Ein Hochzeitskleid für Marei...
#1
Das zarte melodiöse Zwitschern der Vögel kündigte das Morgengrauen über Amrhan, als Carmelina den letzten Stich setzte. Sie kniete vor der Ankleidepuppe und zupfte am welligen, mit schnörkeligen Ornamenten geschmückten Saum und ließ sich erschöpft auf die Fersen zurücksinken. Müde blinzelte sie zu dem Fenster hinauf, hinter dessen Glas sich das Licht ins bläuliche zu verfärben begann. Spät in der Nacht war sie erst zu Hause eingekehrt und nachdem sie einen ganzen Stundenlauf versucht hatte einzuschlafen, gab sie es auf. Ihr Geist wacher denn je und wanderte von hier nach dort, griff nach den Problemen ohne sie lösen zu können und verharrte in den letzten Stunden. Sie erhob sich wieder von ihrer Schlafmatte, kleidete sich an und lief durch die beinahe leeren Straßen der Stadt und hing weiter ihren Gedanken nach, bis sich der grobhölzernen Tür der Zunft gewahr wurde und stutzte. Wo sie doch schon einmal hier war…

Das Kleid von Marei musste allmählich genäht werden. Dummerweise hatten sie es nur noch nicht schaffen können, sich ausführlicher darüber zu unterhalten. Demzufolge war ihr vollkommen unklar, was sich die liebenswerte Köchin eigentlich vorstellte. Weiß sollte es sein…das war alles was sie bisher an Informationen besaß. Dankbar für neues Futter, überstürzten sich ihre Gedanken in Vorstellungen und Formen und ihr wurde bewusst, dass sie doch noch etwas tun konnte. Egal wie das Überkleid aussehen würde, ein jedes Kleid benötigt schließlich einen Unterrock.

Sie setzte sich an den Tisch und begann ein Schnittmuster in Mareis Maßen anzufertigen und schnitt jene dann von den einfachen Jutevorlagen aus. Dann holte sie ausreichend Leinen aus ihrem Lager und begann die vorgezeichneten Schnittmuster mit einem Kohlestift zu übertragen. Dankbar für diese Beschäftigung und die nächtliche Ruhe robbte sie auf den Knien zwischen den einzelnen Stücken hin und her. Bund, Bänder, Hauptrock und der Binsensaum mit leichter Schleppe.
Die Schleppe war ein Blitzeinfall gewesen und mutig, denn sie konnte gar nicht sicher gehen, dass Marei eine solche wünschte, dennoch war sie der festen Überzeugung: So etwas gehört nun Mal an ein Hochzeitskleid und dabei muss die Schleppe des Unterrockes ein wenig länger sein, als jene die das Überkleid tragen würde, denn sonst wären die hübschen Stickapplikationen mit den formschönen, kreisrunden Mustern umsonst gewesen.

Sie steckte den eigens angefertigten Fingerhut auf ihren Finger und begann den zarten Faden ins Nadelöhr einzufädeln. Dann begann sie zu nähen. Ein sauberer Stich nach dem anderen, an den umgeschlagenen Rändern der Festonstich, der unverwüstlich den Saum halten sollte und obendrein noch zierte. Sie nähte unermüdlich den Bund mit den Schnürbändern an den Hauptrock, drapierte ihn um die Kleiderpuppe und nähte mit akkuraten Stichen den Schleppensaum an den Rest, vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger die die Falten drückend um den Binsen ihren Charakter zu verleihen. Und zu guter Letzt verzierte sie den Saum mit Spann-, Kett-, Kreuz- und Gobelinstich.

Doch jetzt war die erste Arbeit getan und selbst ihr Geist wand sich vor purer Erschöpfung. Jetzt war die Zeit des Schlafes gekommen, während Löwenstein erwachte.


[Bild: jr2o-i-6f49.jpg]

...bevor ich gar nichts sage, sag' ich lieber nichts...

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