Gornelius Ganter
#1
Rainbow 
-- "Nochmal von vorne! Begreifst du nicht, was der Autor damit sagen wollte? Sie gibt sich ihrem Schicksal hin, aber nicht, um zu resignieren, sondern um gestärkt daraus hervorzugehen. Innerer Monolog!"

- "Gornelius, mir ist kalt."

-- "Gut, also von vorne!"

Der Text war seines Sinnes verlustig geworden, so oft hatte sie ihn wiederholt und immer wieder wiederholt und während sie mittlerweile unempfindlich gegen die Abweichungen von traditionellen Darstellungsweisen geworden war, schien Gornelius endlich einer Interpretation auf der Spur, die in seinen Augen der Rolle würdig war:

-- "Sie ist weder einfältig noch von schwachem Verstand. Wenn es so wäre, dann hätte sie das drohende Unheil nicht schon in der ersten Szene erkannt. Ich schlage also vor, du mobilisierst deine kümmerlichen geistigen Kräfte und versuchst wenigstens so zu tun, als wäre es dir möglich, die seelische Tiefe der Rolle nachzuempfinden. Die Schwierigkeit daran liegt meines Erachtens auf der Hand: Du hast nie geliebt und die Liebe niemals erfahren, andernfalls würdest du erkennen, welches Leid es für sie bedeutet zu wissen, dass ihr Geliebter auf ewig verloren ist. Aber wir müssen uns eben konzentrieren und versuchen das Beste daraus zu machen, nicht wahr?"

Es war diese schicksalsträchtige Nacht in Nortgard, als sie dann in einem Moment der Schwäche ihre ohnehin bescheidenen Kräfte verließen und sie erst tags darauf in ihrem Bett erwachte. Eine kurze Visite des Vaters später und es stand fest, dass künftig von der Schauspielerei abzusehen war. Ein Urteil, dass ihr das nachhaltige Missfallen von Gornelius eintrug und ihr Herz für die kommenden Wochen betrübte.

Die Ankunft in Löwenstein und die Wochen ihres Getrenntseins hatten nichts daran geändert. Sie sehnte sich nach den Momenten, in denen sie ihre Begeisterung fürs Theater noch geteilt hatten, lange vor der Zeit, in der dann bitterer Ernst daraus geworden war. Eine Zeit, in der sie über die Bühne in die Rolle gestolpert war und nichts hatte falsch machen können. Eine längst vergangene Zeit.
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