FSK-18 Himmelgrau
#11
Irgendwo in der Finsternis, irgendwo dort draußen im Nebel und der Herbstkälte, abseits der feuchtglänzenden Pflastersteine, abseits der flackernden Laternen, die leise quietschend im Wind schaukeln, sind zwei Menschen gerade glücklich.

Die Kälte war stets ein Fluch für jemanden ohne Fleisch an den Rippen, und biss sich bis in die Knochen fest. Die Gelenke stachen und ächzten unter jedem Schritt den Orestes durch den frostigen Nachtwind tat, und selbst der Chaperon den er sich in weiser Voraussicht eingepackt hatte konnte dem Schmerz in den Ohren keinen Abbruch tun. Er hätte genauso gut wohl nackt hinaus in die Nacht ziehen können, und Mithras allein wusste wie die Nortgarder so eine Kälte für mehrere Monate ertragen konnten.
Unter anderen Umständen hätte Orestes sich nicht einmal aus dem Haus gewagt und lieber mit einem guten Buch das Heil am Feuer gesucht, aber in letzter Zeit war besagtes Haus zu einer Buschfalle geworden. Nicht dass er Sherions Anwesenheit nicht genoss, denn das tat er, aber ihre Kommunikation schien eher verhext als vorhanden - Abend für Abend pünktlich zur Jurenstunde brach ein Streit aus, oftmals über die lächerlichsten Themen, und endete nur zu oft mit zuschlagenden Türen und der schmerzlichen Absenz eines der beiden Einwohner.
Die schiere Erinnerung daran ließ Orestes das Gesicht zu einer grantigen Fratze verziehen und sich wie ein nasser Hund schütteln.

Nicht daran denken.

Im frostnackten Dickicht abseits des Weges erklang ein Knacken, und ließ den dick vermummten Mann automatisch nach der silbrig funkelnden Kette an seinem Gürtel greifen. Nicht dass Orestes frei von spitzen Gegenständen war, die man einem zornigen Fuchs in die Eingeweide treiben konnte, aber wozu nach dem Dolch greifen, wenn man soviel mächtigere Waffen zur Verfügung hatte?
Stumm wanderten die Augen über den Waldrand, versuchten in der Finsternis und dem Kältenebel etwas auszumachen, und beinahe hätte der ausgehungerte Wolf ihn auch überrascht, wäre der Waldrand dichter am Weg gewesen. Die Finger schlossen sich fester um die Silberkette, während die andere Hand sich dem Wolf fast lockend entgegenreckte, und der Instinkt den Körper in eine Ausfallstellung zurückfallen ließ.
Die Kälte um sie herum durchdrang den Leib des Wolfes, als die Magie den gezischten Worten des hageren Kerlchens gehorchte, und im nächsten Moment traf ein kindskopfgroßer Stein den pelzigen Schädel des Untiers, brach ihm den Schädelknochen und entsandte ihn leblos auf den Boden.
"Ich wünschte, meine Probleme wären so einfach und ehrlich wie du," murrte Orestes nach einigen Momenten des lauernden Abwartens, und richtete sich wieder auf.

Aber das sind sie nicht, nicht wahr? Keine drei Wochen hast du gebraucht um alles zu ruinieren woran dein Herz hängt, wie immer.

Mit einem Zähneknirschen griff Orestes an den Dolchgriff, und versuchte seine eigenen Gedanken zu ignorieren während er das Tier ausnahm. Es war so lange so still gewesen, dass Orestes beinahe schon Hoffnung zu hegen gewagt hatte, dass die nagende Stimme in seinem Kopf endlich verschwunden war, aber ein solcher Luxus war Verrückten nicht gegönnt.
Ihr Auftauchen war auch der letzte Beweis den Orestes dafür gebraucht hatte um endlich auch selbst wahrzunehmen, dass es mit ihm bergab ging. Steil bergab. Er schlief kaum, er aß kaum, und die Zeit die er wach - oder besser in einem theoretisch wachen Zustand - verbrachte, verwendete er darauf, sich um seine Beziehung mit Sherion Sorgen zu machen, Aygo in Gedanken umzubringen, oder aber sich mit Sherion zu streiten. Und damit trieb er nicht nur sich selbst in den Tod, sondern - viel schlimmer - Sherion von sich fort.
Es wurde Zeit etwas zu ändern. Zeit, sich wieder daran zu erinnern dass er sein Leben nicht als behäbiger Ehemann verbringen wollte, sondern... als Höheres.

Zeit sich an die Macht zu erinnern.
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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#12
Was ist das eigentlich, Liebe?

Wintermorgenröte hatte etwas an sich, das an ein Flammeninferno erinnerte, und trotzdem nicht die Kälte des Schnees und Eises draußen missen ließ. Es malte sich blassrosa und orange auf die helle Haut des Schlafenden, wie es das Licht des Bleiglases in der Kapelle des Friedhofs auf einen Dahingeschiedenen tat - bunt und farbenfroh, und doch mit einer Nuance, die an das kalte, wartende Grab erinnerte.
Orestes mochte die Farben nicht, weder auf sich selbst, noch auf dem facettenreichen Rücken neben ihm, denn sie waren trügerisch und verlogen. Keine Leichen in diesem Haus, weder im Keller, noch unter den Dielen, oder im Bett. Das Aufstehen stellte sich als neue Herausforderung dar, ließ ihn mal die Luft anhalten, mal schwankend nach dem Fußbrett des Betts haschen, aber schlussendlich konnte nichts und niemand, weder Mensch noch Glas noch Ungemach, ihn vom Fenster fernhalten, wo die roten Vorhänge sich willig vor den Sonnenaufgang zerren ließen.
Ebenso willig, wie andere Dinge...
Die silbernen Reife um die Fußgelenke klickten und klackerten leise und zuerst dumpf als sie gegen das Holz des Bettrahmens prallten, dann scharf und klar, als sie gegeneinander rieben, und ließen den nun in milddunkles Rot getauchten Rücken instinktiv etwas zucken. Die Dunkelheit würde es zwar schwer machen, später noch einmal aufzuwachen, aber Orestes war egoistisch genug um sich darum nicht sonderlich zu kümmern.
Dies war sein Reich, seine Gesellschaft, sein verdammtes Bett, und damit auch seine Entscheidung... nunja, zumindest teilweise. Dieser Tage wusste er selbst nicht, ob er sich über verlorene Entscheidungsmacht ärgern und sich widersetzen sollte - selbst wenn es ihn süße Stunden und berauschende Erfahrungen kosten würde -, oder ob es nicht an der Zeit war, noch mehr Entscheidungsmacht abzugeben, abzustoßen was ihn bis zum Abend auf den Zehenspitzen hielt, und sich tiefer in den Moloch zu stürzen, den Sherion in der Abgeschiedenheit ihres Hauses zu stricken wusste.
Nachdenklich blickte er auf den schlafenden Schemen hinab, unwillig sich zu bewegen und damit Erinnerungen an verlorene Macht zu wecken, und ebenso unwillig den Blick von dem friedlichen Anblick zu lösen.
Es war die uralte Misere der Entscheidung zwischen dem was Freude bereitete, und dem was Macht brachte, und obschon Orestes niemals verstanden hatte inwiefern es da überhaupt irgendwas zu entscheiden gäbe, immerhin könne man mit Macht ja alles erhalten was man wollte, sah er sich nun doch in einer Zwickmühle gefangen, die er sich selbst geschaffen hatte.
Niemand - am allerwenigsten er selbst - konnte voraussagen, wie seine Liebe sich mit der Dunkelheit in seinem Kopf, der Machtgier und dem Streben nach sozialem Aufstieg messen würde, und vor allem inwiefern sie den Anblick seines wahren Gesichts ertragen konnte. Bisher war er gut gewesen, so gut, so brav, wohlerzogen, manierlich, gesittet, und hatte dabei alle Hilfe der Welt erhalten, aber nichts konnte ewig währen. Vor allem nicht ein solcher Mummenschanz, eine Phantasie die er sich wie eine Sandburg aufgebaut hatte, im kindlichen Gedanken daran, dass die Flut niemals kommen würde.
Aber vielleicht... vielleicht würde sie dieses Mal ja nicht kommen. Vielleicht brauchte er die Macht gar nicht solange er die Kandare trug, die Sherion ihm so liebenswert ins Ohr geflüstert hatte, mit all den Beschränkungen und Pflichten und dem süßklebrigen Zwang, der wie Sirenengesang an seinem Verstand zupfte, ihm gebot näher zu treten...
Mit leisem Seufzen kroch er wieder ins Bett und versuchte das plötzliche Ziehen in seinem Leib zu ignorieren.
Die Flut war noch nicht hier, und bis sie kam würde er seine Sandburg genießen wie es gedacht war.
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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#13
Die Wunde am Arm schmerzte, wie es nur Wunden tun konnten, die man selbst versorgt hatte. Vielleicht lag es aber auch daran, wie Sherion mit den Krallenspuren umgesprungen war, bevor er zitternd und bleich wie ein Leichentuch davon getorkelt war, solcherlei Dinge konnte Orestes nur schwer endgültig deuten. Vielleicht hätte er sie auch nähen lassen sollen, statt sie nur zu reinigen und dann zu verbinden, aber aus irgendeinem Grund hatte er sich dazu nicht durchringen können, und die vielen Vielleichts machten ihn sowieso nur unruhig, wozu sich also darüber den Kopf zerbrechen?
Das inzwischen fast ausgekühlte Wasser im Badezuber dampfte nur noch milde, und er war nackt wie seine Mutter ihn geschaffen hatte... und mit Schmuck behangen, wie Sherion es entschieden hatte. Armringe, Fußringe, Armreif, Verlobungsring, und Augenringe, die durften nicht fehlen. Selbst ohne Bekleidung konnte Orestes wohl niemals wieder behaupten er sei nackt, und Sherion hatte zu mehr Dingen an ihm Schlüssel, als nur zu seinem Herzen. Er schmunzelte auf, wie er es immer tat, wenn er über Sherions seltsame, versteckte Vorlieben nachdachte, denn hier konnte ihn niemand sehen. Es war nicht recht dabei gesehen zu werden, wie man sich in den eigenen Gedanken verlor. Seine Mutter nannte solche Menschen "Guckindielufts", und die Art wie sie dieses Wort aussprach ließ keinen Zweifel darüber offen, dass es nicht als liebevolle Neckerei gemeint war, sondern eher als vernichtendes Urteil.
Und Orestes? Der wusste zu gut wie vernichtend seine Mutter auf manche Verhaltensweisen herabsah, und hätte sich wohl tot nicht in einer Situation erwischen lassen, die seine Mutter die Nase rümpfen hätte lassen.
Ein Handtuch half gegen die letzten nassen Stellen an Rücken und Bauch, dann marschierte er zum Schrank und besah die Auswahl an Kleidung, die Sherion für ihn besorgt hatte. Orestes konnte sich sehr spezifisch erinnern, wann er selbst das letzte Mal ein Kleidungsstück für sich gekauft hatte, weil es so ungemein selten vorkam. Die meiste Zeit - nein, fast immer - war es Sherion, der für ihn Kleidung aussuchte, seinen Schrank füllte und sein Aussehen beurteilte. Und Orestes, der sonst äußerst hochnäsig und wählerisch mit seiner Ausstattung umging, akzeptierte es widerstandslos. Ärger noch, er ließ sich sogar die Haare wachsen, und das nur auf eine Andeutung Sherions hin, er hätte gern mehr 'zu greifen'.

Waren es all die Momente, in denen er sich willenlos Sherions Einfällen beugte, die ihn diese Phantasien haben ließen?
Das Blut war abgewaschen, aufgelöst im lauen Wasser des Badezubers, fortgewischt wie eine Erinnerung aus einer durchzechten Nacht. Sherion würde wohl kaum das Wasser kontrollieren bis Orestes es ausgoss, und selbst wenn der Blonde vorbei käme, der feine rosa Schimmer würde ihm wohl kaum auffallen. Man sah die Reste fortgespülter Sünde nur, wenn man wusste wonach man Ausschau halten musste, und die blutige Kleidung war schon lange kleingeschnipselt und im Kamin verbrannt worden. Keines von den Kleidungsstücken, die Sherion ihm geschenkt hatte, natürlich - das wäre ihm dann wohl doch aufgefallen. Nein, stattdessen benutzte Orestes billige Wollkleidung für seine vereinzelten nächtlichen Exkursionen, solche die zu Hauf verkauft und nie vermisst wurde. Und er schleppte seine Studien auch nicht an die Akademie, wo andere ihn sehen hätten können, obwohl so manches Mal helfende Hände nützlich gewesen wären.
Es gab Dinge, die musste man einfach alleine machen. Und zu diesen Dingen gehörte das, was Orestes an so manchem Monatsende wenige Stunden vor dem Morgengrauen in den Minen Zweitürmens anstellte.
Es gab auch Dinge, die er Sherion wohl nie offenbaren können würde, und dazu gehörte auch das, was seine Kleidung mit Blut besprenkelte, wenn er sich gen' Monatsende still und heimlich aus dem Haus schlich.
Bisher war es kein Problem gewesen, seine Forschungen bei pechschwarzer Nacht geheim zu halten - nun aber war der Drang da es öfter, ausgiebiger, intensiver zu tun, und Orestes zweifelte daran, dass es sich bei diesm irrigen Interesse tatsächlich um die Lust am Forschen handelte. Nein, es musste etwas Tieferes sein, etwas Dünkleres, etwas, das von seinem gesitteten, ordentlichen, manierlichen und ruhigen Hausleben herrührte. Mit einem leisen Schnauben zog er sich eines der Hemden über, die Sherion für ihn ausgesucht hatte, und dazu sein Wams und die Hose, die Sherion für ihn gekauft hatte. Noch während er die Falten glättete und den Stoff an seine korrekte Position zerrte, die Haare richtete und selbst die Haare der Augenbrauen zurecht schob, wuchs die Neugier in ihm schon wieder zu alter Größe heran, und kratzte mit materielosen Krallen an seiner Bauchdecke.
Es gab Dinge, die man nur allein tun konnte. Aber das hieß nicht, dass es nicht vielleicht doch jemanden gab, der zu zweit alleine nach dem Geheimnis hinter der Existenz forschen wollte. Und irgendwann würde Orestes diesen Zweiten wohl auch finden.
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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#14
"Weils keine Hoffnung gibt"

Wie oft kann ein Herz zerbrechen,
wie oft erträgt es seine Qual?
Ohne Weinen, ohne Sprechen
erträgt es schweigend - noch einmal.

Wie oft wird ein Herz erstochen,
wie oft erträgt es seine Not?
Tausendmal zu tiefst getroffen,
leidet's weiter. Bis zum Tod.


© 2003 Janina K.

"Herr Caetano, es tut mir so leid für euch!"
Orestes lächelte, nickte und sprach sein Sätzchen. "Danke, aber ich glaube nicht dass das Sherions Leichnam war." Halt dein verdammtes Drecksmaul und lass mich in Frieden! Ein freundliches Nicken wurde ausgetauscht, dann ließ er die Frau mit verwirrtem, vielleicht ein wenig verstörtem Gesichtsausdruck stehen und marschierte weiter, während seine Kehle automatisch ein nervöses Summen anstimmte.
Er kam keine fünfzehn Schritt weiter, bis die nächste Beileidsbekundung ausgesprochen wurde. "Ich habe davon gehört was passiert ist... Geht es euch gut?" Orestes lächelte, nickte und sprach sein Sätzchen. "Natürlich. Ich bin mir recht sicher dass das nicht Sherion war." Fall von einer Brücke und verrecke du sensationsgieriger Blutegel! Nach einer Erklärung seiner Argumente und der Beteuerung dessen, dass er sich in seiner Ansicht sehr sicher fühlte, setzte er seinen Weg erneut weiter, und in der Ferne blinkte schon das erlösende Bankschild an der Backsteinfassade, als er prompt Gesicht voran in Aygo lief. Ausgerechnet Aygo, der gerade reißerisch dabei war wie ein Dorfprediger vor der Glaubensgemeinschaft zu predigen, wie unglaublich tragisch Sherions Tod sei. Ausgerechnet Aygo. Du kleiner Schmutzfink würdest nicht so reden wenn du wüsstest wie angewidert Sherion von dir war. Aus deinem Mund kommt nichts als deine eigenen zusammengesponnenen Wunschträume. Erbärmlich. Die eigenen Gedanken ließen Orestes Mundwinkel nach oben zucken. Es war gut, zumindest im Inneren seiner Meinung freie Bahn zu lassen, aber wie er Aygo kannte und einschätzte, würde dieser ihm recht rasch Grund geben, sie einmal mehr auch auszusprechen.
Dass er Sherion gar nicht wirklich gekannt haben konnte, wenn er ihn tot nicht wiedererkannte, warf Aygo ihm ins Gesicht. Ob er ihn überhaupt geliebt habe, klagte er an. Wie Orestes so blind sein konnte, spuckte er, und durchtrennte damit die Leine, die Orestes dem eigenen Mundwerk angelegt hatte. Es tat gut frei heraus zu sprechen was er von Aygos Worten - oder besser Aygo selbst - hielt, und wenn er sich nur ein klein wenig gehässiger gefühlt hätte, hätte er Aygo wohl auch mitgeteilt, dass er sein Schreiben für das große Geschäft am Abort benutzt hatte, wo es auch hingehörte. Dennoch war dies weder der Ort noch der angemessene Zeitpunkt, Aygo an den Hals zu gehen und sich öffentlich als gehässiger Irrer zu offenbaren. Nein, dafür würde sich noch eine Zeit und ein Ort finden, der mehr Möglichkeiten bot als der kleine Platz vor der Bank.
Nach einer entsprechenden Extraktion aus dem Gerüchtekessel und nur zwei weiteren Zusammenstößen mit Mitleidsbekundern konnte Orestes sich schließlich auch endlich wieder in sein Haus verziehen, wo nur Löwenzahns eines Auge ihn beim Auf und Ab und dem Haareraufen beobachten konnte.

War es Sherion gewesen? Nein, unmöglich. Er hatte sich selbst überzeugt, und Ceras hatte auch geschaut. Aber wo war er dann? Nicht hier, soviel war sicher. Selbst sein Haus hatte die Stadt räumen lassen, was bedeutete dass genügend Leute davon überzeugt waren dass er nicht wiederkam, um die Geldeintreiber kurzen Prozess machen zu lassen.
Wenn die Leiche in der Kirche aber nicht Sherion gewesen war, und auch sonst niemand - eingeschlossen seiner lieben Tante Elfie in Candaria - ihn gesehen hatte, gab es nur zwei mögliche Ausgänge:
Entweder Sherion hatte Zugangst bekommen und war einen Monat vor ihrer Hochzeit ausgebüchst um wo anders ein neues Leben anzufangen, oder aber Sherion war tatsächlich tot... nur eben nicht tot in der Kirche.
Mit aufgebrachten Schritten wanderte Orestes durch das Erdgeschoss seines Hauses, und grub beide Hände in die schwarze, glatte Haarpracht, die er sich nur für Sherion wachsen hatte lassen. Sherion geht oft genug an gefährliche Orte, und er ist stets allein... ein Mineneinsturz, ein schlecht gefällter Baum, ein hungriger Bär, all das würde ausreichen um ihn auf nimmer Wiedersehen verschwinden zu lassen.
Mit einem frustrierten Knurren verpasste Orestes der einsamen Henkelkerze auf dem Küchentisch eine Ohrfeige, die das arme Haushaltsobjekt gegen die nächste Wand prallen und erlöschen ließ. Nur ein Spritzmuster erhärtenden Wachses war der Lohn für diesen Ausbruch.
Andererseits ist Sherion nicht zu einhundert Prozent treu oder verlässlich... immerhin hat er schon mit mir jemanden betrogen, und mit jemandem mich, es ist also nicht ganz verwerflich dass er mit dem blonden Stallburschen aus dem Armenviertel durchgebrannt ist. Oder ohne ihn, aber dafür in die Arme eines anderen.
Zähnefletschend starrte Orestes auf die Wachstropfen an der Wand, die Miene so frostig wie er sie auf der Straße nie werden hätte lassen. Es gab einige Gesichtsausdrücke, die er einzig und allein für sein Privatleben reserviert hatte, und dieser kalte, schier hasserfüllte Ausdruck war einer davon.
Trotz allem wäre mir das Durchbrennen lieber als der Tod in Einsamkeit.
Mit einem leisen Grollen ging er in die Hocke und machte sich daran die Kerze aufzuheben, und das Wachs mit einem Küchenmesser sorgsam und vorsichtig von der verputzten Wand zu schaben. Es war nun einmal so dass Sherion nie zu den Personen gehören würde, denen er den Tod wünschte, dafür war "Liebe" einfach nicht schwerwiegend genug.
Fakt war aber auch dass die "Sherions Tod"-Fraktion zunehmend hasserfüllt wurde weil er schlicht und ergreifend nicht zustimmen mochte, dass in jener Urne tatsächlich Sherions Asche lag. Vielleicht würde er dafür in den Abyss fahren und ewig schmoren, aber es war nicht das erste metaphysische Risiko, das Orestes für seine Überzeugungen einging. Es brachte ihn höchstens dazu, vermehrt verbotene Dinge zu denken, und jene Studien ins Auge zu fassen, die für gewöhnlich mit dem Scheiterhaufen endeten. Nichtsdestotrotz hatte Orestes insgeheim den Beschluss schon längst gefasst, die verrufenen Studien der Seele endgültig aufzunehmen.
Immerhin gab es nur eine Lösung, die Frage nach Sherions Tod oder Leben endgültig zu klären: Ich könnte ihn natürlich einfach selbst zu fragen versuchen.
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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#15
Probleme hat man nicht, Probleme macht man sich.
Ganz in schwarz gehüllt wie ein Verbrecher schlich Orestes um das Friedhofshaus der Totengräber, bestarrte die Fenster, und stellte sicher dass kein Licht brannte. Keiner daheim, was für seinen Plan nur von Vorteil war.
"Wie es zu dieser Wunde gekommen ist, wollte er nicht verraten." hatte Eirene gesagt, als er sie - frisch von der Gelehrtenkundigensitzung kommend - nach Servoks Zustand gefragt hatte. Ins Heilerhaus war er gar nicht erst gegangen, wer wusste schon was seine Anwesenheit verursacht hätte, wäre er Servok begegnet, aber die Heilerin zu fragen konnte doch nichts schaden, oder? Ha.
Orestes wusste sehr genau wie es dazu gekommen war, dass eine unbehandelte Kopfwunde eiterte und vor Maden wimmelte, aber das Wissen hatte er nur erhalten weil Servok ihn herum geführt hatte.
Im Friedhofshaus.
Wo die Leiche lag.
Er wusste nicht wer es gewesen war, nur dass Servok seine Arbeit tat und mehr nicht, aber diese Leiche war viel zu lange herum gelegen. Addierte man den Fakt dazu dass Servok dank der Kopfwunde sichtlich nicht mehr ganz bei Trost gewesen war - er hatte selbst bei einer Türe daneben gegriffen, Mithras im Himmel! - konnte Orestes sich bildlich vorstellen, wie Servok die Leiche einfach vergessen hatte. Oder irgendeinen unzusammenhängenden Grund gefunden hatte, sie dort liegen und faulen zu lassen, statt sie zu verscharren.
Und nun hatte Orestes einen Grund, dieses Problem zu seinem eigenen zu machen.
Mit einem nachdenklichen Schniefen näherte er sich dem Kutschenunterstand des Totengräberhauses, schlich vorsichtig um den altgedienten Karren herum, und warf einen Blick zu den Massengräbern, in denen Knochen zum Himmel schimmerten. Noch etwas, was er wohl heimlich übernehmen würde müssen, immerhin war Servoks Wunde schlimm genug gewesen um den Kopfknochen zu knacken. Und die Toten so nackt und schutzlos den Gezeiten zu überlassen erschien ihm nicht richtig, Profession hin oder her.
Mit drei flinken Schritten war er um den Karren herum, legte die Hand an den Griff, und wühlte mit der anderen Hand nach dem Schlüsselbund, der so brandneu war dass die Schlüssel noch nach Metallspänen rochen.
Servok war im Heilerhaus, und solange Ray noch in der Taverne beschäftigt war, würde er mit etwas Glück ungesehen hinein kommen, sein Werk vollenden, und wieder hinaus huschen können, auf dass ein für alle Mal keine Maden mehr in den Wunden der Totengräber ihr Heim fanden.
Die Türe gab mit einem leisen Quietschen nach, wie es nur Totengräbertüren konnten, und der Laut trieb Orestes für einen Moment das kalte Schaudern über den Rücken. Dann schob er sich hastig in die übelriechende Schwärze des Arbeitsraumes, und zog sich das Halstuch über Nase und Mund.
Der Gestank des Toten war so durchdringend, dass er sich wie ein Belag auf Kehle, Zunge, Zähne und Nase schlug, und jeden Atemzug zur Qual machte. Maden und junge, weißliche Fliegen krochen auf den unbehandelten Stellen des Kadavers herum, während eine nicht näher definierbare, bräunlichschwarze Flüssigkeit vom Tischrand tropfte, und in das aufgeweichte Holz darunter einzog.
"Herrmydrion." Mehr als dieser Ausruf fiel Orestes zu dem dämmrigen Anblick nicht ein.
Mit einem flachen Luftzug - nicht dass zuviel des Gestanks in seine Lunge kam! - hob er eine seiner behandschuhten Hände vor die Augen, wisperte leise "Saidh Ansu Aerom", die Worte des Geisterauges, und blinzelte in die nun nicht mehr ganz so dunkle, dafür scharf konturierte Umgebung. Wenn diese Sicht es war die Untote hegten, wurde deren schleppender, bedächtiger Gang zumindest etwas verständlicher, auch wenn es nicht der einzige Grund sein konnte.
Der Tote war derart verfault, dass ein Transport 'am Stück' wohl außer Frage stand. Orestes entdeckte jedoch in einer Ecke des Raums eine Rolle Leichentuch, und beschloss kurzerhand, dieses am Boden auszubreiten, den Leichnam darauf herunter zu schieben, und dann zu sehen wieviel Stücke er von der Platzstelle aus zusammensuchen müssen würde. Er war nichts wenn nicht hartgesotten und kreativ, vor allem wenn es darum ging, Maden in Wunden ein für alle Mal auszumerzen.
Schon beim Ausbreiten sog das zuvor weiße Tuch sich mit dem bräunlichschwarzen Leichenwasser voll, aber spätestens als Orestes die Leiche vom Tisch schob, diese auf den harten Boden fiel und ein Schauer von Maden und unidentifizierbaren Brocken sich fleckartig darum ausbreitete, ahnte er dass es eine lange Nacht werden würde.
Das Geisterauge immer wieder mit einer gewissen Nebensächlichkeit erneuernd sammelte er die Teile auf das Tuch und zertrampelte die Maden, wo immer diese nicht schnell genug durch die Ritzen in den Dielen geflüchtet waren, dann schlug er das Tuch kokonartig um den Toten, und verschnürte das Bündel mit fester Schnur.
'Gut, nicht so hübsch wie all die anderen Toten auf den Leichenkarren,' stellte er schließlich bei Betrachtung seines Werkes fest, aber es war ausreichend.
Mit einem Schnaufen packte er den Stoffzipfel an den Füßen, und schliff den verpackten Leichnam schnaufend und ächzend und recht unzeremoniell durch die Hintertüre hinaus, an den Leichenkarren vorbei, und zum erstbesten Massengrab, wo er den Toten ebenso unzeremoniell versenkte.
Nur um dann festzustellen, dass es Servok auffallen würde, wenn da eine frische, verpackte Leiche zwischen den sichtlich nicht frischen, alten Knochen lag.
Noch ein Problem, dass er sich selbst gemacht hatte.
Auf die Grube und den Leichnam starrend überlegte Orestes einige Momente nervös und still. War er gesalbt worden? Hatte er ein Gebet bekommen? Bekam hier überhaupt jeder namenlose Tote ein Gebet? Was passierte wenn nicht? Mit einem knappen Atemzug postierte er sich am Fußende des Grabes, hob salbungsvoll eine Hand und sprach mehr verlegen als gekonnt: "Hiermit übergebe ich deinen Leib an Mithras... oder die Götter, je nachdem wo du hingehörst. Möge Mithras deiner Seele gnädig sein und dich in sein Reich aufnehmen, wenn du es willst. Ruhe in Frieden!"
Das musste reichen. Ein nervöser letzter Blick ging in die Grube, dann hinüber zur Straße, dann wieder zur Grube. Nein, von dort aus konnte man den Toten nicht sehen, und hierher kamen nur Totengräber.
Solange morgen niemand starb und prompt verscharrt werden musste, würde wohl niemand das kleine, auffällige Addendum zum Grabinhalt bemerken, was bedeutete, dass er genau einen Tag und eine Nacht hatte, um das Massengrab zu verscharren. Er würde Hilfe brauchen, verschwiegene Hilfe.
Um die Last gebracht und somit leichter trottete er zurück in das Friedhofshaus und sah sich suchend um. Fehlte nur noch die Beseitigung des Gestanks und der widerlichen Säfte auf dem Leichentisch und dem Boden, und wenn es um Hausreinigung ging, so war er ungeschlagen.
'Alles kein Problem. Ein bisschen aufwischen, ein bisschen lüften, und alles ist gut. Wird nicht auffallen.'

***

Sechs Stunden später empfing die Sonne Orestes durch die zum Lüften geöffneten Fenster. Der Boden war geschrubbt - und zwar überall -, die Scheiben gewischt, die Regale sortiert, die Tische geputzt, und Orestes' Hände voller Blasen und blutiger Schnitte. Die Frisur war schon lange mehr zu einem Knäuel geworden, die schwarze Kleidung stellte sich als gut gewählt heraus, denn er stank erbärmlich, war halb durchnässt vom eigenen Aufwischen, und Spinnweben hingen an Schultern und Ellebogen - aber man sah davon fast nichts.
Fast nichts.
Die Wachen der Tore blickten ihm ein wenig argwöhnisch hinterher, als er kraftlos und mit Augenringen in die Altstadt schlurfte, aber er war zu müde um die Blicke auch zu erwidern.
'Da hast du dir aber ein wunderbares Problem gemacht, die ganze Nacht beim Totengräber zu putzen, wirklich wunderbar,' schalt er sich selbst stumm, während er dreimal nach dem Griff seiner eigenen Haustüre fummelte, bevor er ihn endlich auch erwischte, und ins Haus kippte.
Und das alles für jemanden, der eher gestorben wäre bevor er von selbst zum Heiler ging. Auf dem Teppich im Vorzimmer liegend schloss Orestes die Augen und schnaubte einmal aus. Nur ein paar Stunden Schlaf, dann würde er jemanden finden und das Grab zuschaufeln, und dann würde niemalsnie jemand erfahren was er gemacht hatte. Nur ein paar Stunden Schlaf...
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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#16
Bald bin ich licht, bald bin ich trüb,
bald hart, bald weich, dann bös, dann gut.
Bin Sonn und Vogel, Staub und Wind,
so Mond als Kerze, so Strom wie Glut,
bin arger Geist, bin Engelkind -
Alles, alles ist gut.


Dschelal ed-Din Rumi (1207 - 1273)


~*~

Immerzu lächelnd blickte Orestes Akis schwindender Gestalt hinterher, bis er zwischen den Backsteinwänden des Marktviertels verschwand. Er hatte schon zuvor gelächelt, immerzu die Mundwinkel oben behalten, konzentriert darauf geachtet dass die Augen flackerten und schimmerten, die Gesichtsmuskeln nicht starr blieben, die Lippen zuckten und tanzten, alles dafür gegeben um seine Miene eine belebte, täuschend echte Maske zu machen.
Der werte Vogt hatte in den letzten vier Monaten eine regelrechte Kunst daraus gemacht, sein Innerstes entzwei zu schlagen und einen Teil tief in den Falten seines Geistes zu vergraben, aber die Mühe wurde nicht weniger. Sie wurde auch nicht mehr, die Anstrengung, stetig eine Maske zu tragen, aber wie hieß es so schön? 'Steter Tropfen höhlt den Stein'.
Hohl war auch das richtige Wort, um seine Gefühlswelt zu beschreiben. Nicht miserabel, nicht glücklich, nicht fröhlich oder angespannt, hohl. Hohl und leer wie das Theater in der Altstadt, und ähnlich ungewöhnlich für einen Ort, in dem Tumult und Gelächter und Handgemenge zu finden sein sollten.
Das Schmunzeln hielt sich, als Orestes sich von der Bank am Marktplatz erhob, einen Moment lang seine Kleidung glatt strich, und dem Tempel Mithras' einen letzten, schiefen Blick zuwarf. Einen Novizen der Sonnenlegion hatte er ein paar Mal vorbei laufen sehen, aber es war nicht derjenige gewesen den er suchte. Vermutlich war es auch nur Einbildung, eine Mär seines Geistes, die ihm den Eindruck vermittelte dass der Novize einen extra großen Bogen um ihn und den ehemaligen Anwärter gemacht hatte, aber wie es so war wenn man bestimmte unerfreuliche Anliegen an die Legion hatte, war sein Geist bereits voraus galoppiert und hatte beschlossen, die Angelegenheit des Bogenschlagens mit seinem grimmigen Anliegen zu verbinden, und es dem Novizen übel zu nehmen.
Der Verstand war in dieser Hinsicht eben doch sein eigenes Wesen, und Orestes machte sich nicht die Mühe im Stillen mit sich selbst zu argumentieren.

Wenn er sich zuvor hohl und leer gefühlt hatte wie ein verwaistes Theater mit brüchiger Bühne, war er zur Kirche gegangen und hatte dort sein Seelenheil gesucht. Davor hatte er es bei Sherion gesucht, der nun tot war, und vor Sherion, da hatte er sein eigenes Leben nicht in der Hand gehabt, und war natürlich zu dem Manne gegangen, der für ihn die Zügel gehalten hatte.
Nun, wo keiner dieser Wege offen stand, fand Orestes sich in der schwierigen Situation wieder sich dafür entscheiden zu müssen, ob er die Leere einfach Leere sein ließ und heraus fand, was daraus wohl wurde wenn man nicht darin herumbohrte, oder aber sich einen neuen Konfidanten zu suchen, den er mit seinem wirren Geist belagern konnte.
Kurz starrte er in die Richtung, in die Aki verschwunden war, und überlegte, in welcher Skala er die Dummheit seiner Idee einordnen würde, hielte jemand einen Dolch an seine Kehle.
Dann aber erschien Mareks Gesicht vor seiner Miene, und das zuvor unechte Lächeln wurde zu einem scheelen, missgünstigen Schmunzeln, das aber immerhin echten Ursprungs war. 'Keine Skalen, keine Urteile, keine Gedanken.' beschloss er, schüttelte den Kopf und wandte sich selbst nach Osten, gen' Heimat.
Der Abend würde zeigen, ob die Kirche weiterhin ein geeigneter Ort für sein Seelenheil war, oder ob nur die Ebbe des Winters ihn in solcher Hoffnung gewogen hatte. Und erst hernach, nach dem Gespräch mit dem Legionär der selbst nicht aus seiner Haut zu kriechen können schien, würde er sich mit dem hohlen, leeren Gefühl in seinem Kopf wieder näher beschäftigen.
'Alles, alles ist gut.'
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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#17
Mancher Mensch hat ein großes Feuer in seiner Seele,
und niemand kommt, um sich daran zu wärmen.


- Vincent Van Gogh

Ein lustiges Feuer knisterte in der massiven Kaminfront, die Servok in dem kleinen, lauschigen Haus errichten hatte lassen. So sehr der Frühling seine Finger nach den Pflanzen und Tieren ausstreckte, die Katzen in den Irrsinn trieb und die Kater zu mitternächtlichen Klagegesängen verleitete, Nachts war es immer noch empfindlich kalt, kalt genug um sich in der beheizten Stube wohler zu fühlen als irgendwo sonst.
Die Kälte, die sich zunehmend in Orestes' Gliedern einnistete, hatte jedoch mit der schwülen Raumtemperatur nichts zutun. Eher schon war es die altbekannte, geliebte Stimme des einen Menschen, der sein blindes Vertrauen genoss. Servok.
"Was kümmern dich Kirchensachen, wenn sie in der Kirche bleiben? Du willst doch garnicht mehr Vogt sein, weshalb lässt du dich derlei jetzt... warum trifft es dich?" sprach der Rothaarige, und seine Stimme klang sanft und einfühlsam, ein wenig bedauernd vielleicht, milde, wie man mit einem kleinen Kind sprach.
Die Bedeutung dahinter war Orestes jedoch klar, und woher die Worte wahrlich wehten hatte er in dem Moment verstanden, wo Servok so seltsam auf Justans Name reagiert hatte. Es war, als hätte irgendwo in seinem Kopf ein Jägersmann nach seinem Jagdhund gepfiffen, ähnlich plötzlich schwenkte Servoks ganzes Gehabe um. Es musste lange in ihm gebrodelt haben, um eine so heftige Reaktion auszulösen.
Und dabei hatte Orestes nicht einmal die Angelegenheit mit der Kirche angesprochen, sondern nur von dem Gespräch mit Justan berichtet, ähnlich wie er sonst seine Gedanken teilte.
Mit einer solchen Retourkutsche hatte er aber nicht gerechnet, und für einen Moment schien ihm das Herz auszusetzen, als er auf den Fisch vor sich sah. Tausende kleine Momente, Ideen und Vorstellungen darüber, welche Art von Gesprächen Servok und Justan geführt haben mochten, schossen ihm in den Kopf, ebenso wie all die Abende, an denen Servok seiner Idee Worte gegeben hatte, doch in die Sonnenlegion zu gehen.
War sein Vertrauen gerade missbraucht worden? Oder war dies nur Servoks ungeschickte und verspätete Art, seine Meinung zu Dingen zu sagen, die schon längst vergangen waren?
"Ich kann es mir nicht leisten, dass du mir Zweifel einredest." erklärte Orestes dem Feuerteufel mit einem sachten Lächeln, in der Hoffnung er würde verstehen, das Thema auf sich beruhen lassen für einen anderen Tag. Zweifel konnte Orestes sich nämlich tatsächlich nicht leisten, nicht in der prekären Situation in der er sich befand.
Servok jedoch hatte sich verbissen. Es war lange nicht mehr geschehen dass der Rotschopf sich an einem Thema so festsaugte, aber Orestes hatte es kommen sehen. Erst letztens hatten sie ein langes, sehr versöhnendes Gespräch geführt, und wie all die Monate zuvor war auch dieses Mal wieder die erste Reaktion darauf, die plötzliche Nähe zerschlagen zu wollen. "Berechtigte Zweifel?" raunte Servok, immer noch ein Bild der Ruhe.
"Egal welche Zweifel. Deine Gefühle stehen nicht über meinem Leben, Servok. Ich verletze lieber deine Gefühle, als sehenden Auges in den Tod zu rennen." Gut, innerlich bezweifelte Orestes, dass Justan allzu bald versuchen würde ihn um die Ecke zu bringen, aber ob tot jetzt oder tot später spielte im Großen und Ganzen keine Rolle. Es mochte andere Männer geben, die leicht vergaben und vergaßen, deren Verstand kein Bild stricken wollte aus all den Eindrücken die gesammelt worden waren, aber Orestes war keiner von ihnen. Er vergab gerne und oft, aber er vergaß nie.
Nicht den Tag als Justan ihn auf der Straße bedroht hatte, nicht den Tag als Justan Eirene einem Dämon vorgeworfen und Ceras verprügeln hatte lassen, nicht die Spionage, die er für das Haus Jehann betrieben hatte, nicht die Beschimpfungen in der Kirche, die Andeutungen ihn wegen Blasphemie verhaften zu lassen, oder die Art wie die Kirche jegliche Konsequenz verweigert hatte, nichts von alldem hatte seinen Verstand jemals verlassen. Jedes Gerücht, jede Beobachtung, jeder Bericht und jede halbherzig ausgeseufzte Beschwerde war in seinem Kopf geblieben, und offerierte nur eine mögliche Lösung, die Ehrwürden Schumann befriedigend finden würde: Orestes Tod. Ob nun absichtliche Unfälle, gar unvorhergesehene Unglücke, ein Mordkomplott oder die überaus beliebte Anklage wegen Blasphemie, Hexerei oder Besessenheit, irgendetwas davon würde Justan durchsetzen. Der Titel des Vogts machte Ehrwürden seine Aufgabe schwerer, aber nicht unmöglich, und in dem Moment wo Orestes seine Aufmerksamkeit ablenkte, gar Schwäche oder eine Angriffsfläche bot, da würde der gute Ehrwürden zustoßen.
Und Servok würde weinen, ganz sicherlich würde er das, klagen und sich selbst die Schuld geben - oder auch nicht -, aber nichts davon würde Orestes wieder lebendig machen. Orestes hing an seinem Leben. Sehr.
"Ich bin nicht umsonst dein Leibwächter, Orestes. Ich würde niemals die Gefahr eingehen dein Leben aufs Spiel zu setzen." beteuerte Servok da, und riss ihn aus seinem stetig rauschenden Malstrom aus Überlegungen und Plänen. Mit einem Blinzeln rückte er die nimmerstille Stimme in seinem Kopf in den Hintergrund, wo sie weiter spann und sammelte, verglich und auswertete, während er selbst sein Augenmerk wieder auf Servoks angestrengtes, bemühtes Gesicht richtete. Er war nicht dumm, der Flammenkopf, nicht im Geringsten. Manche Dinge schienen einfach nur in seiner Weltansicht nicht vorzukommen - wie zum Beispiel Betrug, Intrige und Hinterhältigkeit. Eine gute Eigenschaft, und eine fürchterliche Eigenschaft.
Servok wollte verstehen, das wollte er wirklich, Orestes konnte es sehen. Aber all die Mühe und die Überzeugung konnten ihn nicht mehr länger über die Wut hinweg tragen, die sich stetig und zunehmend in der Leere in seinem Herzen ansammelte. "Du bist blind und abgestumpft für die Gefahr, die auf mich lauert. Du betest bei der Gefahr. Du verteidigst die Gefahr vor mir. Du bringst mich willentlich in Gefahr, indem du mir Zweifel einredest."

"Willentlich? Denkst du das wirklich?"
Manchmal vergaß Orestes, dass keiner in seinen Kopf sehen konnte, und manchmal vergaß er, dass das nicht bedeutete, dass er seine Geduld bewahren musste. Manche Dinge waren einfach zu unverfroren, um sie so stehen zu lassen.
"Du glaubst ich hätte niedere Motive für das was ich tue. Du tust so als würde ich einfach nur eine Laune ausleben. Als sei ich ein verzogenes Gör dem man mit ein paar Worten die Fehler seiner Wege aufzeigen kann, und dann ist alles wieder gut," knurrte er über den Tisch und die darauf ruhende Fischplatte hinweg, unwillig seinen ebenfalls knurrenden Magen nun zu besänftigen. Vielleicht war sein Blick zu lange nach außen gerichtet gewesen, sodass er Servoks Zweifel nicht wahrgenommen hatte, manchmal gar nicht inne gehalten hatte um ihn nach seiner Meinung zu befragen, aber dass er sich so sehr in dessen Ansichten irren hatte können, das hatte selbst Orestes' schlafloser Geist nicht erwartet.
"Worte reichen bei dir nicht, und du begreifst nicht, das es mehr bringen würde sich der Kirche Freund als Feind zu schimpfen."
Ach, wäre die Welt doch nur so einfach.
"Natürlich würde es das. Ich hätte ein angenehmes, laues, schönes Leben. Ich wähle den Weg, das Volk zu schützen. Jene die nicht in Sicherheit sind weil sie einen Titel ihr Eigen nennen. Ein Titel. Mehr Unterschied ist nicht zwischen mir und einem einfachen Menschen. Ich tue meine Arbeit." Und einfacher war sein Leben allemal gewesen, als er noch einen Bogen um die Kirche gemacht hatte. Viel einfacher. Keiner hatte sich um ihn geschert, man hatte einander zugenickt und war wortlos aneinander vorbei gegangen, keiner ausser Seligkeit Winkel hatte jemals einen Mucks darüber verloren, dass Orestes der Sohn eines Bordellinhabers war, dass er Hermetiker war, dass er ein Knabenliebhaber war, und ein Schönling, ein Tavernenwirt und jünger als so mancher Schreiber. Solange er nicht wichtig gewesen war, hatte ihm keiner Beachtung geschenkt, er war ein Nichts gewesen, ein Niemand der in seliger Ruhe jeden Gottesdienst und jedes Fest geschwänzt hatte, froh darum sich nicht dem täglichen Gezänk aussetzen zu müssen.
Erst als er Macht errungen hatte, erst dann waren sie heran galoppiert und hatten ihre Meinungen in sein Gesicht geschrien, als habe die Kirche gerade erst festgestellt dass Orestes all diese Dinge - und noch weit, weit mehr - war, als habe er sie verheimlicht, als habe er irgendjemand hintergangen, und nur sein Titel hatte ihn davor geschützt, wie so mancher andere einfach in den Kirchenkeller geschliffen zu werden. Oder auf der Straße verprügelt zu werden. Oder erpresst zu werden. Die Dinge die er gehört hatte, waren so unzählbar wie die Sterne am Firmament, und nun, nun hatte Orestes es über. Die Erkenntnis, dass sein Titel ihn in die Lage versetzte, etwas gegen die himmelschreiende Ungerechtigkeit zu tun, war eine Befreiung gewesen, die er nun zu nutzen gedachte, auch wenn es sein Sturz, Fall und Tod sein würde. Solange andere etwas davon haben konnten, solange die Stadt ein besserer Ort wurde, solange die Kirche aufhörte mit diesen Spielen und sich wirklichen Aufgaben zuwandte, solange war der Streit mit Ehrwürden Schumann jeden Schweißtropfen wert.
Dass Servok jedoch anderer Meinung sein könnte... Daran hatte Orestes nie gedacht. "Wann hat das Volk jemals was für dich getan?"
"Nie. Sie haben nie etwas für mich getan." erwiderte er nüchtern, auch wenn es eine halbe Übertreibung war. Natürlich gab es in der Stadt gute Seelen, die ihm persönlich geholfen und ihn persönlich unterstützt hatten, aber "das Volk" als Ganzes hatte von Anfang an geschimpft und gezetert, auf seinen Namen gespuckt und ihn als schlechteste Wahl für den Posten bezeichnet. Es war unnötig, sich darüber Illusionen zu machen. "Aber weißt du was? Das ist der Grund warum ich Vogt bin, und nicht ein anderer. Weil ich nicht auf die Rechnung schaue, wer wieviel wann für wen getan hat."

"Und deine Aufgabe ist es die Kirche zu hinterfragen und derlei herunterzumachen? Das ist die Vogtaufgabe?" kam die beißende Antwort, die erste spürbare Andeutung darauf, dass Servoks Zorn die Überhand gewann. Zuvor hatte er noch versucht zu verstehen, aber das Verständnis hatte ein Ende genommen. Für einen Moment sah Orestes' Verstand ihn auf hoher See, krampfhaft das Steuer umklammernd im Versuch gegen die aufgebrachten Naturgewalten zu kämpfen. Ein Ertrinkender, der sich an einem Leichnam festhalten wollte um nicht unter zu gehen, während die Haie kreisten.
"Meine Aufgabe ist es, dem Volk ein gerechter, ordentlicher, gläubiger und verlässlicher Herrscher zu sein. Und dazu gehört es, Verbrecher wie Justan in ihre Schranken zu verweisen, selbst dann wenn es für mich als sterblichen Mann Gefahr bedeutet." Selbst diese Worte waren kaum mehr als ein letztes Luftschnappen bevor die metaphorischen Haizähne sich um seine Beine schlossen und begannen ihn in die Tiefe zu zerren. Orestes wollte sich an den Kragen greifen, das Hemd weiten, irgendetwas tun um das stählerne Band, das sich um seine Kehle schloss zu lockern, aber da war nichts. Das Band war unsichtbar, unter seiner Haut, um sein Herz.
"Und bist du es? Bist du es?" Die gezischten Worte waren der letzte Ruck. Sein Herz machte einen krampfhaften Sprung, setzte für einen Schlag lang aus, und überließ ihn der Stille. Die Stille füllte den Rest der Leere in ihm mit eisiger Kälte, einem Winter in der Seele gleich, der ungerührt über die letzten Sprösslinge von Naivität hinweg fegte und sie im Keim noch erstickte.
Kein Feuer dieser Welt hätte Orestes' Körper in diesem Moment noch wärmen können, er fühlte sich selbst für Zittern zu kalt. Mit einem Ruck drückte er sich vom Tisch hoch, weg vom Mann den er liebte, weg von der Situation die ihm nur noch mehr Pein bringen würde.
"Ich brauche deine Zweifel nicht." wiederholte er ein letztes Mal, und seine Stimme war erfüllt von dem Eis das er in sich trug.
Menschen konnte man nicht vertrauen, keinem einzigen von ihnen. Sie alle verrieten einander früher oder später, vergaben einander, versöhnten sich wieder, und wiederholten all die Fehler die ihr Leben ausmachten bis zu ihrem Tod. Es war ein undurchbrechlicher Kreislauf des Lebens, der nur von heftigem Beben jemals durchbrochen werden würde.
Ein Beben, wie er es der Kirche zu senden versuchte, koste es was es wolle. Ein Beben, das wohl auch seinen Vertrauten mitgerissen hatte, wie es auch andere verschlang.

In seinem leeren Haus angekommen starrte Orestes ein paar Momente in die Dunkelheit, und wunderte sich still, warum es gerade die Worte des Söldners waren, die ihm nun durch den Kopf spukten, und nicht der Streit den er durchlebt hatte. 'Niemals schlafend, stets bereit, jeder Order folgend, willfährig und gehorsam,' flüsterte sein Geist, und trieb ihm einen kalten Schauder über den Rücken.
Vielleicht gab es ja doch einen anderen Weg.
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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#18
Es war schleichend gekommen, über Wochen, gar Monde hinweg hatte es sich in sein Herz geschlichen, stückweise und wispernd wie der finstere Zwilling des Schweinehunds. 'Muss er das denn wissen?' flüsterte die Stimme des Misstrauens manchmal, oder 'Er würde es nicht verstehen'. Selten, aber zunehmend öfters gesellte sich das ferne Echo des 'er würde dich verraten wenn er das wüsste!' hinzu, lauter und lauter umso länger er versuchte diesen spezifischen Gedanken zu ignorieren.
Das mit dem Misstrauen einhergehende Doppelleben hatte sich nahtloser und weniger auffällig in seinen Alltag geschlichen, denn es war etwas das er schon als kleiner Junge geübt hatte. Masken, für jeden Anlass eine, konnte er mittlerweile mit einer gedankenlosen Leichtigkeit aufsetzen, abnehmen, austauschen und anpassen, die selbst ihn in lichten Momenten erschreckte.
Zuweilen war da ein schlechtes Gewissen gegenüber Servok gewesen, der nagende Gedanke dass es nicht recht war ihm diese Dinge zu verschweigen, Dinge die Orestes' Leben maßgeblich und intensiv beeinflussten. An anderen Tagen aber...

Selbst ein Schau- und Schachspieler konnte eine Facade nicht durchgehend aufrecht erhalten, etwas, das Orestes ebenfalls schon als Kind gelernt hatte. Es war wie eine Wanderung durch eine Wüste; man musste einzelne Rastpunkte geschickt und im Vorhinein planen, Orte an denen man anhalten, sich erfrischen, ausruhen, etwas trinken und wieder Kraft sammeln konnte, bevor man weiter durch die gnadenlose Dünenlandschaft wanderte. An diesem Tage aber hatte sich seine im Geiste angestrebte Oase als eine Fata Morgana erwiesen, und Kaliranas leise Worte hatten ihn - rein metaphorisch natürlich - Gesicht voran in den heißen, leblosen Wüstensand geschickt.
Zumindest für einige Augenblicke waren sie alleine am Feuer gewesen, und er hatte verborgen hinter einer Hand weinen können, ohne fürchten zu müssen dass jemand fragte warum, oder sich darüber lustig machte. Es war nicht genug gewesen um ihn wieder trittsicher zu machen, aber diese wenigen Momente hatten ihm Kraft genug gegeben, um den Abend durchzustehen bis er nach Hause gehen konnte.
Nur die Menschen, die einem Manne am nächsten waren, wussten ihn wahrlich zu verletzen. Niemand war ihm näher als Servok. Servok, der sich eher umbrachte bevor er sich mit Orestes auseinandersetzte.
Das Misstrauen reckte sein hässliches Gesicht einmal mehr. 'Es ist nicht das erste Mal, nicht das zweite Mal, nicht das dritte Mal' wisperte sein Verstand, als er sich über den Wasserzuber in der Küche bückte. Sein Spiegelbild starrte ihm aus dem Zwielicht mit all der freudlosen Härte entgegen, die er tief in seiner Brust verspürte. Die silberne Brosche mit dem Falken im Sturzflug daran warf ein höhnisches Glitzern auf sein Gesicht.
"Du bist ganz schön naiv, Res," erklärte er seinem Abbild nach einem Moment des finsteren Brütens. "Wann wirst du endlich aufhören zu hoffen, und einsehen dass du bereits weißt?"

Natürlich antwortete sein Spiegelbild ihm nicht.
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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#19
"Willst du mich heiraten?"
Es war dunkel, die Kerzen herunter gebrannt, die Luft schal und schwer und gefüllt mit Gerüchen, die nur eine stramme Morgenbrise und geöffnete Fenster vertreiben können würden. Es war das erste Mal, dass Orestes etwas Schlechtes, etwas Verwerfliches getan hatte, und so schnell wie er sich dazu entschieden hatte sein Gewissen zu ignorieren, so schnell war die Belohnung gekommen. Wenn man einander liebte, tat man nichts um dem Geliebten absichtlich weh zu tun, oder etwa nicht? Es war falsch für Lug und Betrug und Sticheln das zu bekommen, was man für Treue und Ehrlichkeit und Rücksichtnahme nicht bekommen hatte, oder etwa nicht?
Falsch, scheußlich, garstig und falsch, und doch. 'Willst du mich heiraten?'
Für einen Moment wollte Orestes ja sagen, denn er wollte, hatte es sich ausgemalt, es anderen geneidet, in Träumen geplant, wie man so etwas eben tat. Dann jedoch erinnerte er sich an Sherion, und wie dieser keinen Monat nach der Verlobung verschwunden war, und an all die andren Verlobungen die er mit angesehen hatte, und zögerte.
Kaliranas leichtmütige Worte kamen ihm wieder in den Sinn. 'Servok hat mich geküsst und wollte mich schon wieder heiraten', hatte sie gesagt. Es war so falsch, so böse, aber er hatte Servok in eine Falle gelockt. Der Rotschopf hatte Dinge gestanden, von denen er gar nichts gewusst hatte, aber es änderte nichts. Der Zorn, die Enttäuschung, das Misstrauen blieb gleich, steigerte sich nicht, schmälerte sich nicht, und sein Herz wurde nicht schwerer. Vielleicht hatte Orestes einfach schon den Punkt erreicht, an dem er nicht mehr empfinden konnte als er schon empfand... Es war ein guter Ort. Ein unbeschwerter Ort. Ein Ort, an dem man innerlich lachte, und lachte, und lachte, ohne dass es einen Grund gab, als sei die eigene schiere Existenz für sich schon lachhaft genug, lächerlich genug um sich für den Rest seines Lebens darüber zu amüsieren.
Willst du mich heiraten?... "Nein."

Mit einem Grinsen öffnete Orestes die kleinen, bunten Fensterchen des Schlafzimmers und ließ erfrischende, laue Morgenluft in den stinkenden Raum. Servok hatte ihn betrogen - wieder einmal - und diesmal hatte Orestes ihn zurück betrogen. Aus irgendeinem Grund schien das die ganze Angelegenheit derart harmlos werden zu lassen, dass beide Männer ihr Leben fortführten als sei nie etwas geschehen. Natürlich war alles eine Lüge, aber die Fähigkeit so leichthin und unbelastet lügen zu können eröffnete gänzlich andere Möglichkeiten.
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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#20
Es war gut gewesen, Morkander nach so langer Zeit wieder zu treffen. Der Mann hatte sich nur wenig verändert, sah man von diesem Hauch von zurückhaltendem - und scheinbar eher gegen die Allgemeinheit gerichteten - Unbill ab. Fragwürdiger waren da schon die Verhaltensweisen, die Morkander von seinen Kollegen zu berichten wusste, und zudem auch ein guter Ansatz um zu verstehen, wie dieser Blick überhaupt erst auf seine Miene gerutscht war.
Artefakturrezepte also.
Morkander war immer schon der Meister der Artefaktur gewesen. Vierzehnhundert hatte er sich noch beklagt darüber, dass bis auf Lina niemand Interesse an dieser Kunst zeigte, und über die nächsten zwei Jahre hinweg hatte Orestes mit milder Verdutzung verfolgt, wie Mal um Mal Interessenten just dann das Interesse verloren, wenn es darum ging, die Herstellung tatsächlich zu erlernen, statt nur das Papier ausgehändigt zu bekommen. Es war nicht unähnlich seinen Erfahrung mit Buchbindern gewesen. Sowohl er selbst als auch Morkander hatten sich im Laufe der Zeit damit abgefunden, dass der Traum vom Lehrling sich nicht erfüllen würde, und sich nicht mehr um eine Suche danach bemüht.
Wenn Orestes sich daran erinnerte, dass er sich mit Zähnen und Klauen in die Untersuchung des alten, zerfallenen Buches aus den Hügelgräbern drängeln hatte müssen, um das Werk überhaupt anfassen zu dürfen, konnte er Morkanders neuen Groll durchaus wohl verstehen. Diese neue Generation von Meistern der Hermetik, so dringend benötigt sie auch worden war, vermisste schmerzlich die Lehren der Vergangenheit, und zeigte auch kein Interesse daran, sie zumindest in der mündlichen Weitergabe zu erfahren. Im Gegenteil - mehr und mehr bekam Orestes den Eindruck, dass die "Neuen" etwas wie eine Verdrängung der "Alten" planten, jene aus der Akademie zu schneiden versuchten, die nicht konformistisch genug den Kopf nickten, und nun Dinge dahin plätschern ließen, die nicht zu plätschern hatten.
Orestes selbst war niemandes Freund 'und komme was da wolle', zumindest nicht in der Akademie. In der Zeit zwischen Schönfelds mehr gewollten als gekonnten Unterrichts und dem heutigen Tag, einer Wiederwahl der Magnifizenz, obwohl sie drei Stimmen weniger als ihr Gegenkandidat gehabt hatte, hatte er jede Höhe, jede Tiefe, jeden korrumpierenden Einfluss mit geschlitzten Augen mitverfolgt und studiert, um daraus seine stetigen Lehren zu ziehen. Die jetzige Lehre schmeckte ihm nicht, ganz und gar nicht, und doch war da nichts was er tun konnte, um die Akademie davor zu bewahren. Nun, nichts, außer seinem alten Freund Morkander zu helfen, und zumindest einen Teil des Unrechts zu tilgen.
Es war nicht recht, nicht korrekt, einen Meister der Thaumaturgie aus den Erkenntnissen des eigenen Zweigs auszuschließen, um sich dafür einen überaus weltlichen Erlös zu ergaunern. Nicht recht, Selvetische Formeln wie eine Karotte an eine Angel zu binden, damit der Esel - Desens in dem Bespiel - ordentlich Artefakturrezepte auswarf, nicht recht, die Regeln zu biegen um sich selbst daran zu bereichern.
Das Vertrauen in Fionola, Misitia und Panscher war schon lange verloren gegangen, und Jehann selbst stand mehr an den Seitenlinien als an der Front, selbst zu beschäftigt mit der weltlichen Politik um sich groß um Details wie die Kenntnis, wer welchen Zauber nun hatte, zu kümmern. Grauwasser war sowieso nie zurechungsfähig gewesen, und all das ließ nur Lyrandes, den aktuellen Sprecher, den einzigen Thaumaturgen im Dienste, dessen Erhebung zum Sprecher Orestes noch irgendwie ein Licht am Ende des Tunnels sehen hatte lassen, zur Auswahl. Lyrandes, der mit einem solchen Optimismus ans Tagewerk ging, dass es beinahe schon weh tat ihn im Griff der anderen Thaumaturgen zu lassen, war der einzige Meister seines Zweiges, dem Orestes noch unkorrumpiertes Denken zutraute.
Mit einem vagen Schulternrollen öffnete Orestes die Türe zu seinem Haus und schlurfte ins Innere. Nun hieß es nur noch, Lyrandes auszufragen, wie eine solche Situation entstehen hatte können. Und sie zu bereinigen, natürlich.
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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