiteres wäre zu milde als Bezeichnung für diesen kleinen blonden Teufel gewesen. So wie die wenigen Worte des Mannes sein Blut in Wallung bringen hatten können, musste der metaphorische Dämon durch den Kerl geistern!
Warum er dennoch nicht einfach glücklich sein konnte mit dem was er hatte - namentlich einen weiteren blonden Teufel namens Ceras -, würde Orestes wohl so schnell nicht verstehen. Manche Menschen schienen regelrecht verloren ohne eine Prise Unzufriedenheit.

Und irgendwie fanden sie ihren Weg früher oder später zu Orestes.
Es mussten fast zwei Stunden gewesen sein, die er sich mit Hochgenuss von Sherion peinigen hatte lassen, ohne dass einer von beiden jemals seinen Sitzplatz verlassen hätte, und eigentlich hatte Orestes geglaubt, ein halbwegs zusammenhängendes Bild der Probleme bekommen zu haben. Kaum aber waren sie dem Rosenkrieg entgegen getreten, da waren die Flammen des Unglücks gleich erneut über die zwei Engel hergefallen.
Und all die Zeit hatte Orestes die stille Schuld der Eifersucht geplagt. Einfach traumhaft.

Beinahe so traumhaft wie die neuen Nachbarn. Aki und Marek, Marek und Aki. Von allen Häusern war ausgerechnet das neben deren Hort freigeworden, und nun spähte Orestes jeden Tag erst einmal durch alle Fenster und aus einer schlitzweit geöffneten Türe, bevor er sich - bewaffnet mit Umhang und Gugel - aus dem Haus wagte. Mal sah er einen der Beiden, mal Beide, mal Fremde, die blind und ahnungslos in ihr Unglück liefen, und danach tagelang im Haus verschwunden blieben. Entgegen seiner normalerweise völlig obszönen Neugier war dieses Haus das einzige, in dem er niemals eine Fliege an der Wand sein wollte. Zwei Beinbrüche, eine geschlitzte Kehle, und ein paar zumeist unangenehm endende Begegnungen später war er immer noch unsicher, ob ein Heim mit Dach über dem Kopf die Gefahr überhaupt wert war. Das letzte Haus hatte ihn auch nicht schützen können, dafür hatten sich seine ganz persönlichen Probleme mit Kontakt zu Fremden nur noch verschlimmert.
Und nach der letzten Begegnung mit Marek war es nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder versuchten ihn umzubringen, nur dass sie diesmal vermutlich wirklich Erfolg haben würden.

Natürlich hätte Orestes damals zur Stadtwache gehen können, aber wozu? Sie alle waren korrupt, genauso wie sein aktueller Arbeitgeber korrupt war, und seine Anzeige wäre vermutlich nicht mal bis zu den Akten gekommen, bevor sie als Klopapier geendet hätte. Jeder einzelne Verbrecher in dieser Stadt hatte mehr Kontakt zur Stadtwache, als ein unbescholtener Bürger, und wie der Stadtrat diesen Zustand untätig mitansehen konnte, würde ihm auf ewig ein Rätsel bleiben.
Zumindest auf die Kirche schien allerdings Verlass, und in so einer seltsamen Stimmung, wie er sie gerade empfand, schien das nächtliche Kirchenschiff genau der richtige Ort, um seine Gedanken zu sortieren. Herauszufinden, was er an Aki fand. Herauszufinden, was mit Marek zu tun war. Und diese irrige Faszination mit Sherion abzuschütteln, bevor er die hart erkämpfte Selbstbeherrschung und damit gleichzeitig die einzige Freundschaft verlor, die er hatte.
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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#7
... "Dann sind wir hier fertig." sagte der wohlgekleidete, etwas abgelenkt wirkende Mann, der sich als Godwin Ganter vorgestellt hatte, und steckte seine Schreibtafel weg.
Orestes nickte doppelt. Es war eine wahrhaft surreale Situation.
Während der Stadtrat in seiner Geschäftsstube stand, sich umsah und von Bucheinkäufen sprach, versteckte sich keine fünf Schritte hinter ihnen ein Mann, der das Wohlwollen des Ganters ganz offensichtlich erst kürzlich überspannt hatte, und nun indirekt und unaufgefordert dafür sorgte, dass diese missliche Situation nicht auf Orestes zurückfiel.
"Natürlich, Herr Stadtrat. Hier, nehmt dieses Buch als kleines Kundengeschenk, damit ihr euch von der Qualität meiner Arbeit in Ruhe überzeugen könnt." erwiderte der junge Buchbinder mit der besten gebildeter-Händler-Stimme, überreichte das makellos gefertigte, unbenutzte Notizbuch mit einer wahrlich zeremoniellen Geste, und unterdrückte ein Zucken, als er das leise, eigentlich kaum wahrnehmbare Knarren der Trenntüre zum Hinterraum hinter sich vernahm. Sein Kunde würde es vermutlich nicht einmal aus nächster Nähe wirklich wahrnehmen, denn hier unten herrschte zu diesen Nachmittagsstunden ein regelrecht durchgehender Lärmpegel, der nur von nervenstarken Frühaufstehern ausgehalten werden konnte. Aber Orestes hörte es, und malte sich für die nächsten Atemzüge diverse Horrorszenarien aus, in denen Godwin auf irgendeine Art den versteckten Gast bemerkte, und sofort alle Handelsgedanken verwarf.
Nicht, dass die Ganters wie jene Art Leute wirkten, die ihre Handelspartner wegen Besuch von Männern wie Aki Duran fallen ließen...
Die Türe fiel hinter dem hohen Stadtrat ins Schloss, und für einige Momente nahm Orestes sich die Zeit dazu, dem eigenen heftig hüpfenden Herzschlag zu lauschen, und sich zu erfreuen dass der Blutmuskel nicht stehen geblieben war vor Schreck. Erst dann wandte er sich langsam herum, sah zur Hintertüre und fuhr sich mit einer Hand ordnend durch das Haupthaar.
"Du kannst wieder rauskommen." erklärte er der schlitzweit geöffneten Pforte, und beobachtete mit neuen Augen, wie der muskelbedeckte Schatten sich aus dem Zwielicht seiner Privatstube schälte. Man sah es dem Schmied nicht an, wie schnell und lautlos er sich bewegen konnte, aber gerade zuvor hatte Orestes es mit eigenen Augen beobachtet. Schockierend war noch dazu, dass Aki die schüttere Situation schneller analysiert hatte als Orestes selbst, und einfach reagiert hatte... bis Godwin die Stube betrat, hörte man nur noch das hastig-leise Klicken der anderen Türe.

Es sind die kleinen, unauffälligen, schwer zu erkennenden Dinge, die den größten Wert haben, und den größten Schaden anrichten.

All die großartigen Gesten, die Aki zuvor mit den Ganters, der Ganterpriesterin, Simreck und der Stadtwache aufgeführt hatte, waren in diesem Moment egal, faktisch wertlos für Orestes. Welchen Wert hatten auch Dinge, die er nicht selbst sehen konnte? Nein. Das hier, diese eine Angelegenheit für sich bewies ihm besser als alle Versprechungen und Erzählungen, dass Aki Duran in der Lage war, nützlich zu sein, ein Instrument zu sein, vielleicht sogar der lange Schatten, den jemand hinter sich brauchte, wenn er zügig der Sonne entgegen schritt.
Dass diese neu entflammte Erkenntnis und das damit einher gehende Interesse seine gerötete Wange nicht weniger prickeln ließen, tat nichts zur Sache. Was waren schon Ohrfeigen gegen Verbündete? Ein guter Tausch, sonst nichts. Vor allem dann, wenn dem Täter die Ohrfeigen so gut gefielen wie ein Strauß Blumen, und das Opfer Verbündete dringender als alles andere auf der Welt benötigte.

Vielleicht war auch etwas daran an Akis Philosophie zu Schmerzen, denn dass er nicht ganz unrecht hatte, konnte Orestes zumindest noch an der druckempfindlichen Halsbeuge spüren. Allerdings schien auch an der grüngiftigen Eifersucht etwas daran zu sein, denn während Orestes' Kopf noch von dem Gedanken schwirrte, die "klingende Münze" mit zu betreiben, und somit unbeschränkten Zugang zu einer Lokalität praktisch um die Ecke zu haben, da war sein Gönner - Sherion - bereits dabei, den Biss an seinem Hals mit empörten Augen zu mustern. Man konnte dem Schmied - noch ein Schmied, als sei es Kismet - regelrecht ansehen, wie in ihm der Zorn über die Wilderei durch einen Fremden mit der durchaus anregenden Phantasie zu Prolog und Epilog des Bisses rang, und für einen langen Moment war Orestes nicht sicher, ob Sherion ihn nun beleidigt vor die Türe setzen oder nur seine Kleider beschädigen würde.
Nicht gerechnet jedoch hatte er damit, zu einer Übernachtung genötigt zu werden, die Felle statt des Betts und diverse schnarchende Körper statt einer Decke beinhaltete.
Und auch nicht gerechnet hatte er damit, bis zum Morgengrauen so eingeklemmt schlafen zu können... oder zu müssen.

Was für eine surreale Situation.
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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#8
Vor einem Ultimatum zu stehen war keine schöne Sache.
Im eiskalten Dampf des Morgennebels blickte Orestes auf das Schreiben in seinen klammen Fingern hinab, und vergaß für einige Momente sogar das Zittern, das ihn den ganzen Weg von der Kreuzwegtaverne bis zu seinem Heim begleitet hatte. Ein wenig vergaß er sogar die Kälte, obwohl seine unablässig rinnende Nase ihn eifrig daran zu erinnern wusste, wann immer er gerade noch geglaubt hatte, dass das letzte Schniefen sich des Problems angenommen hatte.
Ja gut, vielleicht war es kindisch gewesen, Sherion am Vortag einfach in Orestes' eigenem Haus stehen zu lassen, aber das erklärte nicht, wie er diesen Brief verdient hatte, oder was zur Hölle die drei Teufel geritten hatte, seine Türe einschlagen zu wollen, wenn sie doch gewusst hatten, dass Orestes nicht daheim gewesen wäre. Sherion hatte ihn doch selbst gehen sehen, oder nicht?

"Wenn du Rache suchst, schaufle zuerst zwei Gräber." murmelte er vor sich hin und faltete den Brief, bevor er mit tauben Fingerspitzen gegen die drei Türschlösser rang, die ihn vor genau solchen Übergriffen wie den auf dem Papier beschriebenen schützen sollten. Erst als er die gleiche Kälte, wenn auch weniger klamm, im Inneren seines Hauses betrat, und die Türe abschloss und mit einem Balken verriegelte, setzte das fröstelnde Zittern wieder ein. Verdammter Herbst. Verdammter Sherion, und verdammter Aki. Wäre er nicht so ausser sich gewesen, wäre er nicht nur mit Wams bekleidet aus dem Haus gestürmt.
Während er die Stiefel an der Türe abstriff und zügig ins Privatzimmer ging, um sich dort in eine wärmende Robe zu hüllen, konnte er nicht umhin, in Gedanken immer wieder zu der gerade noch abgewendeten Katastrophe vom Vorabend zurück zu gehen.
Marek, Emilius und Gil hatten also seine Türe mit Äxten aufbrechen wollen. Warum Marek so etwas tun wollte, glaubte Orestes bereits recht gut zu wissen - was gab es schöneres für diesen Schurken, als Orestes einmal mehr leiden zu sehen, und sich an seinem Leid zu ergötzen? Da spielte Sherions Kummer vermutlich keinerlei Rolle, und all die Behauptungen, Orestes selbst sei ja ein Freund, waren einmal mehr widerlegt worden - um seinen Kummer kümmerte Marek sich seiner Meinung nach nicht.
Emilius, der glänzende, wunderbare, makellose Ritter in der silbernen Rüstung, den jeder anzubeten und zu bejubeln schien, war Orestes gestern das erste Mal begegnet, und er hatte sich das Recht heraus genommen, den Kerl alleine deshalb nicht leiden zu können, weil alle anderen ihn so in den Himmel lobten.
Und Gil... war Orestes sowieso nur als streitlustig, schlecht gelaunt und gewalttätig in Erinnerung geblieben, da war es kein Wunder dass er bei einem Wildfremden die Türe einschlagen wollte, wenn zwei andere sich schon so herzhaft dafür einsetzten.

Andererseits war da noch Aki. Aki der eindeutig gemacht hatte, dass er Orestes für sich alleine haben wollte. War dieser Brief ein Versuch, ihn von seiner Gruppe zu spalten, wie es ein Wolf bei Schafen machen würde? Wieso hatte Sherion plötzlich den Raum verlassen wollen, nur weil Aki gekommen war? War irgendetwas passiert, von dem Orestes bis zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst hatte?
Das Papier in seiner Hosentasche knisterte leise, als er sich mit einem Becher heißen Met an seinen Tisch setzte, als wolle es ihn auf seine eigene Dummheit hinweisen. Vielleicht hatte er sich ja auf einen Schlag alle Bekanntschaften verspielt, indem er sich gestern Abend so gehen hatte lassen. Vielleicht hatte Aki Recht mit dem Ansinnen, alle Gefühle zu verdrängen, und zu ignorieren. Nichts von alledem wäre passiert, hätte Orestes nicht das erste Mal seit dem Umzug nach Löwenstein die Kontrolle bewusst aufgegeben. War es ein Fehler gewesen?

Leise schniefend nippte er am Met und warf den Fenstern dunkle Blicke zu. Aus Fehlern lernte man bekanntlich, und es war Zeit, aus diesem zu lernen. So schmerzhaft es auch werden mochte.
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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#9
Anderthalb Tage. Sechsunddreißig Stunden. Zweitausendeinhundertundsechzig Minuten. So lange dauert es, um ein Leben komplett umzukrempeln. Hm. Selbst ein Wandfackelhalter brennt länger.

Die Räume waren noch ungewohnt, genauso wie der lange gemisste Ausblick, an dem man sich nur ergötzen konnte, wenn man im ersten Stock eines Gebäudes lebte. Rauhreif und Schneereste hingen an den halb erneuerten Schindeln des alten Glockenturms, und warfen das helle Licht des Vollmonds wie trübe Spiegel zurück, harsch gegen den dunklen Hintergrund des Schiefers hervorstechend. Orestes lehnte die Stirn an das unebene, altehrwürdige Bleiglas des Fensters, und starrte hinaus in die hell-dunkle Nacht.
"Ratsherr." murmelte er dem Fenster bedächtig zu, wie man es normalerweise nur tat, wenn man nicht sicher war ob etwas gut schmeckte oder nicht. Vor nicht einmal zwei Tagen hatte er in einer ebenerdigen Wohnung gelebt, die gerade groß genug gewesen war, um mit strategisch platzierten Wandfackeln von dem schieren Kellergefühl abzulenken, den so gedrängte, verbaute Gebäude wie die Pierhäuser nur zu gerne erweckten. Und nun stand er im ersten Stock eines manierlich anzusehenden Altbauhauses mit Ausblick auf eines der ältesten Gebäude der gesamten Stadt, halbnackt und verwirrt, und konnte sich selbst kaum erklären wie er dahin gekommen war.
Von der unerfreulichen Angelegenheit mit Aline, die zu einer noch unerfreulicheren Angelegenheit mit Magdalena Jehann und kurz darauf ihrem Handlanger Njal geführt hatte, bis zu der Kandidatur zum Ratsherren und schließlich dem Umzug in dieses herrliche Haus war keine ganze Woche vergangen, und wenn er es wagte, den gesamten Monat in seine Überlegungen mit einzubeziehen, dann war das Volumen der Überraschungen und plötzlichen Ereignisse schier überwältigend.

"Oft schläft erst ein am Morgen sacht, wer sich des Nachts noch Sorgen macht." Meine Mutter und ihre skurrilen Weisheiten verfolgen mich nun sogar in die Schlaflosigkeit.

Die Scheibe knackte leise als Orestes den Kopf davon ab hob, und einen Blick hinüber zur angelehnten Schlafzimmertüre wagte. Dort drinnen lag das Ergebnis eines Ultimatums und eines über Monate hinweg gepflegten heimlichen Sehnens, und trotzdem konnte er sich nicht erklären wie zum Geier er es geschafft hatte, im selben Haus zu enden und im selben Bett zu schlafen. Er war sich sogar sehr sicher es nicht verdient zu haben, und obschon er sicherlich die letzte Person war, die einem geschenkten Gaul jemals ins Maul schauen würde, so wollte er bei all dem Genuss und der Zufriedenheit doch niemals dazu übergehen, ein Geschenk des Elysiums einfach so anzunehmen. Solche Geschenke kamen zumeist mit gar unangenehmen Nebenwirkungen, und es brachte Orestes' Nacken zum Kribbeln, dass diese Nebenwirkungen bislang noch nicht ihr hässliches Gesicht gezeigt hatten.
Er war stellvertretender Zunftleiter, er hatte sein lange wie einen Schatz gehegtes Syndikat aufgebaut und Mitglieder dafür gefunden, hatte das erste Mal etwas, das man "Beziehung" schimpfen konnte, und nun war er Ratsherr, und doch... immer noch wollte die nagende Sorge ihn nicht los lassen.

Vielleicht war es die Art, wie er sich endgültig von Aki Duran losgesagt hatte, und die Endgültigkeit mit der er dies getan hatte. Aber es war notwendig gewesen, hatte er doch die Wahl zwischen Aki und dem Rest seines Lebens und seinen Freunden gehabt.
Vielleicht war es aber auch die Gehässigkeit und tiefe Boshaftigkeit, die er für einen Moment in Magda zu sehen geglaubt hatte - nicht umsonst hieß es, dass man sich mit den Jehanns nur anlegte, wenn man einen gratis Sarg haben wollte.
Höchstwahrscheinlich aber war es einfach die Furcht vor dem Versagen, gekoppelt mit Orestes' Selbstkenntnis. Wie sollte ein neurotischer, dürrer, selbstverliebter und junger Narr wie er denn jemals einen guten Ratsherren abgeben? Konnte man als Ratsherr denn einfach so tun als ob man wüsste wovon man sprach, in der Hoffnung dass niemand das Gegenteil herausfinden würde?
Allein der Versuch einer Überlegung dazu, wieviele Dinge er in Zukunft beachten müssen würde, trieb ihm den kalten Schweiß auf die Stirn und ließ ihn sehnlichst von einer von Mareks Kräutermischungen träumen, aber nicht einmal das würde er sich nun ohne Gefahr gönnen können. Man stelle sich nur vor, jemand würde ihn taumelnd und mit trübem Blick vor dem Haus herumschlurfen sehen. Wenn er nicht der Verseuchung bezichtigt und auf die Insel geschleppt werden würde, so würde man sich doch zumindest erzählen, dass der Herr Stadtrat heimlich am Gemüse zupfte.

Eine einsame Saatkrähe auf dem Dach des Glockenturms unterbrach seine wirren, müdigkeitsgeprägten Gedanken mit spöttischem Krächzen, und ließ ihn instinktiv vom Fenster zurück weichen. Alte Gewohnheiten ließen sich nur schwer innerhalb von einem Tag abschütteln, und Fenstergäste hatten ihn in seiner alten Wohnung nur zu oft belästigt. Nicht dass es die Krähe interessiert hätte, dass ein bleicher, knabenhafter Kerl an einem Fenster stand und eine Miene wie ein vergessener Ziegenbock machte...
Mit leisem Seufzen schlich Orestes die Treppe hinunter, und sah sich in seiner neuen, aber viel zu stillen Stube um. In der gestrigen Nacht hatte er Federn sortiert, bis sie der Größe nach und mit der Außenseite nach oben in sieben Stapeln dagelegen hatten, aber heute hatte Sherion alle Federn schon fortgeschafft. Und bei Orestes' Ordnungszwang lag nicht viel herum, auf das er sich stürzen hätte können.
Kurz sah er überlegend hinüber zu seinem Stapel mit Bestellungen, und der klobigen Tischbuchpresse, aber seine Neurosen hätten ihn niemals schlampige Arbeit produzieren lassen, also fiel auch das aus.

Der Teppich war es schließlich, der seine Aufmerksamkeit zu fangen verstand. Winzige, festgetrocknete Erdklümpchen hingen an manchen Stellen, wo der Jure von Mittag mit seinen nicht ganz perfekt gereinigten Stiefeln über seinen Teppich marschiert war. Perfekt.
Die nächsten drei Stunden würden Fenstergäste in der Bogengasse Nummer drei nichts anderes als einen auf dem Boden herumkriechenden Halbnackten sehen, der mit einer Buchbinderpinzette Erdklumpen aus dem Teppichgewebe zupfte, und in einer Schüssel sammelte. Und vier Stunden später war vom nächtlichen Spuk nichts mehr zu bemerken, und selbst Sherion hatte einen unerschütterlich vor sich hin träumenden Leib neben sich, der genauso gut die ganze Nacht dort gewesen sein hätte können.
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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#10
Er starrte an die Wand, das Gemäuer..das..irgentetwas.. nur etwas das ihn ablenkte von den Gedanken.. von allem..
Wieder einmal war er aufgesprungen, hatte sich losreißen und alles hinter sich lassen wollen. Dicht zog er die Decke über sich.. hatte er sie sich selbst übergelegt? Er war sich nicht sicher..
Die Erinnerungen kamen stoßweise zurück und er wimmerte leise als sie sich ihm Stück um Stück aufdrängten. Er raffte sich auf, das Bett war leer.
Er wollte sich schon erheben da sah er den schmalen Körper vor der Türe sitzen. Ein erneuter Schub aus Erinnerungen durchflutete ihn und er umschloss den eigenen, nackten Oberkörper mit den Armen.
'Scheiße..'
Flüsterte er leise in die Stille. Eine Hand stützte er an die Stirn, die andere griff zum zweiten Bettlacken und zerrte es mit sich. Die Decken wurden auf und unter dem Körper drapiert, so, dass dieser zumindest nicht fror und eine halbwegs angenehme Haltung einnehmen konnte.

Er versuchte erst garnicht an ihm vorbeizuschleichen.. er wollte es auch nicht. Hier war ihr Heim, hier wollten sie sich etwas aufbauen.. eine Zuflucht..eine Familie vielleicht.. irgentwann.

Sherion schluckte hart und setzte sich neben ihn, lehnte sich dicht an den schlummernden Leib.
'Ich tu dir Unrecht..verzeih..'
sprach er mehr zu sich als zu sich selbst.
'Was hilft das ganze Absichern..wenn ich selbst nicht sicher bin..was..'

Er rieb den Kopf an seiner Stirn und flüsterte sanft.
'Sprechen wir morgen... ja.... ?'
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