FSK-18 Himmelgrau
#21
Wenn das Grinsen weh tut, dann hast du es vielleicht übertrieben.
Die Straßen Löwensteins waren zu Beginn des Tauwetters ein gar trister Ort, voll von Pfützen, diesem sandigen, halb nassen, halb trockenen Schlamm, kleinen Tierleichen, die das Tauwetter nicht mehr erleben durften, und kahlen Bäumen. Sicherlich, die ersten Knospen streckten zögerlich ihre Fühler aus dem Holz, aber noch waren die Nächte zu kalt und das Wetter zu unstet, um eine wirkliche Frühjahrsblüte zu forcieren.
Es war wahrlich kein Wetter, um pfeifend und grinsend durch die Straßen zu ziehen, aber irgendein Scherbenhaufen in Orestes' Brust ließ ihn einfach keine andere Miene machen. Die letzten Wochen hatten seine Welt kippen, knicken und knittern lassen, das wohl, aber statt von der Kante zu rutschen und in irgendein bodenloses Loch zu fallen, hatte sein Verstand sich den Unebenheiten einfach angepasst. Und ähnliche Knicke in sein sonst so geradliniges Wesen geformt.
Da war Serbitar, der ihn seit Wochen mit dem verschreckten Blick eines vom Kanonendonner verschreckten Kriegshundes beäugt hatte. Jedes Zusammentreffen war irgendwie unangenehm gewesen, sei es weil der Baron ihm Befehle gegeben hatte, das Denken für ihn zu ergänzen, seine Meinung zu einem Thema gefordert hatte, das Orestes schon vor Ansprache zuwider gewesen war, oder seine Meinung ganz schlicht dort umschifft hatte, wo Orestes tatsächlich etwas ausrichten hätte können. Freundschaft, die auf Geschäftlichem - und sonst nichts - beruhte, war keine Freundschaft. Dazu gesellte sich die Verderbnis, die der ehemalige Baron, nun Lehensritter Servanos, über die einzige anständige Person in der Kirche gebracht hatte. Eine Hochwürden zu verführen, und das bevor er sie geehelicht hatte, unerhört!
Eylis, die neue Angetraute von Serbitar, war es nun auch, die Orestes in die nächste Kluft seiner knittrigen Welt stürzte. Sie war eine herzensgute Person, das hatte Orestes schon im ersten Gespräch festgestellt, aber nicht naiv. Ein herzensguter Mensch, der in einer Welt wie Amhran bestehen konnte, musste abgebrüht, argwöhnisch und kaltblütig an Dinge heran gehen, und diese Linie war keine, die man leicht begehen konnte. Geradezu neiderfüllend war es, Eylis bei ihrem Seiltanz zu beobachten, und selbst zu wissen, dass man im selben Kunststück versagt hatte. Dennoch, irgendetwas an der Kombination von Serbitar und Eylis ließ Orestes nicht mehr ruhig schlafen. Es war nun nicht so, als hielte er Serbitar für einen schlechten Menschen, mitnichten. Es war eher so, dass er die Unberechenbarkeit des Lehensritters zu gut kannte, seine schwankenden Gemütsregungen, seine witterungsbedingten Umschwünge. Er ahnte, konnte es regelrecht auf der Zunge schmecken, wie dieses Temperament und des Lehensritters guter Kern jemanden wie Eylis früher oder später vom Weg abbringen würden. Eylis, die sich der Schlechtheit der Welt schon lange bewusst war, und ihre Entscheidungen entsprechend informiert traf, hatte sich für den Lehensritter entschieden. Und eine Entscheidung würde zur nächsten führen, und zur nächsten, und eine jede dieser Entscheidungen würde sich auf der letzten begründen, bis der Grund, der Bodensatz des moralisch Möglichen erreicht war, und auch diese herzensgute Person an Amhrans Gesellschaft zerbrach.
Der Schwenk in die Neustadt brachte das Gluckern des Kanals mit sich, der zumindest in diesem Stadtteil, so dicht an der Quelle, für frische, klare, saubere Luft sorgte, anstatt die Gassen mit dem Gestank von Abwasser zu erfüllen. Das Grinsen hielt sich, das Pfeifen ebenso.
Dann waren da noch Nicolas und Morkander, und ihre Idee. Er mochte die Idee, sehr sogar, sie passte wunderbar zu seinem knittrigen Geist. Die Landschaft schleifen, die Gesellschaft schleifen, hinter sich verbrannte Erde lassen, und zum Teufel mit jenen, die darunter leiden würden. Warum auch nicht? Es war der Weg der Welt, es war jenes Verhalten, das er seit Jahren beklagte und doch nicht aus seinem Umfeld vertreiben konnte, warum also sollte er sich nicht mit den anderen in die Fluten stürzen? Der Gedanke daran, wie die schieren Andeutungen jener Gedanken dafür gesorgt hatten, dass die Egoisten seines Freundeskreises von einem Moment auf dem anderen plötzlich darauf beharrten, dass Orestes das doch nicht tun könne weil er ein guter Mensch sei, machten das Grinsen auf seinem Gesicht nur breiter. All diese selbstsüchtigen Köter hatten all die Monate darauf vertraut, dass Orestes als selbstloser Mensch kostenfrei und zu jeder Tages- und Nachtzeit jedermann für jedes Thema zur Verfügung stand, und ignoriert werden konnte, sobald es um seine eigenen Probleme ging. Natürlich wollte keiner eine so bequeme, angenehme Vereinbarung riskieren, aber das hielt Orestes nicht länger davon ab, die Wünsche seiner "Lieben" und "Vertrauten" zu ignorieren.
Da war auch niemand mehr, der ihn auf dem rechten Pfad halten konnte. Kein Sherion, kein Servok, kein Ceras, kein Irik, sie alle hatten sich entweder dem Grabe, oder aber anderen Dingen zugewandt. Die Stadt hatte beschlossen, alle in den selben Sack zu stopfen und mit dem Knüppel darauf zu schlagen, bis auch der letzte Heller heraus kullerte, und bis auf die angenehmen Fußwege und die flüchtige, oberflächliche Gesellschaft hielt Orestes sonst eigentlich nichts in dieser Stadt. Selbst das Schöffenamt war inoffiziell zum Witz erklärt worden, das vom Adel und der Kirche jederzeit ignoriert und übergangen werden konnte, sobald etwas Wichtiges, Ruhmversprechendes anstand. Was hatte er also zu verlieren?
Nichts.
Das Grinsen erlosch, allerdings nur um dem leisen Pfeifen Platz zu machen, das ihn dieser Tage auf jeden Weg aus der Stadt zu begleiten schien. Es war keine bekannte Melodie, zumindest nicht außerhalb der Kreise von Guldenacher Hafenhuren, aber sie war eingehend. "Meinem Liebsten den Dolch" war ein verrufenes Lied, und eines, das selbst den betrunkensten Freier in einen hurtigen Lauf fort von den Gelbbändlerinnen entsandte.
Auch die kleinen Menschen hatten scharfe Klingen in ihren Gewändern, und wehe dem, der sie heraus forderte.
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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#22
Die stetigen Reisen zwischen Ravinsthal und Servano hinterließen zunehmend ihre Spuren an Orestes; die Hosen saßen enger als sonst um die Oberschenkel, die Stiefel zeigten die ersten Kratzer, und die Wahl der Kleidung wurde mit jeder Reise dünkler und dünkler, aber nie gänzlich schwarz. Schwarz und Straßenstaub vertrugen sich nicht gut, genauso wenig wie schwarz und Trolleingeweide.
Dennoch, die stetige Aktivität hatte auch ihr Gutes. Alleine der Wunsch danach, sich nicht mehr die Sohlen durchlaufen zu müssen, hatte Orestes auf die Spur einer Idee gebracht, die ihn entgegen allen Einsiedlertums tatsächlich dazu anregte, seine Kollegen zu kontaktieren.
Inzwischen hatte er ein ganzes Notizbuch mit Skizzen und Zeichnungen, Notizen und Aufgaben gefüllt, die ihn nicht nur zwischen Ravinsthal und Servano, sondern auch durch die einzelnen Baronien pendeln ließen. Zwar mit noch wenig Erfolg, aber der würde früher oder später eintreten, und alles was er tun musste war Warten. Er hatte bisher immer Erfolg mit Geduld gehabt, besonders mit-

Wir haben in seligen Nächten
Blutsaumige Küsse getauscht,


Mit einem Zucken und einem Schaudern vertrieb er den Gedanken, wischte mit dem Finger über die zwei Zeilen am Rand des Notizbuchs, wo seine Hand sich verselbstständigt hatte.
Dies war weder die Zeit noch der Ort, darüber nachzudenken! Nein, viel wichtiger war es, Morkander zu finden, und den Baron Jehann abzupassen. Sie hatten Teile des Rätsels, jeder für sich, jeder wohl behütend, und der nächste größere Schritt würde es sein, diese Teile aus ihnen heraus zu kitzeln und nieder zu schreiben.
Und natürlich die Sinnlosigkeiten alter Textfragmente zu entziffern; oh wie er sich nicht darauf freute!
Die Meisten dieser Papierstücke waren kaum zu entziffern, oder wahlweise in einem Chiffre geschrieben, den er weder kannte noch lesen konnte. Kryptische Fliegenfußabdrücke waren es, seiner Meinung nach!

[Bild: e6409abe1ca4d1bf086474c758310b3b.jpg]

Wir haben in stöhnenden Wonnen
Die hungernden Seelen berauscht.


Wann zur Hölle hat sich das hier eingeschummelt?
Mit einem Knurren strich Orestes die Worte durch. Seine Handschrift auf antikem Pergament, hingekrakelt wie ein übler Nachgedanke. Ein Sakrileg war es, auf solche Texte zu schmieren wie ein Schuljunge!
Manchmal wünschte er, seine Mutter hätte ihm den Kopf nicht mit Gedichten und Geschichten gefüllt. Manchmal wünschte er, dass er nicht gerade die romantischen Texte auswendig gelernt hätte. Manchmal wünschte er, keine so lebhafte Erinnerung zu haben.
Die Worte waren trotz des Durchstreichens noch lesbar. Sein Mundwinkel hob sich, die Finger fuhren die Zeichen abgelenkt nach, wieder und wieder. Lebhafte Erinnerung war seine Crux. Manche Dinge waren so klar und deutlich vor seinem inneren Auge, als seien sie erst gestern geschehen. Andere Dinge begannen langsam zu verschwimmen, während sie unwichtiger und unwichtiger wurden.
Sherion verschwamm nicht, konnte nicht verschwimmen, aber all die kleinen Momente, die Streitigkeiten, der Geruch ihres Zuhauses in der Nachmittagssonne, die verschwanden. Machten Platz für etwas Anderes.
Jemand anders.

Wir liebten uns bis zur Erschöpfung
Und liebten auch dann uns noch fort,


Diese Worte schrieb er absichtlich auf seinen rechten Unterarm, mit einem Federkiel und in altblauer Tinte. An einen Ort, wo er sie mit einem einfachen Hochkrempeln jederzeit wieder sehen konnte. Mit einem schrägen Schmunzeln zupfte Orestes den braunschimmernden, teuren Stoff seines Ärmels wieder über die nackte Haut, bedeckte die unschickliche Kleckerei auf seiner Haut, wie er es damals als Junge getan hatte.
Alles an diesen neuen Erinnerungen war klebrig und schmutzig, kleckrig und dreckig, warum also nicht auch in dieser Art verewigen?
Mit einem unwirschen Ächzen schloss er die Augen, lehnte sich in seinem bequemen Arbeitssessel zurück und grub die Hände in das inzwischen wieder schulterlange Haar, geduldheischend zur Zimmerdecke aufblickend. Nun war es getan, es gab keinen Weg mehr an dem Gedicht vorbei, ohne die letzte Zeile zu verewigen. Es unvollständig zu lassen hätte ihn nur in die Schlaflosigkeit getrieben, und das einzige Mittel gegen Schlaflosigkeit war zu weit weg um leicht darauf zuzugreifen. Und außerdem beschäftigt.
Die Augen huschten umher, betrachteten die Umgebung, die Papiere vor sich, die frischen Notizen in dem kleinen Buch neben dem Stapel von Antiquitäten, und schließlich sich selbst. Das schräge Schmunzeln wurde zu einem breiten Grinsen. Ah, ja. Dort.

Doch niemals entglitt unsren Lippen
Ein einziges zärtliches Wort.


In einigen Stunden würde die Pflanzenfarbe genug eingezogen sein, um ein paar Wäschen zu überleben. In einigen Tagen würde jemand die Worte entdecken, und in einigen Tagen würde das Gedicht endlich vollständig sein. Geduld und Warten, sie machten das Leben erst lebenswert.

* Schweigend - Felix Dörmann (1870-1928)
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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#23
"Wütend?"
Die Fähigkeit des Schmieds, ganze Sätze in einzelne Worte zu packen, war stets aufs Neue verblüffend.
Irgendwo draußen knarzte ein Fensterladen im milden Wind, noch weiter entfernt konnte Orestes die Brandung gegen die steilen Klippen unter dem Rabenhort rauschen hören, unablässig, unnachgiebig. Schlimmer als sein eigener Herzschlag, schlimmer als das Tropfen der durch das Dach sickernden Regentropfen gewesen war, schlimmer, weil das Meeresrauschen keinen Rhythmus hatte.
"Warum sollte ich wütend sein?" fragte Orestes und kraulte sich ein Stück Bauch, das unter dem antrocknenden Schweiß zu jucken begonnen hatte. Die Spuren auf dem Rücken würden noch für Tage sichtbar sein, ähnlich der Gedichtszeilen, die er sich auf die Haut geschmiert hatte, nur eben nicht mit genügend Wasser und Seife abwaschbar. Anders. Seltsam.
Nein, er war nicht wütend. Es war einfach gewesen, die Kontrolle zu behalten, oder eher, sich daran zu erinnern, als die Stimmung umgeschwungen war. Jahrelange Übung, jahrelange Beherrschung, jahrelanges Perfektionieren seiner Masken hatten sich endlich als nützlich erwiesen. Der kleine Sieg, die kleine Bestätigung all seiner Marotten und Zwangsstörungen, schmeckte ein wenig bitter auf der Zunge, aber das war nicht Akis Schuld, sondern seine eigene. Immerhin war es nicht Aki gewesen, der ihn auf den Gedanken des alles kontrollierenden Herrschers der Welt gebracht hatte, sondern seine Mutter.

Jawohl, Mutti ist schuld.

Nicht wütend, nein. Unsicher. Verunsichert ob des Gedankens, einmal mehr als Sieger hervor zu gehen. Ein dummer Gedanke, das wusste selbst Orestes selbst, denn als Verlierer hervor zu gehen hätte bedeutet, dass er irgendwo in einem flachen Loch verscharrt worden wäre, und vergessen werden würde, aber trotzdem, die Verunsicherung wollte nicht weichen. Das einzige Zeichen von Versagen trug er auf seinem Rücken, und hasste es mit seliger Inbrunst. Die Reichsritterin hatte damals gnadenlos zugeschlagen, wie es sich für eine Strafe gehörte, und die Striemen waren immer noch unter bloßer Hand fühlbar und sichtbar.
Sonst.. nichts. Die Narbe an seiner Kehle war mehr ein Zeichen des Siegs denn der Niederlage, und ansonsten hatte er nicht viel aufzuweisen. Der Vogtsposten? Freiwillig abgegeben. Die Akademie? Jene Wogen hatte er geglättet, als sei seine Hand ein Bügeleisen. Die Kirche? Seit er keine Posten mehr hatte, war es ein Leichtes, ihr zu entgehen.
Keiner leistete Widerstand, keiner zog die Linie vor ihm. Orestes zog die Linien, jedes Mal aufs Neue. Und nun sollten ihm auch die Narben genommen werden... Was hatte er noch zu leben, wenn es keine Widrigkeiten mehr zu besiegen gab?

Mit einem Seufzen räkelte er sich gegen die dösende Gestalt neben sich und schloss die Augen. Er hatte ja gesagt zu Akis Idee, aber das hieß nicht, dass dieser sich diesen Teil von Orestes' Vergangenheit ohne Kampf aneignen können würde. Nein, dieses Mal würde Aki derjenige sein müssen, der die Kontrolle behielt, sonst würde er leer ausgehen. Durch die Finger schauen. Oder Orestes beweinen, nachdem er ihn umgebracht hatte, ganz unabsichtlich natürlich. Irgendwo tief in seinem Kopf lachte ein kleines, feines Stimmchen irre gackernd vor sich hin, kaum mehr als ein Fliegensummen in dem sonstigen Sumpf an Planungen, Gedanken, Abschätzungen, Taktiken und Schachspielen, und leicht zu ignorieren.
Es war nicht klug, Aki fortlaufend zu provozieren, statt einfach zu genießen, den tollgewordenen Hund mit dem proverbialen Stock zu pieken, aber wenn es sonst keine Berge zu besteigen gab, was sollte er tun?

Was Sherion tat. Von einer Klippe springen.

Mit einem heftigen Kopfschütteln rollte Orestes sich herum und klammerte sich enger an den Leib neben sich, leise aufknurrend.

Niemals.
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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#24
'Wasch dir die Hände, Orestes! Was sollen die Nachbarn denken wenn sie dich so
sehen? Und mach nicht dieses Gesicht, ich habe lange genug Geduld gehabt mit
deiner Krakelei. Schau dir nur deine Fingernägel an, überall Farbe!'

Mit einem leisen Zähneknirschen zog Orestes den Eimer Seifenwasser näher, tauchte die Bürste ein und schrubbte weiter an einem der überaus hartnäckigen Brandflecken, der sich unter der Wandfackel zwischen den Auslagen gebildet hatte. Akis Haus war ein Albtraum. So ganz konnte er sich nicht erklären, wieso ihm all diese kleinen Details bisher nicht aufgefallen waren, aber mit der schauderhaften Stimme seiner Mutter in den Ohren war es schwer, den Staub, das Öl, die Flecken und den Ruß nicht zu sehen. Also putzte er.
Die Auslagen mit den Waren waren schon längst ausgewischt, die Ausstellungsstücke poliert, geölt und in nervenberuhigender Symmetrie ausgelegt, die Spinnweben entfernt und die Wände feucht gewischt, aber die Teppiche und der Boden mochten sich dem Putzwahn noch nicht so recht beugen, von dem Werkzeug gar nicht zu reden.
Besagte Teppiche waren im öffentlichen Waschbereich aufgehangen worden, und tropften nun sauberweiß-schaumiges Wasser, nachdem er sie in dem Wäscherbecken geschrubbt und gespült hatte, aber der Ravinsthaler Volkssport trieb ihn trotzdem dazu, immer dann zu einem der Westfenster zu hechten, wenn durch die geöffnete Türe Schritte erklangen; es wäre überaus ärgerlich gewesen, wenn sein Reinigungsdrang dazu führte, dass Akis Einrichtung gestohlen wurde. Das Fegen an sich war auch einfach gewesen, zumindest einen Besen hatte er ja gefunden. Was sich jedoch als hartnäckig erwies, war das Waffenöl, die Brandflecken und der Straßenschmutz, der über Monate hinweg zwischen die Steine und Dielenbretter getrampelt worden war, und sich nicht sehr kooperativ präsentierte.

'Es reicht! Die Staffelei wird verheizt, gib mir den Pinsel! Wenn dir langweilig ist,
wenn du zuviel Zeit hast, dann kommst du in die Schule! Wir betreiben vielleicht
ein Bordell, aber wir sind keine Wilden die im Dreck leben müssen! Sieh dir das an,
überall Flecken... Wasch dich, und dann schrubbst du den Boden bis er aussieht
wie neu!'

Die Bürste half, aber nicht genug. Akis Werkzeug für das Abschaben von Ruß und Erde zu benutzen erschien ihm wie ein zu großes Risiko, also benutzte er sein Stiefelmesser, wo der Dreck sich zu sehr festgesetzt hatte. Selbst die Stiegen waren mit einem feinen Film Öl überzogen, das Wasser im Löschfass schmutzig, und dann waren da noch die Scherben und Holztrümmer im ersten Stock... Soviel zutun, so wenige Stunden Zeit.
Mit jedem Gang den er durch die offene Türe in das nächtliche Tor durchführte, wuchs die Pfütze auf der Straße etwas mehr und versickerte träge und leise knisternd im durstigen Erdreich. Mit jedem Gang verschwand etwas mehr von dem Charakter des Innenraums hinaus in die Mülltonnen und den Boden, verbreitete den milden Geruch von Lavendel und Gnadenkraut, bis schließlich alle Wände, Böden, Fenster, Fensterbänke und Oberflächen gewischt waren.
Mit einem erleichterten Aufatmen lehnte Orestes sich gegen den Treppenabsatz.

Nun kann die eigentliche Arbeit endlich beginnen.

Am nächsten Morgen war von Orestes keine Spur mehr zu finden... bis auf die geschrubbten, polierten, geölten Werkzeuge, die in einer perfekten Linie neben dem Amboss aufgereiht auf einem schneeweißen Lappen lagen - ein Lappen, von dem Aki sich vermutlich genau erinnern können würde, dass dieser zuvor ölig, fleckig und mit Ruß bedeckt gewesen war -, die polierten, symmetrisch und nach Größe sortierten Werkstücke in den Auslagen, die blendend sauberen, exakt parallel ausgerichteten Teppiche mit ihren exakt frisierten Teppichfransen, die gebürsteten, gewaschenen, sauberen Felle, der gewienerte Boden, die sauberen Wände, die gewischten Regale, die in exakt gleichgroße, glatte Bündel gefaltenen Kleidungsstücke - wusste Mithras wo Orestes sie alle ausgegraben hatte -, das nicht nur frisch befüllte, sondern auch innen und außen geschrubbte Löschfass, der geschrubbte Badezuber, die exakt aufgereihten Badezutaten, die der Größe, der Thematik und dem Alphabet nach sortierten Bücher, die fehlenden angebissenen Speisen, die polierten Gläser,...

Nur auf dem Tisch, da stand zentriert und in einem (gereinigten) Krug bewässert eine einzelne Blume, zusammen mit einem Stück Papier, auf dem stand:

"Wenn du etwas nicht mehr findest,
ersetze ich es dir."
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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#25
Ich habe so lange gerastet, dass ich mir wie ein Anfänger vorkomme.
Manchmal war es der Atem anderer Menschen, der nötig war, um einen müden Leib wieder mit Leben zu erfüllen. Orestes war für gewöhnlich nicht auf solcherlei Energieraub angewiesen, aber irgendetwas - und sei es nur die Aufeinanderfolge von Verlusten - hatte ihm schleichend das Rückgrat gebrochen, und das so heimlich, still und leise, dass es ihm erst aufgefallen war, als selbst das Verlassen des Hauses zu mühsam wurde.
Das große, leere, triste Haus, viel zu massiv für eine Person, viel zu weitläufig für ein einziges Geschäft. Ein Glück dass er es losgeworden war.
Und tatsächlich, die schiere Wahl eines neuen Heims, das bloße Überlegen, wo was hinkommen sollte, und wie er es wohl am Besten einrichten möge, reichte aus um sich fast wieder wie zuvor zu fühlen. Bevor Servok verschwunden war. Bevor Sherion gestorben war. Dass ein Haus in der Größe von einem Drittel seiner vorherigen Unterkünfte einen solchen Einfluss haben konnte, das hatte er nicht erwartet. Dass der Umzug in ihm allerdings auch den Drang wecken konnte, sich wieder auf das politische, soziale, intrigante Parkett der Gesellschaft zu wagen, das war ihm in seinen kühnsten Träumen nicht in den Sinn gekommen.
Die Altstadt mit ihrem etwas sumpfigen, hölzernen Eigengeruch präsentierte sich wie ein altgeliebter Handschuh; einmal angenommen, stülpten sich die alten Lebensweisen - und die Lebenslust, die Gier - übergangslos über seine Seele und rissen ihn mit sich. Flüsterten in sein Ohr, wie sinnlos es war, all die kleinen und großen - eher großen - Erinnerungsstücke an Sherion und Servok aufzuheben. Raunten ihm zu, was zum Geier er denn mit über fünfzig Fässern gut abgelegenem Alkohol wolle. Mit all den Möbeln, mit dem Skelett von drei Häusern, gestapelt und für die Ewigkeit konserviert. 'Wirf es weg', flüsterte sein Kopf. 'Wirf es weg, schmeiß es fort.'
Am Ende war es allerdings nicht der Müll, sondern die Marketender, die Karrenweise Waren erhielten, die ob der Erntezeit nicht unbedingt Aufsehen erregten. Maische, Gerstenschrot, Honig, Kirschen, büschelweise Getreide, und leere Fässer soweit das Auge reichte. Genug um eine ganze Stadt zu versorgen, und doch nur ein Bruchteil dessen, was Orestes für lebenswichtig erachtet und daher aufgehoben hatte. Mit jeder Fuhre fühlte er sich leichter, befreiter und mehr wie ein Teil von Löwenstein als zuvor.

Der Atem anderer Menschen. Aki spielte die größte Rolle von allen, aber der Umgang mit Aki war wie der Umzug in die Altstadt, etwas, das von selbst kam, von selbst blieb und so natürlich erschien, dass Orestes keine Lernkurve verspürte.
Ganz anders war die Situation mit Fremden, mit Mitmenschen, Mitbürgern, anderen Einwohnern, oder Besuchern. Dort fühlte er sich hölzern und verspannt, als würde er einen Muskel beanspruchen, den er lange nicht mehr benutzt hatte.
Es musste die Entwöhnung sein, die Orestes so argwöhnisch gegenüber dem weitgereisten Krieger machte, eine andere Erklärung konnte es nicht geben. Der Mann war höflich, gelassen, wohlerzogen und eloquent, bar jedem Hauch von Unbill oder Hader, ein Archetyp für jene Personen, mit denen der junge Schöffe sich am Liebsten umgab. Und dennoch... dennoch.
Das Haus war eingerichtet, so gut man ein Haus einrichten konnte, wenn man schon lange den Überblick über die eigenen Habseligkeiten verloren hatte. Kleine Lampen, Kerzen, Wandfackelhalter erhellten die Nacht und Orestes' unruhige Wanderung durch den ersten Stock. Eigentlich hätte er sich nun müde, befriedigt und bereit für eine ruhige Nacht fühlen sollen, aber da war etwas, das ihn nicht losließ. Ein Wort, das der Mann gesprochen hatte, das an seinem Hinterkopf kitzelte wie eine Ameise im Hosenbein, und doch wollte und wollte ihm der Geist nicht hörig sein. Er wusste genau dass er den Ausdruck bereits einmal gehört hatte, aber es musste lange genug her sein, um mit dem Rest der jugendlichen Lehrstunden verschwommen zu sein.
Mit einem unzufriedenen Seufzen stoppte der frischgebackene Hausbesitzer neben seinem Bett und warf einen scheelen Blick zu den Fenstern. Morgen würde er in die Bibliothek gehen, sich umsehen, umhören. Irgendjemand musste wissen woher der Ausdruck kam. Rosenviertel.
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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#26
"Also, wie krank ist meine Großtante nun wirklich?"
Es war zum Haarereißen. Hätte Orestes sich ein Leben gewünscht, das aus turbulentem Auf und Ab bestand und stetig vom Wetter abhängig war, wäre er Seemann geworden, statt Schreiber in einer Großstadt. Dennoch wusste sich seine Familie zu den ungünstigsten Momenten aufzudrängen, und ihn mit einer Selbstverständlichkeit herum zu kommandieren, die er bei jedem anderen Menschen unverfroren befunden hätte.
"Sehr, sehr krank. Es ist die Brust, wisst ihr?" Der Candarische Heiler sah so ernst aus der Wäsche, wie ein nach Schafdung riechender Großvater in einem schmutzigen Nachthemd es nur konnte. Zugegeben, eigentlich war es eine Robe, aber das machte die Flecken am Saum und der Brust, wo der Lammbraten aus dem klebrigen Bart getropft war, nicht weniger. Die Art, wie er am Eingang zu Großtante's Haus herum druckste, vermittelte eine Mischung aus Unwillen und Eifersucht, die nicht so recht zu den wohlriechenden Kräutertöpfen neben ihnen passen wollte. Und da behaupteten alle, dass die Candarier das Leben gelassener und ruhiger angingen, pah!
Orestes hätte dem Mann zu gern seinen Willen gelassen. Wäre gerne fort spaziert, statt pflichtbewusst mit dem Fremden um den Eintritt in das großtantische Haus zu schachern, aber... aber. "Und sie hat nach explizit mir gefragt, ja? Seid ihr sicher, euch nicht verhört zu haben?"
Der bärtige Alte spitzte die Lippen und richtete sich etwas auf, als sei denken und blockieren zur gleichen Zeit zuviel Aufwand. "Sofern ihr keinen Cousin in Servano habt, der ihr das Herz gebrochen haben soll, bin ich mir sicher."
Arroganter, selbstzufriedener Dorfmetzger. Die Gedanken schafften ihren Weg nicht an Orestes' Lächeln vorbei. "Dann wäre es doch von Sinn, wenn ihr mich zu meiner darbenden Tante bringt, statt Maulaffenfeil zu halten, nicht wahr?" erwiderte er mit schneidend charmantem Lächeln und einem trägen Augenaufschlag, der einer Frau vermutlich besser zu Gesicht gestanden wäre. Der schockierten Reaktion des Heilers nach hatte Orestes dessen Ursprung für die latente Abneigung ihm gegenüber allerdings richtig identifiziert; der Mann fuhr zusammen, verzog die Miene unglücklich und scheuchte ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung durch den schlagartig passierbaren Eingang.
Das Hausinnere war kühl, aber stickig von Räucherungen und dem Geruch nach ungewaschener, alter Person. Seine Tante hatte schon zuvor nicht mehr soviel auf Wäschen gegeben, unter anderem, weil sie nicht mehr mobil genug war, um sich selbst zu schrubben, und zuviel pompösen Stolz in der Brust trug, um sich von anderen waschen zu lassen, aber dem Geruch nach war selbst das Experiment mit den stetig intensiver werdenden Parfüms und Mundwassern inzwischen den Weg alles Sterblichen gegangen.
Und natürlich thronte die Großtante in ihrem ausladenden Himmelbett wie eine verblichene Königin, gelehnt auf wahre Stapel von Kissen, die ihren voluminösen Körper mühsam in eine halbwegs erträgliche Form drückten. Sein Anblick war genug, um sie in einen Choral von kläglichen, leisen Wimmerlauten ausbrechen zu lassen, der seinen Eintritt in den Raum begleitete wie eine Ballade den Eintritt der Königinmutter.
"Orestes mein liebes Kind! Mein Herz schmerzt so fürchterlich seit deinem letzten Besuch, es mag mir glatt aus der Brust springen," krächzte die alte Schachtel jämmerlich genug um den alten Heiler in eine milde, leise Panik zu versetzen, und die Räucherschalen frisch zu befüllen. Der Rauch legte sich auf Orestes' Rachen ab wie Galle.
"Hast du mich zurück gerufen, um unser Gespräch fortzuführen, Großtante?" fragte er mit bemüht sachlichem Tonfall. Das letzte Gespräch hatte um genau zu sein niemals wirklich stattgefunden. Orestes hatte Aki erwähnt, und den Fakt dass er niemals eine Ehefrau heimbringen würde, und seine Tante hatte ihm daraufhin den Mund verboten und kein Wort mehr gesprochen, bis sie sich sicher gewesen war, dass er seine Lektion gelernt hatte, und diese schmutzigen Dinge nicht mehr zur Sprache bringen würde.
Die Tante ächzte und rückte sich zurecht, und nur der Rauch der brennenden Harze verhinderte, dass Orestes unter dem Schwall von Körpergeruch allzu offensichtlich würgen musste. Dem listigen Blick im Gesicht der Alten nach wusste sie genau um seine Gedanken diesbezüglich. Pure Berechnung. "Es ist nun ein Mond gekommen und gegangen, mein Lieber. Was auch immer für Anwandlungen, Anfälle, Launen, wie du es auch nennen magst, du hattest, sind doch nun sicherlich vorbei, oder nicht?"
"Nein, Tante. Alles ist unverändert."
"Ich werde nicht mehr lange zu leben haben, mein lieber Junge, der Heiler befürchtet schon das Schlimmste. Wirst du mir einen letzten Wunsch erfüllen, auf meinem Sterbebett?"
Orestes schlitzte die Augen. Eine Falle, und eine blatante noch dazu. Sagte er ja, würde sie fordern dass er eine Frau heiratete, und Orestes nahm seine Schwüre sehr ernst. Sagte er nein, würde früher oder später Wort zu seinen Eltern gelangen, dass er seine Großtante ins Grab getrieben hatte, und was bisher nur eine halbe Enterbung war, würde ein Verstoß aus der gesamten Familie werden. Tantenmörder.
Es galt, sich Zeit zu kaufen.
"Ich bin bei Nacht und Nebel auf ein Ross gesprungen und so schnell hierher geritten wie ich konnte, liebe Tante," log er mit einem verkniffenen Lächeln, "Lass mich dich doch erst einmal umsorgen, den Haushalt auf Vordermann bringen, eine Suppe für dich und den Heiler kochen, damit ihr beide etwas wohler ruhen könnt, und dann sprechen wir über ernste Dinge, ja?"
Nicht dass Orestes kochen konnte - oder wollte -, aber zumindest das Haus konnte eine ordentliche Reinigung wohl vertragen. Das letzte Hausmädchen hatte seine Tante verjagt, nachdem sie vom Tafelsilber gestohlen hatte, und seitdem schien niemand mehr einen Lappen, einen Besen oder sonstiges Werkzeug des Pöbels angefasst zu haben. Und dem Chaos nach würde es einige Tage dauern, bis er seiner Tante wieder gegenübertreten musste. Mit etwas Glück war ihm bis dahin eine gute Taktik eingefallen, oder zumindest eine Ausrede.
Die Idee schien zumindest seiner Tante wohl zu gefallen, und sie entließ ihn kurze Zeit später mit einem benevolenten Nicken aus der gestankerfüllten Kemenate.
Und dafür habe ich nun Aki kommentarlos versetzt. Orestes seufzte schwer. Na, besser jetzt als in einem Jahr. So wie es hier stinkt will ich das Haus sowieso nicht erben.
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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#27
Es ist der Wind um Mitternacht,
Der leise an mein Fenster klopft.
Es ist der Regenschauer sacht,
Der leis an meiner Kammer tropft.

Es ist der Traum von meinem Glück,
Der durch mein Herz streift wie der Wind.
Es ist der Hauch von deinem Blick,
Der durch mein Herz schweift regenlind.
(*)

Er weiß nicht, wie schön er ist. Er weiß, wie schön er ist. Ich möchte ihn beschädigen. Nein, anbeten. Die Felle waren eine verschwitzte Masse unter Orestes' Rücken geworden, und kein noch so ruheloses Herumrollen konnte den Juckreiz noch lindern. Herbst und Frühling hatten diese Eigenschaft; draußen war es zu kalt für adrette Kleidung, zu feucht für Stoff, zu lind für Leder, und in den Häusern war es ähnlich. Heizte man, so wurden Heim und Herd zu einer Sauna, wie sie nur ein Nortgarder zu schätzen wissen konnte. Heizte man nicht, so fror man bitterlich und fing sich nur allzu leicht irgendeine Lungenseuche ein. Aki benötigte keine Heizung. Esse und Kochstelle taten alles, was zur Beheizung seines neuen Heims nötig war, und gerade im Keller schien kein offenes Fenster etwas an der stetigen Wärme ändern zu können.
Nicht dass die Wärme nur Nachteile hatte. Der Schmied hatte sein Bettzeug abgeschüttelt, und wäre mehr als Lampenlicht auf die Schlafstatt gefallen, hätte sich wohl ein Lichterspiel auf dessen schlafwarmem Rücken zugetragen. Ohhh, dieser Anblick... Inzwischen kannte Orestes jede Kurve an dem Leib neben sich, jede Narbe, jedes Grübchen, jede Ader, und doch war es schier unmöglich, seiner müde zu werden. Schier unmöglich, dem Drang ihn anzufassen nicht nachzugeben, obschon des Schmieds' Unwillen gegenüber solcherlei Getatsche durchaus ausreichte, um eine unsichtbare Grenze zu ziehen, die nur im Notfall überschritten wurde.
Manch' einer hätte Akis Temperament wohl als unleidlich beschrieben. Er war nicht der einfachste Mensch, stachelig wie ein ausgemergelter Igel und dazu mit genug Körperkraft gesegnet, um Hänflinge wie Orestes ohne Mühe über dem Knie zu brechen. Wie lange Orestes Aki's Leben nur aus sicherer Distanz beobachtet hatte, dem Kribbeln in den Fingern resolut die Tat verboten hatte, vermochte er selbst kaum zu sagen, aber er war nicht naiv. Er hatte Aki's andere Seite kennengelernt, die Narbe an seinem Hals und das leichte, kaum sichtbare Hinken würden ihn für den Rest seines Lebens daran erinnern, wie wichtig es war, nicht blind und blauäugig in die Pranken des reizbaren Mannes zu laufen. Rielaye, Marek, Rahel, Marie, und Mithras allein wusste wieviele andere hatten sie kennengelernt, die Pranken, den schraubstockartigen Griff, die Mordlust.
Orestes schauderte und biss sich auf die Unterlippe, das dämliche Grinsen mit schierem Schmerz unterdrückend. Oh nein, er war weder blind noch naiv. Er hatte genau bekommen, wonach er sich gesehnt hatte. Was war da schon etwas Angst um sein Leben? Würze, das war es. Verdorbene Würze auf einer Hautlandschaft, die ihm regelmäßig den Speichel im Munde zusammen laufen ließ.
Die Erinnerung an den Moment, an dem Aki festgestellt hatte, dass Orestes eindeutig kein verstaubter, verklemmter und hölzerner Gelehrter war, trieb immer noch wie klebrig-süßer Honig durch seine Erinnerung. Dass sich diese milde, verhaltene Überraschung jedes Mal wiederholte, wenn die adrette, aufgeräumte, saubere Kleidung den Weg zum Boden fand, machte das Spiel nur noch verlockender. Und Streit? Streit war nichts. Ein Krümel auf dem Bettlaken, leicht fortgewischt und ohne Bedeutung, wenn es zur Tat ging. Unwesentlich.
Der schlafende Leib auf den Fellen gab ein träumendes Knurren von sich, wälzte sich minimal und streckte einen Arm zur Seite, bis die träge kriechenden Finger Orestes' Knie berührten, kaum mehr als ein Kontakt der Fingerspitze zur Haut. Dort hielten sie inne, zufrieden mit dieser minimalen Nähe, und überließen Orestes und seinen nachdenklichen Blick wieder sich selbst.
Was, wenn er es nicht so sieht?
Die eiskalte Furcht, die von diesem Gedanken allein in seiner zuvor so verträumten Brust erweckt wurde, war schockierend. Ja, was wenn Aki es nicht so sah?
So sehr er dem Schmied versprochen hatte, seine Taktiken nicht mit ihm zu benutzen, Orestes konnte eben doch nicht aus seiner Haut. Hatte geschickt gefragt, gelauscht, beobachtet, sein Wissen sortiert, im Stillen seine Pläne geschmiedet, und einen Pfad zurecht gelegt. Einen wichtigen Pfad. Den Pfad des wahrscheinlichsten Glücks, jenen Weg, der ihm Aki am Längsten erhalten würde. Eine Taktik, mit der er all jenen Stolpersteinen auszuweichen gedachte, die seine Vorgänger zu Fall gebracht hatten. So wenig persönliches Interesse er für Rahel oder Marie hegte, so wenig ihn deren Schicksale berührten, so wichtig war es ihm gewesen, ihre Geschichten zu kennen. Nicht ihre gesamten Geschichten, nur jene Teile, die mit Aki zutun hatten. Wie sie mit ihm gewesen waren, woran sie zerbrochen waren, welche Spuren diese Geschehnisse am Schmied hinterlassen hatten... Das übliche neurotische Nachstellen eben. Doch so sorgsam er gewesen war, etwas fehlte in seinem Wissensschatz. Streit. Er wusste nichts darüber, zumindest nicht in Bezug auf Aki, und das bedeutete entweder, dass er mit ihnen nicht gestritten hatte, oder aber, dass Streit ein derart unangenehmes Thema war, dass es nicht zur Sprache kam.
Mit einem trockenen Schlucken gab Orestes auf, schloss die Augen und legte seine eigene Hand auf Akis im Schlaf ausgestreckten Arm, still und innig hoffend dass die Berührung ihn nicht weckte.
Konnte er ohne explosive Streitgespräche leben? Nicht wirklich. Nicht dass er es so wollte, es passierte eben immer wieder. Aber vielleicht war es möglich, den heutigen Abend zu reproduzieren? Die aufgestauten Spannungen in Richtungen zu lenken, die keine Scherben hinterließen? Die andere Wahl war, den explosiven, sadistischen Schmied zu verlieren. Der Gedanke ließ ihn ironisch aufschnauben.
Mit einem letzten, sehnsüchtigen Blick auf den Schwung des nackten Rückens, auf Schatten und Licht und die nachlässig verstreuten Strähnen, streckte er sich wieder aus und rückte dichter an den Schlafenden, die Augen mit einem leisen Aufseufzen schließend.
Ich weiß zwar nicht wie ich soviel Glück haben konnte, aber ich werd's nun sicher nicht vermurksen. Nicht schon wieder.

(*) Friedrich Wilhelm Nietzsche
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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